Die Zukunft der Kulturpolitik im Kultur-Montag

Im Jänner wurde die Studie „Rebuilding Europe – Die Kultur- und Kreativwirtschaft vor und nach COVID-19“ veröffentlicht. Sie wurde von der internationalen Unternehmensberatung Ernst & Young im Auftrag des Zusammenschlusses der europäischen Verwertungsgesellschaften GESAC durchgeführt.

Die Zahlen sind beeindruckend: Die Studienautor*innen gehen von einem jährlichen Umsatz des Sektors in Höhe von 640 Mrd. Euro bzw. 4,4% des Bruttoinlandsproduktes in Europa aus. Die Zahlen hätten sich seit 2013 überdurchschnittlich entwickelt und würden andere Wirtschaftszweige wie Chemie weit in den Schatten stellen. Umso schwerwiegender sind die Verluste seit dem Beginn der Pandemie, die sich mittlerweile auf 31% belaufen würden. Besonders betroffen wären dabei die Bereiche der performativen Künste sowie des Films, deren Einsätze um bis zu 90% sanken.

Über ein ähnliches Auf und Ab berichtet die Studie in Bezug auf die Beschäftigungslage. Mit rund 7,6 Mio. Menschen bildet der Sektor einen wichtigen Faktor am Arbeitsmarkt. Seit 2013 seien 700.000 neue Jobs entstanden. Mit den dramatischen Einbrüchen seit dem Frühjahr 2020 sind viele Jobs gefährdet; immer mehr, auch große Einrichtungen, denken ans Zusperren und nehmen dabei eine Kündigungswelle in Kauf.

Um diesen Abwärtstrend zumindest zu verlangsamen schlägt Ernst & Young vor, ein öffentliches Investitionsprogramm auf den Weg zu bringen; einen soliden Rechtsrahmen zur Weiterführung der kulturellen Infrastruktur bereitzustellen sowie die nationalen Gesellschaften von der Bedeutung dieses Wirtschaftssektors zu überzeugen.

Der ORF-Kultur-Montag führte mit mir ein Interview auf der Grundlage einiger vorformulierter Fragen, die ich an dieser Stelle etwas ausführlicher beantworten kann.

Wie beurteilen Sie diese Studie? Was sind die für Sie zentralen und vielleicht auch überraschenden Aussagen?

Die Studienergebnisse stellen sicher eine gute Argumentationsgrundlage dar, um den wirtschaftlichen Stellenwert des Sektors zu verdeutlichen. Ernst & Young hat in der Formulierung ganz offensichtlich versucht, dem Wunsch der Auftraggeber nach einem Advocacy Paper nachzukommen. Daher blieben die weniger positiven Aspekte des Sektors weitgehend ausgeklammert. Würde Ernst & Young als Unternehmensprüfer auf einer solchen Grundlage einem Unternehmen ein Testat erteilen, dann würde ich mir Sorgen machen.

In seiner generellen Ausrichtung verweist die Studie nochmals auf das Programm von New Labour in England der frühen 2000er Jahre. Der Sektor wurden von Tony Blair als die entscheidende Kraft zugunsten eines umfassenden Transformationsprozesses weg von den old industries hin zu immateriellen Produkten und Dienstleistungen propagiert. Wesentliche Voraussetzung waren neue Schwerpunktsetzungen in anderen Politikfeldern, etwa im Bildungsbereich, wo junge Menschen auf die neuen Jobprofile vorbereitet werden sollten („Creative Partnerships“). Die längerfristigen Erfolge hielten sich freilich in Grenzen, wenn der Sektor in diesen Tagen in England besonders leidet und der britische konservative Finanzminister Rishi Sunak ein fast schon demonstratives Desinteresse an dem Sektor demonstriert. Er ließ jüngst in existentielle Nöte geratene Künstler*innen lapidar ausrichten, sie sollten sich einen anderen Job suchen.

