Wie die Architektur von Kultureinrichtungen unser kulturelles Verhalten beeinflusst

Der Komponist und Posaunist Bertl Mütter hat zuletzt mit seinem Projekt aus|cul|ta|tio|nes „trombonautische Raumvermessung“ des Wiener Stephansdoms versucht. Als einer der ersten Absolvent*innen eines künstlerischen Doktoratsstudiums bereits vor mehr als zehn Jahren nutzte Mütter die Zeit des Lockdowns, um den leeren Dom von den Katakomben bis hoch oben zur Türmerstube mit seinem Instrument daraufhin zu untersuchen, welchen Einfluss der Raum auf seine Musik hat und wie seine Musik die Raumerfahrung verändert: „Ich wollte herausfinden, was in der Posaune drinnen ist und was im Raum drinnen ist, um besser zu verstehen, was der Raum von mir will und was die Posaune von mir will.“

Mütter wollte sich in der Zeit der Pandemie nicht darauf beschränken, auf die Rückkehr des Normalbetriebes zu warten. Stattdessen machte er sich auf die Suche nach neuen Formen des Musikmachens, um u.a. draufzukommen, welche zentrale Bedeutung dem Raum sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Musik zukommt.

Ins Freie….

Ganz anders der Pianist Marino Formenti, der sich mit seinem Instrument immer wieder versucht, den räumlichen Zwängen zu entkommen. Stattdessen begibt er sich schon mal ins Freie, um für und mit den „einfachen Menschen“ – zuletzt in einer Arbeitersiedlung in Graz– zu spielen. Die Parkbesucher*innen sind eingeladen, ihre Instrumente mitzubringen und mit ihm zu musizieren. Auf der Suche nach immer neuen Formaten, etwa den „One-to-One-Konzerten“ in privaten Wohnungen schafft er ungewöhnliche künstlerische Räume, die die Hierarchie des klassischen Konzerts aufheben, erweitern oder in Zweifel ziehen. Er verbindet damit den Wunsch, seinen Zuhörer*innen die Angst vor den traditionellen Räumen des Musikbetriebs zu nehmen und sie an ihnen vertrauten Orten aktiv ins musikalische Geschehen einzubeziehen.

Über nostalgische Sehnsüchte und der Weigerung, sich überfällige Änderungen zuzumuten

Noch finden diese Suchbewegungen fernab des klassischen Musikbetriebs statt, der auf die Referenzarchitektur des Konzertsaals ausgehend vom 19. Jahrhundert besteht, und diese auch in Krisenzeiten nicht in Frage gestellt wissen will. Dies betrifft das Gros der ausübenden Musiker*innen ebenso wie ein Stammpublikum, das sich angesichts der, durch die Schließungen intensivierten medialen Vermittlungsformen mit Behauptungen zu überbieten trachtet, nur die lebenslang eingebübte persönliche Anwesenheit in den heiligen Hallen des Konzert- und Theaterbetriebes ermögliche den wahren Kunstgenuss und nur der physische Eindruck des Originals im Museum stelle die richtige Form der Kunstrezeption dar. Dass diese Architekturen die Produktions- und Rezeptionsbedürfnisse einer an die Macht drängenden bürgerlichen Gesellschaft vor nunmehr rund 150 Jahren perpetuieren, nicht aber den Diversitätsansprüchen einer pluralen Gesellschaft gerecht werden, muss bei den diesbezüglichen Bekundungen freilich ein Tabu bleiben.

Was der Kulturbetrieb von den laufenden Änderungen der Schularchitektur lernen könnte

