Zum neunten Mal findet in diesem Jahr der mehrsprachige Redewettbewerb „Sags Multi!“ (http://educult.at/projekte/sags-multi-201718/) statt. Das heurige Leitthema lautet „Dafür lohnt es sich zu leben“ (http://www.sagsmulti.at/) und ermöglicht es den teilnehmenden Schüler*innen in zum Teil sehr persönlichen Erzählungen über ihre ganz persönlichen Lebenseinstellungen zu sprechen.
Besonders beeindruckt hat mich eine Schülerin, die sich vor allem mit der religiösen Dimension bei der Ausgestaltung eines lohnenswerten Lebens auseinander gesetzt hat. Sie sprach von den Gottgläubigen, die sich mit der Frage, wofür es sich zu leben lohnen würde, erst gar nicht lange aufhalten müssten. Sie alle hätten Gott mit dem Auftrag ausgestattet, ihr Leben an der vorgegebenen Stelle zu führen, eine tiefergehende Befragung, ob sich dies auch lohnen würde, könnte unter diesen Umständen entfallen.
Klingt einfach. Und doch kommen wir um die Erfahrungen nicht herum, in denen Menschen angesichts des Kummers und des Leids, das sie getroffen hat, mit Gott zu hadern beginnen. David Kermani hat diesem, als Theodizee bezeichneten Ringen des Menschen mit einem göttlichen Gegenüber in seinem Buch „Der Schrecken Gottes “ (http://literaturkritik.de/id/16033) gerade aus islamischer Sicht beredten Ausdruck verliehen.
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Ungeachtet dessen haben die Menschen in den westlichen Ländern in den letzten Jahren einen historisch einmaligen Prozess der Säkularisierung durchgemacht; mit der Behauptung „Gott ist tot“ (Nietzsche) haben sie sich selbst in den Rang des Weltschöpfertums erhoben. Also sehen sich zumindest die gebildeten Eliten als weitgehend selbstbestimmte Gestalter*innen ihrer jeweiligen Lebensumstände. In diesen würden auf sehr menschliche Weise Belohnungen zu- oder abgesprochen werden. Eine externe Instanz wird dafür nicht mehr benötigt.
Der damit verbundene Emanzipationsprozess hat ungeahnte Freiheiten in der individuellen Lebensführung ermöglicht. Dazu gehört auch das Versprechen, dass es allen früher oder später besser gehen würde. Die Frage nach einem lohnenswerten Leben konnte so gleichgesetzt werden mit der Erwartung eines (immer) reicheren Lebens. Auffallend in der aktuellen Situation scheint mir der Umstand zu sein, dass die inhaltliche Präzisierung dessen, was unter einem reicheren, besseren Leben zu verstehen sei, schon einmal ambitionierter war. Ganz offensichtlich haben die Konditionierungen der globalisierten Marktwirtschaft unsere diesbezüglichen Ambitionen auf einen „Konsumismus für alle“ verengt. Und dies in einem Ausmaß, der der scheinbaren Alternativlosigkeit der Konsumgesellschaft als einzig verbliebener kollektiver Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung den Charakter einer neuen Volksreligion zuschreiben lässt (http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/03/Werbung-Manipulation-Kaufrausch/seite-4).
Wir nichts sind im Vergleich zu dem, in das wir hineingeworfen sind.
Gerade in Phasen getrübter Wachstums- und Konsumaussichten (als Synonym für Verbesserung) kaschiert der Siegeszug eines, der kapitalistischen Produktions- und Konsumtionslogik unterworfenen Materialismus nur sehr oberflächlich ein kategoriales Dilemma menschlicher Existenz. Dieses besteht darin, dass Menschen, mit welch immer großen Reichtum sie ausgestattet sein mögen, mit einer unhintergehbaren Beschränktheit ausgestattet sind und so die Welt als Ganzes nicht fassen können. Zwar haben Wissenschaft und Technik ungehörte Fortschritte erzielt, diese können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen endliche Wesen sind und dies wohl auch noch eine ganze Weile bleiben werden. Also werden Menschen, wo immer sie sich auf der sozialen Leiter gerade befinden, noch eine ganze Weile mit der kategorialen Kluft zwischen der Unermesslichkeit dessen, was „Welt“ alles ist und der Beschränktheit dessen, was Menschen kaufen bzw. erkennen oder gar beeinflussen können, leben müssen. Die narzistische Kränkung bleibt: Im Vergleich zur prinzipiellen Unauslotbarkeit von Welt, in die das Gattungswesen Mensch hineingeworfen ist, ist er gezwungen, auf immer neue Weise mit seiner Beschränktheit zurande zu kommen.