In England jedenfalls bleibt in diesen Tagen nur mehr eine nostalgische Erinnerung an den Hype um einen Sektors, der damals nur zu gerne auch in der EU als zentrale kulturpolitisches Thema verhandelt wurde, in der Hoffnung, damit die wirtschaftliche Prosperität des Kontinents stimulieren zu können. Eine wichtige Unterstützung fanden seine Apologet*innen im US-amerikanischen Vordenker Richard Florida, dessen Bestseller „The Creative Class“ zur Pflichtlektüre jedes Bürgermeisters gehörte, der danach strebte, seine Stadt auf die Herausforderungen der globalen Konkurrenz vorzubereiten.

Viele der damaligen euphorischen Hoffnungen haben sich bereits vor dem Ausbruch der Pandemie zumindest relativiert, wenn sich der Bereich immer schon durch eine besondere Prekarität und Unsicherheit auszeichnete. Umso gefährlicher erscheint mir der Titel der Studie „Rebuilding Europe“, der dem Sektor den Auftrag zuweist, zumindest einen Bauplan für das künftige Europa vorlegen zu können. Befördert wird damit eine Erwartungshaltung, die der Sektor nie und nimmer einzulösen vermag. Zum Ausdruck kommt hier eine ohnehin schon immer vorhandene latente manisch-depressive Grundhaltung des Sektors, die darauf hinausläuft, sich einerseits als unglaublich wichtig zu halten zugleich aber sich als unglaublich arm darzustellen (bzw. darstellen zu lassen).

Für wie sinnvoll halten Sie diese Studie? Was kann sie bringen?

Die Entscheidung der DESAC, eine Unternehmensberatung mit der Erstellung eines Argumentationsleitfadens zu beauftragen, verweist zuallererst auf die Hoffnung, die Sprache von Ernst & Young würde von den politischen Entscheidungsträger*innen am besten verstanden. In Kauf genommen wird damit, dass der Kulturbetrieb auf seine Funktion als Marktakteur reduziert wird. Wenn diese bereits in den letzten Jahren beträchtlicher Vorleistungen zu seiner „Vermarktwirtschaftlichung“ erbracht hat, dann will er mit der Vorlage beeindruckender betriebswirtschaftlicher Daten jetzt auch als ökonomischer Faktor ernst genommen werden. Also gilt heute die Annahme: In Zeiten der umfassenden Nutzenorientierung sprachen alle die Sprache der Wirtschaft. Die wird am besten verstanden, also lass sie uns auch für unsere Anliegen nutzen.

Nun hat die Dominanz der Betriebswirte im Kulturbetrieb in den letzten Jahren zu dramatischen Veränderungen seiner inhaltlichen Ausrichtung geführt; und damit auch, was wir mit Kultur assoziieren. Die Pandemie zeigt aber auch, dass dies nicht nur mit positiven, sondern auch negativen Wirkungen verbunden ist, etwa, wenn der Kulturbetrieb sich als verlängerter Arm der Tourismusindustrie zu positionieren versucht hat und diese von einem Tag zum anderen ausbleiben.

Das aktuelle Krisenmanagement suggeriert einerseits ein Erstarken von Politik („Koste es, was es wolle“). Andererseits führen die aktuellen Verwerfungen dazu, dass immer mehr Menschen aus den marktwirtschaftlichen Verkehrsformen gewollt und ungewollt herausfallen (Arbeitslosigkeit, Konsumenthaltung, Gemeinwesenorientierung, … ) und es wenig Hoffnung gibt, dass sich dieser Trend noch einmal in eine andere Richtung drehen könnte.

Um diese Menschen aber noch einmal für eine Teilnahme am Kulturgeschehen zu interessieren, bedürfte es mehr als marktwirtschaftlicher Argumente. Als entscheidender könnte sich erweisen, dass bei den Menschen nach Monaten des gefühlten Eingesperrtseins der Wunsch nach Vergemeinschaftung und damit die Bereitschaft, etwas auch außerhalb der dominanten Marktlogik etwas miteinander zu tun zu haben schon lange nicht mehr so groß war. Der Kulturbereich könnte dafür ein herausragender Katalysator sein.

Was sind die Schlussfolgerung, die die Politik und die die Kunstszene daraus ziehen sollten/müssten?