Vielleicht hilft uns ein Blick in den benachbarten Bildungsbereich weiter. Auch hier findet sich eine mächtige institutionelle Traditionspflege, die bis heute das scheinbar unsterbliche, dem aufkommenden Industrialismus entsprungene Klassenzimmer mit seinen strikt genormten neun mal sieben Metern in militärischer Ausrichtung der Möblage samt seinen unverrückbaren Waschbecken-Schwamm-Ensemble zum Maß aller Dinge erklärt. Mitten in diesem vorherrschenden Ambiente aber tritt immer deutlicher die Erkenntnis zu Tage, dass dieses Setting den Lehr- und Lernerfordernissen moderner Gesellschaften immer weniger entspricht und also grundsätzlich überdacht werden sollte. Den Anfang diesbezüglicher Überlegungen machte bereits vor mehr als hundert Jahren Loris Malaguzzi und die von ihm mitbegründete Reggio-Pädagogik. Er hat die große Bedeutung des Raums als „dritten Pädagogen“ einsichtig gemacht, wenn er maßgeblich darüber entscheidet, wie die dort tätigen Lehrer*innen und Schüler*innen miteinander umgehen. Als solcher bestimmt er wesentlich über den Lernerfolg der jungen Menschen. Seither finden sich immer wieder neue Anläufe, die räumlichen Gegebenheiten von Schule weiterzuentwickeln und den pädagogischen Erfordernissen moderner Schulentwicklung anzupassen. Die institutionellen Widerstände sind beträchtlich und doch haben eine Reihe internationaler Schulbauprogramme, u.a. auch die Stadt Wien im Zuge des Schulbauprogramms 2000 mit einer Reihe von Schulneubauten unter Beweis gestellt, dass eine andere, stärker auf die Bedürfnisse der Schüler*innen ausgerichtete Schularchitektur möglich ist.

Wie sehen Kulturräume aus, die die Menschen ermutigen, neue Bedeutungssysteme aufzubauen und ihre Selbstverantwortung zu stärken?

In diesem Zusammenhang erinnerte zuletzt die Bildungswissenschaftlerin Beate Weyland im Standard unter dem Titel „Das Schulgebäude als kulturelles Wohnzimmer“ an die Bedeutung der Schularchitektur für erfolgreiches Lernen: „Schulen erleben heute einen Moment großer Veränderung. Galt es früher, das kulturelle Erbe an möglichst viele Menschen weiterzugeben, geht es heute vor allem darum, gemeinsame Bedeutungssysteme aufzubauen und Selbstverantwortung zu stärken.“ Damit wird für sie das Schulgebäude zu einem „Lebensort, zu einem Ort des Wohlbefindens, zu einem kulturellen Wohnzimmer“. Das zu erkennen, erscheint ihr umso wichtiger, als dass der (Schul-)raum implizite und explizite Haltungen beschreibt, und damit Werte und Machtgewichte widerspiegeln würde. Um auf die besondere Bedeutung der Architektur für schulisches Lernen hinzuweisen, haben sich die Architekturtage 2021 dazu entschlossen, ihr Jahresprogramm dem Thema „Architektur und Bildung: Leben Lernen Raum“ zu widmen.

Weylands Befund zur geänderten Aufgabenstellung einer zeitgemäßen Schule des 21. Jahrhunderts ließe sich eins zu eins auf den Kulturbetrieb übertragen. Auch hier verschieben sich gerade die Gewichtungen von der Weitergabe eines – kulturpolitisch für alle als verbindlich erklärten – kulturellen Erbes zugunsten der Weiterentwicklung von auf zeitgemäße Kulturvorstellungen gerichtete Bedeutungssysteme. Dass der Umgang mit auf Vielfalt gerichteter Kulturvorstellungen auch neuer räumlicher Voraussetzungen bedarf, versteht sich fast von selbst. Und doch orientieren sich weite Teile des (klassischen) Kulturbetriebs ungebrochen an einer normierenden Prunkarchitektur des Spätfeudalismus, die von ihren Betreiber*innen bis heute zum Maß aller Dinge erklärt wird. In der ungebrochenen Priorisierung eines kulturellen Erbes inmitten einer nicht nur dieses beherrschenden Monumentalarchitektur wird nur zu leicht vergessen, dass damit in erster Linie ein herausragender Status einer bestimmten sozialen Gruppe perpetuiert wird. Hinter ihren dicken Mauern bleiben die Machtansprüche, die streng zwischen denen, die sich eingeladen fühlen und die tunlichst draußen bleiben sollen, zu unterscheiden vermögen, verborgen. Zu ihrer Verschleierung sollen Vermittlungsprogramme suggerieren, eine solche auf Repräsentation gerichtete Architektur wäre doch ohnehin für alle sozialen Schichten gleichermaßen zugänglich (Auch nur ein Blick in die Statistiken zur kulturellen Beteiligung würde rasch klar machen, dass die mannigfachen Vermittlungsbemühungen der letzten Jahre zu keiner signifikanten Veränderung der Benutzer*innen-Strukturen geführt hat.

