Warum Verlernen in der Kulturellen Bildung immer wichtiger wird
In diesen Tagen bin ich zufällig auf den Roman „Freuds Megalomanie“ des US-amerikanischen Historikers Israel Rosenfield aus dem Jahr 2000 gestoßen. Er berichtet darin von einem verschollenen Manuskript Sigmund Freuds mit dem Titel „Megalomanie“, das er am Ende seines Lebens einer unehelichen Tochter vermacht haben soll. Darin reflektiert der Begründer der Psychoanalyse sein Lebenswerk und stellt seine Theorie menschlichen Verhaltens nochmals grundlegend in Frage: Nicht seine zum Großteil unbewussten Triebe würden den Menschen antreiben, sondern eine grenzenlose Fähigkeit zur Selbsttäuschung und zum Größenwahn. Um diese in Grenzen zu halten bedürfe es der Befähigung zur Selbstkritik, zur Reflexion, zum Infragestellen der Grundlagen, zum Fruchtbarmachen von Widersprüchen.
Den Hintergrund der Freud literarisch zugeschriebenen Überlegungen bildet die unüberbrückbare Differenz zwischen der Endlichkeit des Menschen und der Unendlichkeit von Welt. Um sich in der unerschöpflichen Vielfalt dessen, was ist, zu orientieren, bliebe dem Menschen gar nichts anderes übrig, als sich permanent über die Komplexität der Realität zu täuschen, indem er sich in Vereinfachungen übt. Diese stammen freilich in der Regel nicht von ihm, sondern von einigen wenigen, die es für sich beanspruchen, die Welt richtig zu deuten, eben den „Megalomanen“. Im unbedingten Anspruch, die einzig richtige Lehre gegen alle seine Kritiker zu vertreten, war Freud die längste Zeit selbst ein Vertreter dieses Phänotypus, der es verstanden hat, jede auch noch so überzeugende Gegenthese als Bestätigung seiner eigenen Weltsicht zu deuten.
Vieles spricht für die Einsicht, dass das menschliche Zusammenleben den Anspruch einzelner „Megalomanen“, ihre Sicht der Welt für ihre Gefolgschaft für verbindlich zu erklären, gerade zu herausfordert. Frei von Selbstzweifeln gelingt es ihnen, zumindest für geraume Zeit auch noch die eklatantesten Widersprüche in ihre konsistente Weltsicht zu integrieren (oder als irrelevant beiseite zu schieben); dies ist eine Form der grandiosen Selbsttäuschung, die es ihnen erlaubt, bei jenen unbedingte Gefolgschaft einzufordern, die selbst nicht in der Lage sind, dazu ein kritisches Verständnis zu entwickeln.
Eine neue Generation von Megalomanen auf dem Weg in die Machtzentralen
Besondere Brisanz erhält die Funktion des „Megalomanen“ gerade zu einem Zeitpunkt, an dem ein beträchtlicher Teil des bislang bestimmenden Personals drauf und dran ist, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren und ins Abseits zu geraten. Das, was ihre führenden VertreterInnen angesichts des fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu erzählen haben, lässt sich immer weniger in die Lebenswelt von immer mehr Menschen integrieren, welche die Welt ganz anders sehen als jene, die aufgrund ihrer Vormachtstellung vorgeben, die richtige Sicht zu haben.
„Sie wollen uns auf den Knien“ sehen, meinte zuletzt Bundeskanzler Kern in einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit. Dieser Befund bezog sich freilich nicht auf eine massenhafte Emanzipation der vielen Stummen, die darauf bestehen, ihre je eigene Weltsicht einzubringen. Er bezog sich wohl eher auf die wachsenden Angriffe einer neuen Generation von Megalomanen im populistischen Gewand gegen die Interpretationshoheit einer noch amtierenden Elite, die angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung immer weniger das Gefühl vermitteln kann, dass sie wisse, wovon sie spricht.
Vom Ende der Liberalität als Konsensprinzip
In eine ganz ähnliche Kerbe schlägt Hans Rauscher in einem Kommentar in der Tageszeitung Der Standard „Österreich ist keine Konsensgesellschaft mehr“: Er zitiert darin den Sozialwissenschafter Wolfgang Mazal, der jüngst von einer fundamentalen Spaltung der österreichischen Gesellschaft gesprochen hat, die sich in den scharf unterschiedlichen Sichtweisen, einander unversöhnlich gegenüber stehender politischer „Lager“ zeigen würde.