Es ist eine der Überraschungen der Studie, dass das finanzielle Engagement des Staates für den Sektor weit geringer ist als es die öffentliche Diskussion glauben macht. Europaweit liegt es bei gerade zehn Prozent, Tendenz fallend. Umso erstaunlicher, dass andere kulturpolitische Maßnahmen, die den europäischen Kulturmarkt regulieren, nicht oder wenn ja nur sehr am Rande angesprochen werden. Das gilt auch für alle Einflüsse von anderen Politikfeldern (etwa im Bereich der Bildungs- der Sozial- oder wie gerade jetzt der Gesundheitspolitik), die oft größere Wirkungen entfalten als der Ruf nach mehr Fördermittel.

Die drei Empfehlungen können an dieser Stelle nur sehr kursorisch verhandelt werden.

Wenn die Autor*innen für eine Ausweitung der öffentlichen und privaten Mittel plädieren, so steht dem der schiere Umstand entgegen, dass mit der Fortdauer der Pandemie immer mehr Gebietskörperschaften in gravierende Schuldenprobleme geraten. Dementsprechend groß wird die Versuchung sein, zuallererst an den freiwilligen Leistungen („Ermessensausgaben“) zu sparen. Genauer hinzuschauen wäre auf die bereits in den letzten Jahren implementierten Programme der EU, die schon jetzt Erleichterungen bei der Beschaffung von Risiko-Kapital, zinsgünstige Kredite oder den Zugang zu Bankgarantien vorsehen.

Die Forderung nach einer Verbesserung der gesetzlichen Verankerung deutet auf eine dramatische Ungleichheit innerhalb des Sektors hin. Während die großen Einrichtungen zugunsten des Kulturellen Erbes gesetzlich schon jetzt sehr gut abgesichert sind (und so jedenfalls bislang weitgehend unbeschadet durch die Krise kommen) sind andere Akteur*innen, vor allem im Bereich der Freien Szene, einem hohen wirtschaftlichen Risiko ausgesetzt. Geht es nach Österreich, dann wurde eine gesetzliche Verankerung zur Förderungsverpflichtung des Staates 1982 mehrheitlich abgelehnt; dies nach den langen Jahren der Indoktrination zugunsten von „Weniger Staat, mehr privat“ nochmals zu versuchen, erscheint wenig aussichtsreich (Die Bemühungen in Deutschland, Kultur in der Verfassung zu verankern, gehen in eine ähnliche Richtung).

Zuletzt findet der Auftrag an die Politik, den nationalen Bevölkerungen die Bedeutung von Kultur bewusst zu machen dort seine Grenze, wo sich die nationalen Kulturpolitiken in den letzten 30 Jahren ihrer kulturpolitischen Gestaltungsspielräume benommen haben. Stattdessen haben sie den Kulturbetrieb zunehmend dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen und keinerlei eigene inhaltlich-politischen Initiativen gesetzt. Also erschöpfen sie sich jetzt in der Organisation von mehr oder weniger maßgeschneiderten Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen, von denen niemand sagen kann, ob sie ausreichen werden, den Sektor nach der Pandemie nochmals durchstarten zu lassen.

Wenn die Pandemie eine Erfahrung bereit hält dann ist es der Ruf nach einer neuen Agenda für die Kulturpolitik, die nichts mehr und nichts weniger vermag, als den Sektor auf der Basis der post-pandemischen Rahmenbedingungen neu zu erfinden. Dazu gehören auch die Infragestellung zum Teil völlig überkommener Strukturen sowie die unübersichtliche Zersplitterung des Sektors, die in der Studie zwar sichtbar wird aber als Problem unthematisiert bleibt. Für Österreich heißt das, dass sich in der Schublade Cultural and Creative Industries die Bundestheater, internationale Musiklabels, digitale Content-Produzent*innen neben Vertreter*innen der Freien Szene finden, ohne deren Konkurrenzbeziehungen aber auch allfällig gemeinsame Interessenslagen zu thematisieren.