Über einen zugemauerten Kulturbetriff

Die nach wie vor herrschenden Architekturen haben aber auch entscheidende Auswirkungen im Inneren von Kulturräumen. Sie bestimmen wesentlich das Verhältnis von Produzent*innen und Rezipient*innen, vor allem dort, wo sie jede Form der Interaktion der beiden beteiligten Akteur*innengruppen zu verhindern trachten. Dafür sorgen klare architektonische Trennlinien zwischen denen, die die Kunst auf der Bühne machen und denen, die diese in disziplinierter Weise rezipieren. Eine darüberhinausgehende persönliche Begegnung über den Graben hinweg ist nicht vorgesehen. Wie mit den Chorschranken in der Kirche wird die unterschiedliche Rollenzuweisung bei der rituellen Handlung räumlich-gestalterisch sichergestellt. Selbst für den Eintritt und den Austritt der Künstler*innen und des Publikums sind getrennte Wege vorgesehen.

Christopher Small in „Musicking“ und noch detaillierter Anna Bull in „Class, Control and Classical Music” haben deutlich gemacht, welch wichtige Funktion der überkommenen Architektur von Kulturbauten einerseits zur Beibehaltung sozialer Hierarchien und andererseits zur Aufrechterhaltung eines überkommenen klassenspezifischen Produktions- und Rezeptionsverhaltens zukommt, selbst wenn es den wachsenden Diversitätsansprüchen demokratisch verfasster Gesellschaften widerspricht.

Raum als wirtschaftliches Optimierungsmittel: Was am Ende zählt, das ist das Geschäft

In ihren tiefgehenden Untersuchungen vor allem des Musikbetriebs weisen die beiden Musiksoziolog*innen auf die hohe ideelle Aufladung dieser rituellen Form der musikalischen Auseinandersetzung hin. Und kommen doch zum Schluss, dass es sich dabei um die Durchsetzung beinharter Geschäftsmodelle handelt. Diese wurden freilich mit den durch die Pandemie verursachten Einschränkungen auf eine harte Probe gestellt. Immerhin war es nur für kurze Zeit möglich, die engen räumlichen Gegebenheiten aufzulösen und dem Publikum mehr Freiheit zu gewähren. Eine aufgelockerte Sitzanordnung sollte die Ansteckungsgefahr zu vermeiden helfen und sorgte doch für einen unverhofften Freiraum beim Publikum, den es dankbar in Anspruch nahm. Und doch wurde die Versuchsanordnung aus schieren Geschäftsinteressen schon bald wieder zurückgenommen, um eine maximale Auslastung zu gewährleisten. Der langfristige Erfolg einer solchen “Resardinisierung“ des Publikums könnte nicht nur daran scheitern, dass die Angst vor Ansteckung noch lange nicht ausgestanden ist. Ihre mit Rechenstiften bewehrten Betreiber*innen müssen auch mit einem geänderten kulturellen Verhalten rechnen, wenn eine wachsende Anzahl an Programminteressierten während der diversen Lockdowns die Vorteile digitaler Vermittlungsformate erfahren und dabei erkannt haben, dass für sie die schiere Anwesenheit in den ehrwürdigen Repräsentationsarchitekturen weniger Bedeutung hat als das Zusammensein mit Freunden und Bekannten, um sich in den eigenen vier Wänden in einer angenehmen, bequemen und gesprächsoffenen Gesellschaft ganz auf das – wenn auch medial vermittelte – künstlerische Geschehen konzentrieren zu können. In solche Settings passen dann auch die persönlichen Besuche von Künstler*innen, die bereit sind, ihr Programmangebot dort zu realisieren, wo sich Menschen am wohlsten fühlen.

