Als die Musikszene erstaunt feststellte, wieviel sie einander zu erzählen hat und sich auf die Suche nach gemeinsamen Interessen machte

Das Gefecht ist eröffnet: In beispielloser Manier forderte in diesen Tagen der Direktor der Albertina Klaus Albrecht Schröder die temporäre Schließung des Theaterbetriebs (und meinte damit wohl auch den Verzicht auf Musikveranstaltungen). Postwendend erhielt er einen polemisch gespickten Ohrenreiber von Operndirektor Staatsopern-Direktor Bogdan Roščić, der ihm schrankenlose Eitelkeit und darüber hinaus völlige Unkenntnis vorwarf.

Und wir durften nach Föttinger und Resetarits einmal mehr die für Österreich typische Art und

Weise, sich kulturpolitisch zu verständigen erleben: Platzhirsche, die sich in der Öffentlichkeit bekämpfen, während alle übrigen Akteure der Szene mehr oder weniger gebannt und schweigsam den Ausgang verfolgen.

Diese Form der Delegation wollten die Veranstalter der Ersten Lockenhauser Kulturgespräche bewusst durchbrechen. Es sollte nicht nur über sie die Rede sein; stattdessen sollten sie sich selbst – tunlichst abseits jeglicher medialer Aufgeregtheit – zu Wortführer*innen machen, zumal fast alles dafürspricht, dass die Auswirkungen der Pandemie sie ganz persönlich betreffen werden (bzw. schon jetzt betreffen).

Bevor ich aber beginne, von den spezifisch kulturpolitischen Erfahrungen dieses Treffens zu berichten, eine kleine Vorgeschichte.

In den angeblich „ach so guten alten Zeiten“, in denen wir uns die Auswirkungen der Pandemie nicht vorstellen konnten

Erst jetzt wird manchem/mancher so richtig klar, dass in der Nachkriegszeit ein spezifisches Musikformat verbindlich gemacht wurde, das bis gestern den Musikbetrieb uneingeschränkt bestimmt hat. Als Inbegriff der „richtigen“ Wahrnehmung von Musik galt das klassische Symphoniekonzert, bei dem eine Hundertschaft von höchstspezialisierten Musikern (erst viel später auch Musikerinnen) auf der Bühne rund 2000 Zuhörer*innen in militärischem Reih und Glied gegenübersaßen. Seine Legitimation erhielt es nicht nur aus dem Umstand, dass hier eine höchst kultivierte Musizierpraxis vor einem kundigen Publikum entfaltet wurde, sondern eng verbunden war damit auch das Selbstverständnis der Akteure, mit ihrem Dabeisein einen Beitrag zur nationalen Identitätsversicherung zu leisten und damit den politischen (in Österreich traditionell konservativ ausgerichteten) Status quo zu verfestigen und zu vertiefen. Das offizielle Österreich bedankte sich dafür, indem es diesen musikalischen Hervorbringungen zuschrieb, dass jene in herausragender Weise die „Kulturnation Österreich“ repräsentierten. Grund genug, damit die staatliche Privilegierung des Musikbetriebes in seiner für ewig gültig erklärten Gestalt zu begründen.

Ein erster Einspruch, der zu More-of-the-same führt

Erstmals signifikanten Einspruch erhielt diese kulturelle Sonderstellung durch die alternativen Kulturbewegungen der 1970er Jahre. Selbst prononcierte Vertreter wie Pierre Boulez sprachen sich damals dafür aus, endlich „die heiligen Kühe zu schlachten“ und damit den Musikbetrieb in seiner traditionellen Form von seiner sich selbst zugeschriebenen Gralshüterfunktion zu befreien. Konkret galt es, die Verfügungsgewalt eines Old-Boys-Netzwerks über den musikalischen Kanon und seiner von ihm streng gehüteten Aufführungspraxis zu brechen.