Was sich hier zeigt, ist nicht nur das Ende eines auf Integration gerichteten Erfolgsmodells der österreichischen Nachkriegsentwicklung. Unvermittelt werden die Auswirkungen einer radikalisierten Moderne augenscheinlich, die drauf und dran ist, bewährte Selbstverständlichkeiten außer Kraft zu setzen und sie durch das kollektive Gefühl der Verunsicherung und Entwurzelung zu ersetzen. Überhand genommen hat ganz offensichtlich das Prinzip der „Kreativen Zerstörung“, das der Ökonom Josef Schumpeter bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zentrale Triebkraft der kapitalistischen Wirtschaft identifiziert hatte. Konnten die destruktiven Wirkungen – in Österreich etwa durch die Sozialpartnerschaft – zumindest abgemildert werden, so zeigen sich heute die Grenzen der politischen Interventionsmöglichkeiten als eine Entwicklung, die zu Lasten von immer mehr Menschen geht (denen man wieder und wieder versprochen hat, sie würden an einer Erfolgsgeschichte teilhaben); Wasser auf die Mühlen einer neuen Generation von Megalomanen, die mittlerweile auch nicht mehr davor zurückschrecken, den Bürgerkrieg als politisches Lösungsszenarium an die Wand zu malen.
Es gehörte zu den Grundprinzipien kapitalistisch verfasster liberaler Gesellschaften, sich auf einige wenige zivilisatorische Errungenschaften (Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Trennung von Kirche und Staat oder kulturelle Vielfalt) zu verständigen, die im Zuge der wirtschaftlichen Dynamik (und ihrer Verteilungswirkungen) genügen würden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Diese Grundprinzipien aber scheinen heute angesichts der wachsenden Krisenerscheinungen nicht mehr auszureichen; stattdessen wird insbesondere von illiberalen Kräften wieder die Kultur in Stellung gebracht, um bei einer verunsicherten politischen Klientel Halt und Sicherheit, z.B. im Kampf „gegen kulturfremde Arbeitsmigranten“ (Heinz Christian Strache), zu suggerieren.
ZuwanderInnen und Flüchtlinge als Wasser auf die politischen Mühlen
Die aktuellen Migrations- und Flüchtlingsströme (deren gesellschaftliche Bedeutung noch vor wenigen Jahren niemanden hinter dem politischen Ofen hervorgeholt hätte) kommen da wie gerufen, um noch einmal ein kollektives kulturelles Selbsttäuschungsprogramm zu inszenieren, das dazu angetan ist, die gegenwärtigen Spaltungstendenzen weiter zu vertiefen: Zu groß ist offenbar bereits die Sehnsucht nach einer Wiedergeburt kultureller Eigentlichkeiten, mögen sie gegenüber jenen, die nicht dazugehören, auch noch so unmenschlich sein, Hauptsache sie erzeugen hinreichende Gefühle der Gemeinschaftlichkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Nun ist der Konflikt zwischen einer liberal und einer kulturell verfassten Weltsicht nicht neu. Zu denken geben könnte uns der Umstand, dass das darauf bezogene Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts (und damit zur ersten Hochzeit des globalen Kapitalismus) intensiv diskutiert wurde. Damals ging der deutsche Philosoph und Soziologe Ferdinand Tönnies in seiner „Reinen Soziologie“ von einem fundamentalen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft aus. Seine Vorstellung von Gemeinschaft war stark kulturell determiniert, in der Blut, Ort oder Geist, also Familie, Freundschaft, Eintracht oder Religion eine unverbrüchliche Einheit bilden würden. Gesellschaft hingegen sah er als eine Entartungsform von Gemeinschaft, in der widernatürlich das Prinzip der Individualität regiere und so isolierte Individuen alleine und in ständiger Spannung zueinander stehen würden. Um zu überleben, müssten sie sich auf die (oben erwähnten) nur schwach abgesicherten zivilisatorischen Grundsätze stützen, indem Frieden und Verkehr durch Konvention auf Grundlage von gegenseitiger Angst, aber durch den Staat selbst, der von Gesetzgebung und Politik geprägt ist, erzwungen werde.
Von der guten Gemeinschaft und der schlechten Gesellschaft
Für Tönnies waren die Prioritäten klar, wenn bei ihm Gesellschaft als eine Form der Entartung im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise galt, während Gemeinschaft zum Ausdruck des natürlichen menschlichen Verhaltens als kulturelles Wesen hochstilisiert wurde.
Zuletzt haben wir entlang des Gegensatzes zwischen dem Habermasschen Konzept des Verfassungspatriotismus und Konzepten der Leitkultur eine Neuauflage dieses Unterschiedes erlebt, der nunmehr mit der Transformation Europas zu einem „Wanderungsraum“ (Heinz Faßmann, Migrationsforscher) eine nachhaltige Belebung erfährt.