Warum die Architektur von Kultureinrichtungen in besonderer Weise dazu neigt, sich an der Vergangenheit zu orientieren

Die Aufrechterhaltung traditioneller Settings in dafür optimierten Räumen erfolgt freilich nicht zufällig. Sie ist Ausdruck ungebrochener kulturpolitischer Machtverhältnisse, die darauf abstellen, privilegierte Teile der Gesellschaft zu begünstigen, während die Interessensvertreter*innen eines alten Kulturregimes meinen, auf die kulturellen Bedürfnisse der anderen weitgehend verzichten zu können. Diese Form der Ungleichbehandlung lässt sich zurzeit anhand von Plänen zur Errichtung eines neuen Konzerthaus im Münchner Werksviertel miterleben. Just am Ende des Orchester-Zeitalters, das den Kulturbetrieb seit dem 19. Jahrhundert beherrscht, drängen die drei großen Ensembles klassischer Musik der Stadt vehement darauf, noch einmal einen gigantomanischen Konzertsaal alten Zuschnittes zu errichten. Geht es nach den Erfahrungen mit der Elb-Philharmonie in Hamburg, dann wird der Bau am Ende weit über eine Milliarde Euro gekostet haben (Planungstand heute, 9 Jahre vor der vorgesehenen Fertigstellung 700 Mio.), um damit ein sozial verungleichendes Musikproduktions- und Rezeptionsverhalten zu perpetuieren, das auf eine kleine Minderheit zugeschnitten ist. Die Frage, was mit diesen Mitteln an partizipativer Kulturarbeit abseits eines solchen kulturpolitischen Größenwahns geleistet werden könnte, wird selbst von den Benachteiligten gar nicht mehr gestellt.

Dass es auch anders geht, zeigen Neubauten wie das Kulturzentrum Sage-Gateshead im britischen Newcastle, das im Wunsch, kulturelle Öffentlichkeit herzustellen, sich in erster Linie als ein Begegnungszentrum sieht, in das sich ganz unterschiedliche Gruppen der Stadtgesellschaft zusammenfinden, um ihrem Bedürfnis nach Vergemeinschaftung rund um das Programmangebot nachzugehen. Nur einer der Versuche, nicht nur Schule, sondern auch Kulturbetriebe als „Lebensorte, als Orte des Wohlbefindens, des Erfahrungsaustausches, der Kooperation und der Interaktionen und damit zu einem herrschaftsfreien kulturellen Wohnzimmer“ zu machen.

Freilich lässt sich dieser Gedanke auch noch radikaler fassen, wenn etwa die Initiative ĀRT HOUSE 17, eine Gruppe rund um das ehrwürdige Festival styriarte, das ansonsten gerne prestigeträchtige Architekturen im Grazer Raum wie das Schloss Eggenberg bespielt, sich in diesen Tagen entschlossen haben, ihre künstlerischen Zelte in einem Einkaufszentrum am Grazer Stadtrand aufzuschlagen. In dieser ganz anderen Architektur wollen sie – dem Outreach-Gedanken folgend – nicht nur die eine oder andere Aufführung präsentieren, sondern für einen längeren Zeitraum mit den Besucher*innen ebenso wie mit den dort Beschäftigten in Kontakt treten, sich austauschen und sich zu gemeinsamen Arbeitsprozessen zusammen finden.

Über eine besondere Form der kulturpolitischen Ignoranz, die meint ethnologische Museen seien am besten in imperialen Architekturen des (und sei es rekonstruierten) Feudalismus untergebracht

Ein solcher Wille zur Herstellung einer auf Vielfalt gerichteten kulturellen Öffentlichkeit lässt sich rund um die Errichtung des Humboldt-Forums in Berlin bislang nicht erkennen. Stattdessen zeigt sich hier noch einmal völlig unverstellt ein maßloses Repräsentationsbedürfnis, das von sich behauptet, mit der Neukonstruktion einer schlechten Vergangenheit sich den Gestaltungswillen für eine bessere Zukunft sparen zu können. Selbst der neue Direktor des Ethnologischen Weltmuseums in Wien, Jonathan Fine, gesteht in einem Standard-Interview ein, dass seinem ehemaligen Arbeitsplatz, dem Berliner Ethnologischen Museum, das einen zentralen Bestandteil des Humboldt-Forums bildet, ein schlechter Dienst erwiesen wurde, nunmehr in einer Kopie feudaler Architektur untergebracht worden zu sein. Das erschwere die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgesichte, meinte er im Interview.