Aus heutiger Sicht ist es damals zu einer beträchtlichen Ausweitung des musikalischen Angebots gekommen und dank neuer Settings konnte auch der Kreis der Rezipient*innen nachhaltig ausgeweitet werden. Und doch kam der so entstandene „Freie Bereich“ um die Entscheidung nicht herum, sich früher oder später dem Diktat der Platzhirsche zu unterwerfen und zu akzeptieren, dass diese weiterhin als sakrosankte Leitmedien fungierten. Oder zu versuchen, sich in neuer Freiheit zu üben und dabei eine, wenn auch bescheidene Nischenfunktion für speziell Interessierte wahrzunehmen. Der Preis waren prekäre Realisierungsbedingungen am Rande des Musikbetriebs. Und in der Folge – schon aus Überlebensgründen – eine zunehmende Verähnlichung mit der Aufführungspraxis, gegen die ihre Vertreter*innen ursprünglich angetreten waren. Das Ergebnis: More-of-the-same.

Die Kulturpolitik der 1970er Jahre, versuchte erst gar nicht, die dominierende Repräsentationsfunktion der wenigen großen Tanker in Zweifel zu ziehen. Sie begnügte sich damit, den neu entstandenen Freien Bereich mit Almosen abzuspeisen und doch als wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der Kultur zu verkaufen. Ansonsten folgte sie in einem Milieu hoher Informalität und Personalisierung den Vorschlägen einiger weniger prominenter Figuren des Kultur- bzw. Musikbetriebs: Die werden schon wissen, was richtig ist, so die kulturpolitische Vermutung.

Als die Marktlogik die Kulturnation durchdrang

Als in den 1990er Jahren die neoliberale Ideologie auch die österreichische Kulturpolitik erfasste, sah der traditionelle Musikbetrieb die Chance, sich aus einer allzu engen staatlichen Umarmung zu befreien und den Anspruch einer größeren Selbstständigkeit zu stellen. Nicht politische Vorgaben sollten künftig über das gesellschaftliche Standing entscheiden, sondern die Nachfrager*innen auf dem Musikmarkt. Ideale Voraussetzung für einen Musikbetrieb, der als herausragendes Label zumindest 40 Jahre lang als repräsentativer Ausdruck einer Kulturgroßmacht positioniert wurde und sich jetzt daran machen konnte, national und international neues Interesse zu generieren. Zu Hilfe kamen ihm dafür kulturpolitische Bemühungen der Kunst- und Kulturministerin Claudia Schmied 2007-2013, die umfangreiche Bildungs- und Vermittlungsaktivitäten initiierte. Mit deren Hilfe sollte bei den Gruppen, die bislang nicht zum Stammpublikum gehört hatten, Interesse geweckt werden in der Hoffnung, damit in kulturfernen Milieus die Akzeptanz staatlicher Umverteilungsmaßnahmen zugunsten des traditionellen Musikbetriebs noch einmal erhöhen zu können.

Dass über all dem längst eine Medienindustrie thronte, die die Produktions- (und Konsumptions-) bedingungen des Musikbetriebs längst überformt hatte, nahmen die meisten Akteure bestenfalls halbbewußt wahr. Sie setzten stattdessen einmal mehr auf die scheinbar unerschütterliche Hegemonie der einzig möglichen Aufführungspraxis, die wir in der Nachkriegszeit als unmittelbar physisches Gegenüber von Musiker*innen auf der hellen Bühne und Publikum im dunklen Auditorium gelernt haben (Meine Gespräche mit musikaffinen Menschen in den letzten Wochen, die mich allesamt zu überzeugen versucht haben, nur als Teil eines anonymen Publikums in einem von einem Orchester leibhaft bespielten Konzertsaal physisch anwesend zu sein, sind unzählbar). Dies stelle vermeintlich die einzig adäquate Rezeptionsweise klassischer Musik dar.