Gott ist tot – Es lebe die Kultur
Um diese Kluft nicht zu groß und damit lebenszerstörend werden zu lassen, haben sich Gesellschaften in zum Teil sehr kreativer Weise die Existenz Gott (oder gleich einen ganzen Götterhimmel) einfallen lassen. Als allwissende (und damit auch allgewaltige) Instanz fügt sie sich perfekt in das Vakuum zwischen der Unendlichkeit von Welt und der Endlichkeit des Menschen. Wenn schon nicht die Menschen mit all ihren Erkenntnisapparaturen Welt in ihrer Gesamtheit erkennen können, dann können alle diesbezüglichen Hoffnungen auf eine transzendente Entität projiziert werden. Dieser wurde zugeschrieben, all das zu leisten, was den Menschen versagt ist; wohl die bestmögliche Voraussetzung, um sich als gläubiger Mensch unerforschlichen Ratschluss einer jenseitigen Allmacht unterzuordnen.
Die Aufklärung wollte dieser langen Tradition göttlicher Rückversicherung ein Ende machen und die Menschen in die Lage versetzen, die Mühen der Erkenntnis (und der damit verbundenen Gestaltungskraft) selbst in die Hand zu nehmen. Der vernunftbegabte Mensch als von seinen eigenen Erkenntnissen geleiteter Schöpfer von Welt wurde zur neuen Leitfigur. Eine von ihm vorgetragene Rationalisierung sollte es ermöglichen, die Götter als Weltinterpreten von ihren Altären zu stoßen.
Die Ansprüche der schöpferischen Umwandlung von Welt mit den Mitteln der Moderne fand spätestens dort seine Pervertierung, wo sich politische Akteure dazu aufgeschwungen haben, den Anspruch auf Allmächtigkeit vom Jenseits ins Diesseits zu verlagern. Als die neuen Mächtigen fungierten geisteskranke Diktatoren, die mehr als eine Ahnung des Ausmaßes des Leids vor allem bei denjenigen aufkommen ließen, die sich diesen ganzheitlichen Ansprüchen nicht zu unterwerfen vermochten.
In seinem Essay „Gott ist tot oder die Krise der Kultur“ (https://www.perlentaucher.de/buch/terry-eagleton/der-tod-gottes-und-die-krise-der-kultur.html) setzt sich der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton mit den Konsequenzen dieser Form der Säkularisierung – die ein herausragendes Merkmal europäischer Entwicklung darstellt - auseinander. Für ihn ist der Rationalismus der Moderne (der sich sehr schnell mit dem aufkommenden kapitalistischen Industrialismus zu verbinden wusste) nur eine Seite der Medaille. Die andere sieht er im Aufkommen romantischer Kulturvorstellungen, die sich als ein herausragendes Gottessurrogat erweisen sollten. Die engen inhaltlichen Bezüge zur Religion sieht er in einer Vielzahl von für Kultur relevanten Begriffen wie Symbol, Schöpfung, Inspiration, Offenbarung oder Autonomie, die allesamt der Theologie entlehnt sind. Wie in der Religion würden fundamentale Werte wie spirituelle Tiefe, richtiges Verhalten, unvergängliche Prinzipien und gemeinschaftliche Lebensformen verhandelt, die mit Hilfe von Ritualen, Hohepriestern, Kulturobjekten und Kultstätten verhandelt würden.