Zugleich ließ er sich jüngst kommentarlos an seiner neuen Arbeitsstätte, dem Weltmuseum Wien, ablichten, das nach einer vieljährigen Diskussion seinerseits eine mehr als zweifelhafte Heimstatt in einem der letzten Zeugnissen Habsburgischer Repräsentationsarchitektur – diesmal im Originalzustand – gefunden hat. Im Gespräch erwähnte er mit keinem Wort, dass die architektonischen Voraussetzungen auch in Wien massive Auswirkungen auf das Besucher*innenverhalten haben. Den Einschüchterungseffekt, der selbst mich als in die Jahre gekommenen erfahrenen Besucher jedes Mal aufs Neue trifft, zeigt eine Wirkung, der ich mich kaum zu entziehen vermag.

Noch vor ein paar Jahren tobte ein heftiger Streit darüber, was es bedeutet, eine aus der ganzen Welt zusammengeraffte ethnologische Sammlung samt breitenwirksamer Diskussion in die Gruft der Repräsentation einer vergangenen Herrschaftsform zu verbannen. Geht es nach Fine, dann kann diese als gegessen erachtet werden. Die Verantwortlichen haben sich offensichtlich eingefügt in die Räume, die man ihnen inmitten der imperialen Weite zugewiesen hat.

Die Ausgegrenzten auf der Suche nach neuen kulturellen Repräsentationsformen

Neben der Nutzung von architektonischen Versatzstücken eines vordemokratischen Zeitalters haben vor allem seit den 1970er Jahren eine Reihe von Umwidmungen von Industriearchitekturen zur Entstehung neuer Kulturräume geführt: In Wien sind die Arena, das WUK, Soho Ottakring oder zuletzt die Neugestaltung der ehemaligen Anker Brotfabrik in Favoriten beredte Zeugnisse davon. Ursprünglich als Gegenentwurf zu den bourgeoisen Kulturräumen entwickelt, sollte es hier ein alternatives, an ein kulturelles Selbstverständnis der Arbeiter*innenschaft anknüpfendes Verständnis zum Ausdruck kommen. Unverkennbar äußerte sich hier ein neuer Repräsentationsanspruch entlang wesentlicher Zeugnisse industrieller Produktionsweisen, diesmal all derer, die darin tätig waren und sich bislang vom herrschenden Kulturbetrieb ausgeschlossen fühlten. Sie sollten sich in den neuen Kulturräumen wiedererkennen. Dafür sollten sie so offen wie möglich sein, um neue, auf Gegenseitigkeit und mannigfache Interaktion gerichtete kulturelle Verkehrsformen realisieren zu können ­­­– Diese sollten als Orte der lebendigen Auseinandersetzung den Produzent*innen ebenso wie den Rezipient*innen mehr entsprechen als die steifen Rituale des klassischen Betriebs. Darauf wollte auch eine sensible Innenarchitektur mit der Schaffung einer kulturellen Infrastruktur Bezug nehmen, wenn sie versuchte, der Vielfalt des kulturellen Geschehens zu entsprechen.

Noch mehr in den Hintergrund traten die Repräsentationsbedürfnisse bestimmter sozialer Gruppen in jugendkulturellen Szenen. Dementsprechend fällt es zumindest den Außenstehenden schwer, den Orten der Clubkultur einen eindeutigen sozialen Hintergrund zuzuweisen. Dies gilt wohl auch für die meisten Open-Air-Events, die den räumlichen Gestaltungswillen auf Funktionsnotwendigkeiten beschränken und damit die Beziehung der Besucher*innen untereinander zum entscheidenden Qualitätsmerkmal machen.