Die Studie besagt, dass es drei bis vier Jahre dauern wird, bis die Kultur wieder auf das Niveau von 2019 ist. Kann die Politik die Kultur bis dahin durchfinanzieren?

Meines Erachtens ist niemand in der Lage, vorauszusagen, was in ein paar Jahren sein wird. Sicher ist nur, dass es Kunst immer geben wird (das zeigen uns Künstler*innen, die selbst in widrigsten Umständen tätig sind). Die Frage der Wiedergewinnung eines bestimmten Niveaus verschleiert nur allzu leicht den Umstand, dass der Sektor gut beraten ist, erst gar nicht dorthin zurückkehren zu wollen, wo er im Frühjahr 2020 abrupt sein Ende fand: Extreme Ungleichheiten, Abhängigkeit vom internationalen Tourismus, Fortbestand hierarchischer Strukturen, Missachtung von Migrations- und Gendergerechtigkeit oder die Negierung des Publikums als Co-Akteur stellen nur einige der Defizite dar, die zu bearbeiten die Voraussetzung für seine Zukunftstauglichkeit.

Persönlich sehe ich zwei Entwicklungsszenarien:

Das eine besteht darin, den Sektor als ein Forschungs- und Entwicklungslabor gesellschaftlicher Probleme weiter zu entwickeln. Dazu gehören das Konzipieren und Ausprobieren neuer Formate und Settings, wobei der Technologie entscheidende Bedeutung zukommt

Das zweite besteht in der Überwindung einer produktionsorientierten Kulturpolitik zugunsten einer stärker rezeptionsorientierten: In einem neuen Miteinander von Produzent*innen, Vermittler*innen und Rezipient*innen besteht das Ziel in der Schaffung von neuen öffentlichen Räumen, Settings und Formaten, in denen Zukunftsfragen verhandelt werden und in denen Künstler*innen konkret machen können, welchen Beitrag sie zu leisten vermögen.

Ich sage das so dringlich, weil nicht nur der Kunstsektor, sondern die nationalen Gesellschaften als Ganzes vor dramatischen Problemen stehen werden (Massenarbeitslosigkeit, Unternehmensinsolvenzen, politische Instabilität,…). Die Bereitschaft des Sektors, sich an der Lösung zu beteiligen wird wesentlich über seine künftige gesellschaftliche Relevanz (und damit auch Wirtschaftskraft) entscheiden. Modelle, wie sie jüngst der Kurator Hans Ulrich Obrist mit einem New, New Deal (in Anlehnung an die kulturpolitischen Programme von Roosevelt während der Big Depression) vorgetragen hat, könnten die Richtung vorgeben.

Sie sind ein Kenner der europäischen Kulturpolitik. Wie gut funktioniert Kulturpolitik auf europäischer Ebene? Oder wird Kultur sehr regional bearbeitet?

Die Europäische Union verfügt aufgrund des Subsidiaritätsprinzips über keine genuinen Zuständigkeiten im Bereich der Kultur. Sehr wohl aber nutzt sie Kompetenzen des Kulturbereichs, um ihre Ziele wie die Förderung von grenzüberschreitender Mobilität und Zirkulation oder des interkulturellen Dialogs zu befördern. Im Vertrag von Maastricht ist aber fest, dass Kultur in allen Tätigkeitsfeldern der Union Berücksichtigung finden soll (Kulturverträglichkeit).

Auf nationalstaatlicher Ebene wäre dieses Prinzip eine wichtige Handlungsanleitung, um den Kulturbetrieb aus seinem Silo-Denken herauszuführen und in Form einer Querschnittmaterie vielfältige Verknüpfungen mit Akteur*innen anderer Politikbereiche zu erproben. Umgekehrt könnte sich die Europäische Union ein gutes Beispiel auf nationalstaatlicher Ebene abschauen, wenn es Österreichs Kulturpolitik nach 1945 gelang, nach den Jahren des politischen und gesellschaftlichen Desasters ein positives Image der Nation nach innen ebenso wie nach außen zu befestigen.

Machen andere europäische Länder eine ganz andere Art von Kunstförderung als es Österreich tut? Und falls ja: gibt es dafür ein Beispiel, das sie interessant finden?