Zivilisatorische Errungenschaften als Ergebnis desaströser Kulturkämpfe
Auch in seiner jüngsten Publikation mit dem simplen Titel „Kultur“ (https://www.perlentaucher.de/buch/terry-eagleton/kultur.html) beschäftigt sich Eagleton mit unter schiedlichen Herleitungen des Kulturbegriffs aus dem Geist der säkularisierten Moderne. Deutlich wird hier ein kategorialer Antagonismus zwischen dem Kampf um allgemeine zivilisatorische Errungenschaften aus dem Geist eines universellen Fortschrittsdenkens und der Verteidigung von je besonderen kulturellen Vorstellungen, die sich am besten in Konstruktionen nationaler Identität fassen ließen. Während der Zivilisation der Charakter der Verflachung, Verbeliebigung, vor allem aber der Vereinzelung zugesprochen worden, sollte Kultur als gesellschaftliches Bindemittel, das darüber hinaus für eine geistige Tiefe sorgen sollte, für die es sich lohnt zu leben (und notfalls auch zu sterben).
Sehr kursorisch gesprochen spricht vieles für den Befund, dass vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt war von zivilisatorischen Fortschrittshoffnungen, die sich von ihren kulturellen Besonderheiten zu emanzipieren trachteten. Verstanden als einzig mögliche Antwort auf die vorangegangenen desaströsen Kulturkämpfe (die u.a. Wolf Lepenies in „Kultur und Politik“ (https://www.perlentaucher.de/buch/wolf-lepenies/kultur-und-politik.html) eindrucksvoll beschrieben hat) sollten früher oder später alle Menschen, ungeachtet ihrer jeweiligen kulturellen und sonstigen Besonderheiten – in die Lage versetzen, ein gutes Leben zu führen. Im Vergleich dazu gerieten die Vertreter*innen von „Kultur“ in die Defensive; keine Rede mehr von einem postreligiösen Universalanspruch auf Welterklärung, stattdessen Beschränkung auf gelegentliche Einflussnahme auf das private Freizeitverhalten einzelner Kulturinteressierter.
Die Neokulturalist*innen auf dem Vormarsch
Mit der Verschärfung der Krisensymptome scheint in dieses Ungleichgewicht Bewegung zu kommen. Der Marktwert zivilisatorischer Errungenschaften scheint allerorten zu sinken. Da ist zum einen ein dramatischer Verlust an Fortschrittsglauben, dessen Apologeten versprochen haben, mit rationalen Mitteln die Welt zum Besseren zu wenden und doch zu wachsender Verungleichung und Verunsicherung geführt haben. Und da ist zum anderen eine Renaissance der „Kultur“, deren Vertreter*innen vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums im Gewand der Renationalisierung versprechen, eine adäquate Handhabe gegen die negativen Wirkungen der zur Zeit noch dominierenden zivilisatorischen Kräfte ins Treffen führen zu können. Von deren Altären werden – wenn es politisch opportun erscheint – auch Götter wieder installiert (Polen, Russland, Türkei,….). Heruntergestoßen werden hingegen zivilisatorische Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaatliche, Liberalität, Menschenrechte, deren besondere Qualität bislang darin bestanden hat, über keine spezifische kulturelle Konnotation zu verfügen sondern universell oder gar nicht wirksam zu sein.
Aber auch auf linker Seite sammeln sich neue Kohorten von Kulturalist*innen, die noch einmal den Anspruch erheben, mit spezifischen kulturellen Mitteln die Welt zum Besseren zu wenden. Als vorrangiges Instrument dienen ihnen kulturelle Identitätskonstruktionen, mit der sie die politische Arena bespielen wollen. Der US-amerikanische Politologe Marc Lilla, der zuletzt einen Essay mit dem Titel „The Once and Future Liberal – After Identity Politics“ veröffentlicht hat, spricht sich in einem jüngsten Interview in der Zeit „Die wollen deine Seele“ (http://www.zeit.de/2018/03/mark-lilla-identitaetspolitik-interview) noch einmal heftig gegen eine Überbewertung kultureller Aspekte in der politischen Auseinandersetzung aus. Mit der These „Das ist alles nur kulturelles Theater!“ warnt er davor, dass die kulturelle Suche nach Identität nur zu leicht dem aktuellen zivilisatorischen Backlash zuarbeiten würde. Zu kurz käme hinter diesen diversitätsfixierten kulturellen Zuschreibungen das politische Denken als zentrale „transkulturelle“ Kategorie (in Kategorien der institutionellen Macht), das die notwendige Voraussetzung für das Schaffen von Verbindlichkeit im Kampf gegen die Kräfte der aktuellen gesellschaftliche Regression darstellen würde.