Je mehr Repräsentationsanspruch der Architektur, desto mehr kulturpolitische Aufmerksamkeit

Aus kulturpolitischer Sicht fällt auf, dass bis dato die Förderbereitschaft eng an den Repräsentationsanspruch gekoppelt erscheint. Anstatt den immer wieder neu entstehenden Experimentierräumen abseits der überkommenen Repräsentationsarchitektur besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, konzentriert sich kulturpolitisches Handeln ungebrochen auf die Aufrechterhaltung der traditionellen Kulturräume samt den ihnen innewohnenden Beharrungskräften im Umgang mit künstlerischen Phänomenen. Die lange Geschichte der Benachteiligung und Missachtung des Freien Bereichs, der sich nicht auf repräsentative räumliche Voraussetzungen zu beziehen vermag (und das auch gar nicht will) spricht für sich.

Der Bedarf, diese Form der kulturpolitischen Priorisierung noch einmal grundsätzlich zu überdenken scheint umso notwendiger, als die Durchdringung aller Arbeits- und Lebensbereiche durch digitale Medien zu einer weitgehenden Ortlosigkeit des kulturellen Angebots geführt haben. Dieses hat sich von seinen repräsentativen Zwängen weitgehend emanzipiert und kann mittlerweile weltweit in allen nur denkbaren räumlichen Gegebenheiten erfahren werden. Zugleich wird in den neuen digitalen Räumen ein kulturelles Verhalten erprobt, das den traditionellen Sender*in-Empfänger*in-Schemata immer weniger entspricht.

Der Kulturbetrieb steht heute inmitten eines radikalen Wandels. Dies wird sich früher oder später auch in einer grundsätzlichen Infragestellung seiner architektonischen Voraussetzungen führen. Viele von ihnen wurden errichtet, um der Kunst zu dienen, um den passiv rezipierenden Besucher*innen allenfalls einen peripheren Platz zuzuweisen. Geht es nach dem geänderten kulturellen Verhalten von immer mehr Menschen, dann sind diese drauf und dran, sich – auch – von den räumlichen Zwängen des traditionellen Kulturbetriebs zu emanzipieren. Sie wollen auch in den Räumen des Kulturbetriebs nicht nur geduldet, sondern wahrgenommen, wertgeschätzt und immer öfter auch aktiv einbezogen werden.

Den Raum des Kulturbetriebs neu denken – nicht mehr ausschließlich von der Kunst aus, sondern von den Menschen aus

Als in den 1970er Jahren erstmals der repressive Charakter von Herrschaftsarchitekturen auch im Kulturbereich thematisiert wurden, antwortete eine junge Künstler*innen-Generation rund um Pierre Boulez mit dem Ruf: „Schlachtet die heiligen Kühe“. Dazu ist es nicht gekommen, stattdessen zur Errichtung einer Vielzahl neuer kultureller Räume, die mittlerweile nicht mehr wegzudenkende Bestandteile der kulturellen Infrastruktur bilden.

Wahrscheinlich bedarf es heute eines ähnlichen Weckrufs, um den räumlichen Gegebenheiten die kulturpolitische Aufmerksamkeit zuzuweisen, die sie verdienen. Auf dem Prüfstand steht heute die gesamte kulturelle Infrastruktur, um befragt zu werden, ob und in welcher Weise sie in der Lage ist, zur Herstellung kultureller Öffentlichkeiten in dafür geeigneten Räumen beizutragen. Soll es für den Kulturbetrieb eine Zukunft geben, dann wird diese wesentlich davon abhängen, sie als Begegnungsorte unterschiedlicher sozialer Gruppen neu zu positionieren und sie einzuladen, nicht nur passiv Kunst zu konsumieren, sondern aktiv etwas miteinander zu tun zu bekommen. Wie Mütter, Formenti und viele andere zeigen, sind die auf künstlerische Experimente, die die Bedeutung des Raums verhandeln, in vollem Gang. In der Diskussion, was der Raum für eine zukunftsorientierte Kulturpolitik kann, da sind wir noch ganz am Anfang. Vielleicht möchten sich die nächsten Architekturtage dem Kulturbetrieb zuwenden.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

Weitere Blogs, Publikationen und Aktivitäten sind auf Wimmers Kultur-Service zu finden. Hier geht's auf die Website.

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