Das Engagement des Staates in Österreich zugunsten des Kulturbetriebs wird international noch immer als beispielhaft angesehen. Dementsprechend finden Künstler*innen hierorts in der Regel noch immer bessere Realisierungsbedingungen als in anderen Ländern, selbst wenn das finanzielle Engagement tendenziell zurückgeht und sich internationalen Vergleichsgrößen annähert. Im Moment haben nationale Kulturpolitiken eine Vielfalt an Hilfs- und Unterstützungsprogrammen aufgelegt (Ein systematischer Vergleich wird gerade für das Bundeskanzleramt erarbeitet). Das ändert aber nichts am Umstand, dass mittlerweile selbst höchst renommierte Kulturbetriebe in allen Teilen der Welt drauf und dran sind, dauerhaft zu schließen und das Personal zu kündigen. Freischaffende sind in der Regel noch schlechter dran.

Für großen Diskussionsstoff hat zuletzt die Einführung eines voraussetzungslosen Grundeinkommens gesorgt. So manche sehnsüchtige Blicke richteten sich diesbezüglich auf die Schweiz, auch wenn diesbezügliche Initiativen auch dort nicht flächendeckend realisiert werden konnten. In Österreich überwiegt bei Künstler*innen die Einstellung, eine solche Maßnahme nicht auf den Kulturbetrieb zu beschränken, sondern als eine generelle Entlastung des Arbeitsmarktes vorzusehen. Zu groß die Sorge, die Rechtspopulist*innen könnten aus dieser Bevorzugung Kapital schlagen und einen ohnehin prekären Berufsstand als Schmarotzer denunzieren.

Warum trifft die Krise die östlichen Länder stärker als die Westlichen?

In den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist es nach 1989 zu einem riesigen Aderlass bei der kulturellen Infrastruktur gekommen. So schlossen in Bulgarien von insgesamt 500 Theatern mehr als 400. Die Gründe lagen in der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Regeln, die alles, was sich am Markt nicht unmittelbar rechnete, von diesem fegen sollte. Dazu gehörte auch ein neokoloniales Verständnis von Zusammenarbeit über den ehemaligen Eisernen Vorhang hinweg, das Expert*innen aus dem Westen nur allzu leicht dazu verführte, den postsowjetischen Kulturbetrieb als antiquiert zu denunzieren. Zugleich befand sich der Staat als Instrument der wertorientierten Marktkorrektur auf dem Rückzug und hinterließ einen Kahlschlag, von dem sich die Länder bis heute nicht haben erholen können. Eine der Folgen bestand in einem Braindrain von Kräften, die sich überdurchschnittlich im Kulturbereich engagieren und auch von ihm profitieren.

Mit der Verschärfung diverser Krisenerscheinungen innerhalb der EU kommt es gerade in diesen Ländern zu einem Wiedererstarken des Staates unter autoritären, zumindest illiberalen Vorzeichen. Mit einem neuen Führungsanspruch werden weite Teile des verbliebenen Kulturbetriebs an die politische Kandare genommen während kritische Akteur*innen ihrer Existenzgrundlagen verlustig gehen. Allesamt keine guten Voraussetzungen für eine auf liberale Austauschbeziehungen basierende Kultur- und Kreativwirtschaft.

Blicken Sie anlässlich von Corona und den Folgen für die Kunstwelt positiv oder skeptisch in die Zukunft?

Im Moment sind die meisten Akteur*innen erschöpft, viele denken ans Aufgeben. Es wird entscheidend sein, ob es gelingt, noch einmal eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Noch nie war es seitens der staatlichen Akteur*innen so wichtig, Künstler*innen einzuladen, sich an der gesellschaftlichen Problembewältigung zu beteiligen. Ob sie das wollen oder nicht, der Kulturbetrieb wird sich in den nächsten Jahren nicht nur daran messen lassen müssen, ob es ihm gelingt, sein gebildetes und wohlhabendes Stammpublikum, das die Pandemie heil überstanden hat, zurückzuholen. Entscheidend wird sein, was er all denen, die momentan drohen, aus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit herauszufallen (unter ihnen mehr als 1 Mio. Arbeitslose und gescheiterte Unternehmer*innen) zu bieten hat.