Die jüngsten eklatanten Schwächezeichen der Europäischen Union (und mit ihr einer Reihe europäischer Demokratien) verweisen auf eine zunehmende Skepsis einer rationalen Gestaltbarkeit der europäischen Gesellschaften, entsprechend stehen bislang als unverbrüchlich eingeschätzte zivilisatorische Errungenschaften zur Disposition. Ihnen entgegen werden affektiv begründete Konzepte kultureller Zugehörigkeit im nationalen Gewand ins Treffen geführt. Es geht einmal mehr um die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, die stark an Tönnies "Gemeinschaften" erinnern. Basierend auf dem Glauben der Übertragbarkeit familiärer Strukturen auf das politische Feld nehmen wir an der Konstruktion eines unteilbaren kulturellen Hintergrunds teil, in dem seine Mitglieder unausweichlich eingebettet sind. Diese Form der Vergemeinschaftung basiert auf dem Glauben, dass die soziale Identität einer Person zuallererst von den Beziehungen in den jeweiligen Gemeinschaften und ihren kulturellen Besonderheiten geprägt ist, und nicht von der Individualität jedes einzelnen, der bislang als Voraussetzung für die Zuerkennung von Mitwirkungsrechten in demokratischen Gesellschaften zugekommen ist.
Mit diesen kulturell neu aufgeladenen Gemeinschaftskonzepten werden bislang erreichte liberale Ausformungen von Gesellschaftlichkeit massiv in Frage gestellt. In dem Ausmaß, in dem ethnische, religiöse und kulturelle Gegenstände noch einmal politisch für die Ausgestaltung von Gemeinschaft genutzt werden, kommt es – so meine These – zu einer Schwächung der Grundlagen der Demokratie. Dieses Paradoxon kann nur gelöst werden, wenn das Primat von freien und gleichberechtigten BürgerInnen aufrechterhalten und die kulturellen Zugehörigkeiten auf die Privatsphäre der BürgerInnen verwiesen werden.
Verlernen als Antwort auf Kulturalisierung
Bei der Beantwortung der Frage, wie mit diesen neuen Formen der Kulturalisierung von Politik umgegangen werden soll, bin ich zuletzt auf einen Text der Kunstvermittlerin Nora Sternfeld zum Thema „Verlernen vermitteln“ gestoßen. Ihre Überlegungen erinnern in weiten Teilen an Freuds vermeintliche Alterserkenntnis, dass wir die kritische Infragestellung dessen, was uns andere vorgeben, mehr denn je zu einem zentralen Lebensprinzip machen müssen, um so den unveränderbar erscheinenden kulturellen Verfasstheiten, die vor allem die gegebenen Machtverhältnisse perpetuieren, zu entkommen.
Sternfeld geht es im Bemühen, Distanz zur eigenen kulturellen Verfasstheit zu erlangen, um eine Auseinandersetzung mit dem langsamen – manchmal mühsamen und schmerzhaften, manchmal aufregend lustvollen – Prozess der Überschreitung und des Abarbeitens der antrainierten Sicherheiten, die in den bestehenden Machtverhältnissen tradiert werden. Gefunden hat sie dafür den Begriff des „Unlearning“ (Gayatri Chakravorty Spivak, Literaturwissenschafterin) im Umgang mit dem, was und wie wir geworden sind. Dieser versteht sich „als eine Übung, langsam und Schritt für Schritt, mit den angelernten Praxen und Gewohnheiten der machtvollen Unterscheidung, die sich im Habitus, Körper und Handlungen eingeschrieben haben, zu brechen.“
Sternfeld ist sich bewusst, dass dafür individuelle Lösungen nicht genug sind; ihre methodischen Hinweise zielen auf die Wiedergewinnung von (politischen) Haltungen in Form einer reflektierten Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen – und damit auf die Aufkündigung der Gefolgschaft gegenüber Megalomanen jedweder Richtungen.
In diesen Tagen hat eine Studie des kurdisch-türkischstämmigen Soziologen Kenan Güngör deutlich gemacht, in welchem Ausmaß muslimische Jugendliche Gefahr laufen, sich zu radikalisieren. Die Gründe mögen ebenso in einem diffusen Gefühl der Nichtzugehörigkeit zu einer sich zunehmend polarisierenden Wiener Stadtbevölkerung liegen sowie in überzeugend vorgetragenen Selbsttäuschungsversuchen durch eine neue Generation von Megalomanen jenseits der österreichischen Grenzen. In jedem Fall erscheinen ihnen ihre Lebensumstände als unzureichend, also melden sie Widerstand an, in einer Form, die ihnen ihre kulturellen Verfasstheit erlaubt, während eine andere ihnen als unerreichbar erscheint. Um dieser radikalisierenden Engführung zu entgehen, erscheint kulturelles Verlernen zugunsten der Aneignung zivilisatorischer Errungenschaften nicht nur hier die einzig sinnvolle Zukunftsperspektive (für alle Beteiligten) zu sein.
Kenan Güngör hat an anderer Stelle Wien als eine Stadt der Möglichkeiten beschrieben. Wenn das stimmt, dann könnten Sternfelds Überlegungen des „Verlernens“ auch als Versuche verstanden werden, welche neue Möglichkeiten der unendlichen Vielgestaltigkeit von Welt fernab der verengten Weltsicht von Megalomanen und ihrer Wortführer aufzeigen.