"Disneylands hat mehr zu bieten als die diesjährige Documenta" (Bazon Brock)

Über die Streitschrift "Kürzeste Besucherschule von D15" von Bazon Brock

Ich habe mich gerade durch die Broschüre durchgearbeitet, die Bazon Brock anlässlich der Documenta 15 herausgebracht hat. Brock hat im Rahmen früherer Ausstellungen eine Vielzahl von Besucher*innenschulen organisiert, um mit Besucher*innen Aneignungsformen einzuüben, die über konsumistisches Verhalten hinausweisen.

In seiner aktuellen Polemik verweist er auf das fehlende Unterscheidungsvermögen zwischen Kunst- und Kulturansprüchen (diese strukturelle Dummheit des Kunstfeldes halte ich für eine der zentralen Schwächen aktueller Kulturpolitik. Siehe dazu auch mein Manifest "Kunst ist nicht Kultur").

Immer wieder kommt er auf die "Sensation des europäischen Entdeckermutes" zu sprechen, wonach sich der Anspruch individueller Künstler*innen und Wissenschaftler*innen erst im Zuge der europäischen Neuzeit herausgebildet hätte, der die Akteur*innen dazu gebracht hätte, sich über ihre, auf Bewahrung der bestehenden Verhältnisse gerichteten kulturellen Kontexte zu erheben und damit verbundene kollektive Machtansprüche erfolgreich zurückzuweisen.

Mit der Entscheidung, diesmal Vertreter*innen der Kulturen des "globalen Südens" das Kunstfeld zu überlassen, sieht Brock einen eminenten Beitrag zu einer umfassenden "Kulturalisierung" der Verhältnisse, die das Gegenteil von dem bewirken würde als was sie vorgibt. Das gälte umso mehr, als die Behauptung einer systematischen Diskriminierung künstlerischer Produktionsweisen außerhalb des globalen Zentrums spätestens dort an ihr Ende kommt, wo diesbezügliche Traditionen künstlerischer Praxis gar nicht existieren - und so gezwungen wäre, auf ein anonymes identitätsbildendes Kulturfeld auszuweichen.

Sein Einwand besteht einerseits darin, dass der behauptete Eurozentrismus der Kunst dort ins Leere läuft, wo die „Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Europa von Europäern gegen Europäer erst erkämpft werden musste. Rationalität, Demokratie, Menschenrechte, Rechts- und Sozialstaatlichkeit mussten von Europäern von Europäern blutig in Europa erfochten werden.“

In der Verweigerung, diesen Kampf zur Kenntnis zu nehmen, mutiere der Vorwurf des Eurozentrismus zu einem machtvollen Instrument der Herstellung einer kulturell begründeten, totalitär-fundamentalistischen Herrschaft, die mit genuin künstlerischen, darüber hinaus wissenschaftlichen Mitteln nicht mehr in Frage gestellt werden will. Die Documenta erweise sich damit als eine symbolische Vorhut der Interessen von Erdogan, Putin, Bolsonaro, Orbán und anderen Diktatoren, die vorzeigen würden, wohin die Reise geht (dass viele der teilnehmenden Kunstkollektive in zum Teil heftiger Opposition zu den örtlichen Machthaber*innen stehen, unterschlägt Brock).

Die Kernfrage, die Bazon Bazon Brock im Zusammenhang mit der aktuell laufenden Documenta berührt, besteht schlicht darin, ob es sich bei den von den beauftragten Kunstkollektiven hergestellten Settings überhaupt um Kunst handelt. Oder ob mit der völligen Verbeliebigung eines kommunikativen Kunstbegriffes herrschende Tendenzen der "Re-Faschistisierung und Re-Fundamentalisierung" Tür und Tor geöffnet würden (Die naiv, völlig unkritischen Zitate von Kulturkritiker*innen renommierter Blätter, die Brock bringt, sind wirklich zum Schreien komisch).

Zu Recht verweist Brock auf eine fast unheimliche Geschichtsvergessenheit mit den Folgen einer weitgehenden Entpolitisierung eines ausschließlich auf kulturelle Selbstversicherungsphantasien bezogenen Kunstfeldes. Ruangrupa und alle anderen Kunstkollektive würden im Anspruch, der Welt einen neuen, aus mannigfachen Diskriminierungserfahrungen schöpfenden kommunikativen Kunstbegriff vorzuschlagen, prozesshafte künstlerische Praxen früherer Documenta-Ausstellungen negieren (Brock verweist auf "Kunst als soziale Strategie" bereits 1977, nicht zu reden von Beuys' künstlerischen Interventionen).

In diesem Sinn ist der Documenta-Leitung nicht nur der fahrlässige Umgang mit Fragen des Antisemitismus vorzuwerfen. Mindestens ebenso (gesellschaftspolitisch) fahrlässig scheint die Nachlässigkeit, in einer umfassenden Selbstschuld-Zuschreibung (Kolonialismus, Rassismus,.....) nicht mehr auf einer klaren Trennung zwischen Kunst und Kultur zu bestehen und damit das emanzipatorische Potential dessen, was künstlerisches Tun zu bewirken vermag, zu retten.

Bazon Brocks Ängste vor anonymen Kunstkollektiven, die seiner Meinung nach die umfassende Kulturalisierung und damit die Überwindung hart erkämpfter Errungenschaften der Aufklärung betreiben würden sollten dahingehend zumindest relativiert werden, wenn im Rahmen der Ausstellung die Idee des Individuums gerettet werden kann.

Ein Individuum freilich, das in der Lage ist, sich über seine kulturellen Gegebenheiten auf immer neue Weise zu erheben und mit künstlerischen Mitteln zu sich zu kommen. Dieses Individuum ist aber nicht allein auf der Welt. Es weiß sich in Beziehung mit anderen Individuen, die seine kritische Haltung zur Welt teilen und mit denen es sich lohnt, entlang dafür entwickelter künstlerischer Prozesse miteinander in Kommunikation zu treten und dabei - ja - Kunst zu schaffen.

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