Es ist die Rede von „Gesundschrumpfen“, einer „Flurbereinigung“ einer ausgeuferten Kunstszene – wie sehen Sie das?

Die Kulturpolitik der letzten 50 Jahre hat wesentlich zur Verbreiterung des Förderwesens beigetragen und damit eine bis dahin ungeahnte Ausweitung der Realisierungsformen bewirkt. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Wirkungen sind jedoch nie systematisch untersucht worden. Über entsprechend wenig Evidenzen verfügen wir, wenn es darum geht herauszufinden, welche nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Wirkungen die Förderpraxis im Kunstbetrieb in der Gesellschaft ausgelöst hat. Auf dieser schwachen Basis wird die Wirksamkeit der Kunstszene bei den unmittelbar Involvierten als per se gegeben angenommen.

Spätestens mit dem massenhaften Ausbleiben des Publikum in den hergebrachten institutionellen Settings machen sich systematische Schwachstellen des in die Jahre gekommen Förderwesens bemerkbar: Eine davon ist die grassierende „Projektitis“ , die das Augenmerk darauf abstellt, dass Kunst produziert wird, ob das nun jemanden interessiert oder auch nicht.

Immerhin haben sich in den letzten Jahren zugleich vielfältige interventionistische Kunstpraxen herausgebildet, die sich an entscheidenden Zukunftsfragen wie Zukunft der Arbeit, Umwelt, Nachhaltigkeit oder Gemeinwesen abarbeiten. Diese aber werden außerhalb kleiner universitärer Zirkel systematisch vernachlässigt.

Mit welchen Transformationsprozessen sind Kunstschaffende konfrontiert? Wie kann sich die Politik unterstützend verhalten?

Die zentrale Herausforderung des Kulturbetriebs besteht zweifelsohne in der aktuellen digitalen Revolution. Sie wird durch die Pandemie eher noch beschleunigt als verlangsamt, wenn wesentliche gesellschaftliche Tätigkeitsfelder (Home Office, Home Schooling, Home Caring, …) auf digitale Kommunikationsformen verwiesen werden und nichts dafür spricht, dass diese Dynamik in Form eines neuen kulturellen Verhaltens ausgerechnet vor dem Kulturbetrieb Halt machen wird.

Mehr oder weniger unsanft wird der Kulturbetrieb in diesen Tagen daran erinnert, dass immer schon wesentliche Impulse der kulturellen Entwicklung von technologischen Innovationen ausgegangen sind: Das beginnt beim Eisenbahnbau des 19. Jahrhunderts, der Erfindung des elektrischen Lichts, Drucktechniken, Photographie, Film, Radio, Fernsehen, Tonträgermedien bis eben hin zur aktuellen Digitalisierung.

Mit jedem weiteren Tag der Pandemie wird offensichtlicher, dass das 19. Jahrhundert auch im Kulturbetrieb langsam aber sicher zu Ende geht. So werden seine Vertreter*innen um die Einsicht nicht herumkommen, dass die geänderte demographische Zusammensetzung der nationalen Gesellschaften nicht auf ewig vom Kulturbetrieb negiert werden kann. Der Ausgang wird darüber entscheiden, ob er sich auf Augenhöhe mit den Gegebenheiten einer diversen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu finden vermag oder ob er als Teil eines überkommenen Kulturellen Erbes noch weiter an den Rand gedrängt wird.

Einerseits werden Teile des Kultursektors ihre Vermarktförmigkeit weiter vorantreiben. Zugleich werden Tendenzen, sich in erneuerter Weise einer Wertediskussion unterziehen, zunehmen, um noch einmal Anschluss zu suchen an all diejenigen, die sich in neuen Räumen den Marktkräften verweigern bzw. keinen Zugang zum Kulturmarkt mehr finden.