Im Kapitel „Kultur und Zivilisation“ zeichnet Eagleton die Entstehung der Kultur aus dem Geist der Zivilisation nach. Gerade unter dem Eindruck der menschenfeindlichen Industrialisierung in England habe sich nur zu leicht der Eindruck verfestigen können, Zivilisation sei in erster Linie als eine gesellschaftliche Fehlentwicklung zur Beschädigung des gewaltsam aus Gottes Händen gerissenen Menschen zu sehen. Diese gälte es jetzt, mit Hilfe von Kultur kompensieren, zu reparieren, vielleicht sogar zu überwinden. Unbelichtet bleibt dabei die positive Interpretation von Zivilisation, die es geschafft hat, eine Reihe von existentiellen Wertvorstellungen wie unverbrüchliche Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit oder demokratisches Zusammenleben von ihren jeweiligen kulturellen Konnotationen zu emanzipieren und damit den Anspruch ihrer universellen Gültigkeit zu stellen. Damit sollen Art und Ausmaß der aktuellen Fehlentwicklungen, die der Hybris zivilisatorischer Ansprüche zuzurechnen sind, in keiner Weise relativiert werden; sehr wohl aber die Erwartung, gesellschaftliche Fehlentwicklungen - in dem Maß, in dem Politik versagt - mit genuin kulturellen Mitteln zum Besseren wenden zu können.
Junge Menschen aus anderen Kulturen zeigen es uns vor: Kultur ist ein unerschöpflicher Schatz unterschiedlichster Ressourcen, die auf immer neue Weise zu einem Leben zusammengefügt werden wollen, das sich zu leben lohnt.
Das soll freilich nicht heißen, dass damit der Kultur nicht auch in Zukunft keine wichtige Bedeutung zukommen kann. Diese wird sich freilich nicht auf die Verteidigung, sei es nationaler oder sonst wie gefasster kollektiver kultureller Verfasstheiten beschränken können. Der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien hat in diesem Zusammenhang ein kleines Büchlein mit dem Titel „Es gibt keine kulturelle Identität“ (http://www.suhrkamp.de/buecher/es_gibt_keine_kulturelle_identitaet-francois_jullien_12718.html) herausgebracht. Im strikten Gegensatz zu allen Apologeten der Vernutzung von Kultur als einen, den gesellschaftlichen Ist-Zustand verfestigenden Klebstoff bietet er ein Konzept von Kultur als einen niemals abschließbaren Prozess des sich Aneinander-Reibens und Bezugnehmens. Kultur ist ihm eine unerschöpfliche Quelle von Ressourcen, die es gilt - über bestehende Identitätsgrenzen hinweg - auf immer neue Weise miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise Welt auf immer neue Weise zu erfahren und mitzugestalten.
Wenn die einen heute sich darin zu überbieten trachten, neue Grenzziehungen vorzunehmen, haben wir es bei Julliens Kulturvorstellungen mit einem grenzenlosen und damit dialogischen Konzept zu tun, in dem es so etwas wie „meine Kultur“ nicht gibt. Was es aber gibt, dass ist der unerschöpfliche Reichtum an kulturellen Ressourcen, die als spielerisch zu nutzende Bausteine dazu dienen können – mit oder ohne Gott – die Kränkungen menschlicher Beschränktheit auszuhalten und die kategorialen Differenz zwischen Mensch und Welt als zentrale Lebensgrundlage zu nutzen. Nach meinem Dafürhalten stellt dieses Anerkenntnis die unabdingbare Voraussetzung dafür dar, ein sinnstiftendes und damit ein lohnendes Leben zu führen, in dem die zivilisatorischen Errungenschaften als Ergebnis menschlicher Vereinbarungen eine privilegierte Rolle zukommen.
Auf eine faszinierende Art und Weise sind es gerade die TeilnehmerInnen von „Sags Multi!“, die uns dieses Bemühen am eigenen Leib vorführen, was es heißt, sich ganz unterschiedliche kulturelle Ressourcen (in diesem Fall Sprachen) anzueignen, damit umzugehen, Und die Zuhörer*innen werden Zeugen dessen, was ein lohnendes Zusammenleben über alle kulturellen und sonstigen Grenzen hinweg ausmachen könnte.
Für ihren Mut und ihren Einsatz, der mich auf immer neue Weise inspiriert möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.