Auf zum Teil drastische Weise wird mit der Pandemie offensichtlich, dass der Kulturbetrieb nicht nur einen herausragenden Seismographen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen darstellt, sondern diese die längste Zeit mitproduziert hat. So müssen Fragen seiner Internationalität und damit verbundenen umfassenden Mobilitätserfordernisse neu gedacht und verhandelt werden.

Schließlich werden Künstler*innen verstärkt dazu tendieren, weder auf staatliche Alimentierung noch auf Erlöse am Markt zu vertrauen. Immer mehr werden einen Brotberuf ergreifen, um sich im anderen Teil ihres Lebens radikal und kompromisslos der Kunst widmen zu können.

Nach dem Motto: Krise als Chance – was kann die Krise für die österreichische Kulturlandschaft Positives bringen?

Abseits des mannigfachen Leids, das die Krise vielen Künstler*innen samt ihren Hoffnungen auf Karriere zufügt, liegt die Chance der Krise in einer überfälligen „Desillusionierung“ der einschlägigen Rhetorik. Dazu gehört die Infragestellung liebgewordener Worthülsen wie „Kulturnation“, die mit dem Ausbleiben eines touristischen Publikums, das auf der Suche nach Stereotypien ist, ad absurdum führen (Wenn Österreich eine Kulturnation ist, sind dann Kanada, Ägypten, Thailand oder Neuseeland keine?).

Vieles spricht dafür, dass die aktuelle Krise eine herausragende Gelegenheit darstellt, den Kulturbetrieb noch einmal von Grund auf in Frage zu stellen, um so seine Gegenwartstauglichkeit hin zu überprüfen. Dazu gehört auch das in Bewegung geratene Verhältnis von Betrieb, Staat und Markt, das den Gestaltungswillen von Kulturpolitik zuletzt stark eingeschränkt hat (ja diese in vielen Fällen gleich ganz für obsolet erklärt hat).

Spätestens mit der einer neuen Bewegungsfreiheit der nationalen Bevölkerungen wird sich ein Wunsch nach Vergemeinschaftung artikulieren, der für die Neukonzeption einer publikumsorientierten Kulturpolitik genutzt werden könnte. Im Zentrum der Überlegungen könnte dabei eine neue Bedeutung des Publikums als eine soziale Praxis stehen, die an der Weiterentwicklung des Kulturbetriebs aktiv mitwirkt.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Wiedergewinnung von Öffentlichkeit, in der Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe zusammenkommen, sich begegnen, sich auseinandersetzen, in denen Kultur als ein Katalysator funktioniert.

In den anglo-amerikanischen Ländern ist man da schon viel weiter: Audience Engagement, Audience Enrichment, Artistic Citizenship oder Co-Creation (die Nutzung englischer Begriffe macht deutlich, dass die damit verbundene Diskussion erst in Ansätzen im deutschsprachigen Raum angekommen ist), sind die Schlagworte für die Weiterentwicklung eines Kulturbetriebs, in dem Menschen wieder aktiv Anteil am kulturellen Geschehen nehmen, an dem sie, mitwirken und mitgestalten können, in dem sie ernst genommen werden als Co-Akteur*innen, die eingeladen sind, ihrer Kompetenzen einzubringen und die nicht mehr auf den Kauf von Tickets beschränkt werden wollen.

In Abwandlung des Titels der Studie läge der Auftrag nicht in „Rebuilding Europe“, sondern in „Rebuilding Communities“, in denen Menschen mit all ihren unterschiedlichen sozialen Hintergründen gerne miteinander leben und ihr vielfältiges kulturelles Leben gemeinsam gestalten.

Die Mitwirkung an solchen Communities könnte uns zumindest ein Stück weit wappnen bei der Vorbereitung auf möglicherweise noch weit größere Krisen. Was wir gerade erleben ist erst die Ouvertüre zu kommenden Entwicklungen, die etwa im Bereich des Klimawandels und damit verbundener politischer Eskalationen zu Einschränkungen führen werden, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

Weitere Blogs, Publikationen und Aktivitäten sind auf Wimmers Kultur-Service zu finden. Hier geht's auf die Website.

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