Das Virus und die Notwendigkeit, den Musikbetrieb nochmals neu zu denken

Und dann kam – für uns alle inklusive der Regierung unerwartet- der Tag X, von dem an alles anders sein sollte. Die Regierung verordnete Mitte März die Schließung des Kulturbetriebs, die Spielpläne wurden zur Makulatur und das Publikum musste zwangsweise zu Hause bleiben. Damit entging dem Musikbetrieb eine wichtige Einnahmequelle; schon rasch stellte sich ganz elementar die Sinnfrage, wenn der Lock-down in diesem Frühjahr ganz offensichtlich machte, dass die österreichische Gesellschaft auch ohne institutionelles Kulturangebot weiter funktionieren kann und sich der Aufschrei in der Bevölkerung (vor allem aber in der Politik) über sein fehlendes Angebot mehr als in Grenzen hielt. Wenn in den ersten Tagen beim überwiegenden Teil der Akteur*innen noch die Hoffnung überwogen hat, alsbald wieder in einen alten Zustand (so fragwürdig dieser immer schon sein mochte) zurückkehren zu können, so wird mittlerweile selbst den größten Optimist*innen immer deutlicher, dass die nach 1945 gezimmerten Grundlagen des Musikbetriebes drauf und dran sind, auseinander zu brechen. Allein die Tatsache, dass die Gesundheitspolitik, die ihre Maßnahmen nahezu täglich an den Stand von Indikatoren zum Stand der Virus-Ausbreitung neu bemisst, neue Vorgaben erlässt, führt die Planungsbedürfnisse der großen Musikplayer, die zum Teil Jahre im Voraus disponieren, ad absurdum. Ein scheinbar unverwüstliches Geschäftsmodell ist zu einem abrupten Ende gekommen.

„Ich habe es satt, mir jeden Tag aufs Neue allein in meinen vier Wänden den Kopf darüber zu zerbrechen, wie es weiter gehen könnte“

Es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, dass das Angebot an die Szene, sich an den ersten Lockenhauser Kulturgesprächen zu beteiligen, breit angenommen wurde. Vertreter*innen großer Veranstalter aus ganz Österreich fanden sich ebenso ein wie freie Musiker*innen und Komponist*innen, die es offenbar Leid waren, ihre Befürchtungen allein zu Hause zu wälzen sondern sich über die Genre-Grenzen hinweg untereinander auszutauschen und allenfalls dabei auch Neuland zu betreten. Eine gute, zur Diskussion einladende Vorlage dazu bot die Produktion „COSÌ.20 – Liebe ist ansteckend! Mozarts »Così fan tutte« in Zeiten von social distancing“, die an den Vortagen der Gespräche von ĀRT HOUSE OPERA um Thomas Höft und Dietrich Henschel „virusgerecht“ in Szene gesetzt wurde.

Ohne große Eingangsstatements fanden sich die Teilnehmer*innen bald in intensiven Diskussionsrunden, die sich um die Themen „Veranstaltungen, Formate, Publikum, und Kulturpolitik“ rankten. Ich selbst durfte mich um den Gesprächsfaden um das Thema der Kulturpolitik kümmern. Ohne jeden Versuch der Vollständigkeit der verschiedenen Einschätzungen und Einsichten möchte ich in meiner Reflexion einige Punkte herausgreifen, die in einem unmittelbaren Bezug zur Verlaufsgeschichte stehen, die ich am Anfang dieses Beitrags skizziert habe.

„Die Kulturpolitik wurde in den letzten zwanzig Jahren systematisch heruntergewirtschaftet“

Naturgemäß richtete sich das erste Interesse auf das staatliche Handeln, dessen Wirksamkeit in diesem Frühjahr von vielen Künstler*innen schmerzlich vermisst wurde. Und doch spricht vieles dafür, dass dieser Mangel nicht nur dem gerade regierenden Personal angelastet werden kann, sondern dessen Ursprung sich weit in die 1990er Jahre zurückverfolgen lässt. Wenn einer der Diskutant*innen, der selbst kulturpolitisch tätig ist, meinte, „Kulturpolitik sei in den letzten zwanzig Jahren systematisch heruntergewirtschaftet worden“, dann beschreibt er damit den schleichenden Rückzug des Staates als Garant des Musikbetriebs. Im Zuge einer neuen Selbstständigkeit auf dem Markt haben dessen Vertreter*innen offenbar nur ungenügend antizipiert, dass man nicht beides haben kann: Die Freiheiten des Marktes und die Sicherheit des Staates. Nur zu gerne hat man seit den 1990er Jahren auf die neue Unabhängigkeit gepocht, um damit jede Art von staatlicher Einflussnahme abzuwehren. Jetzt, wo der Markt von einem Tag auf den anderen wegbricht, ist die Neigung groß, sich in die Arme des Staates zurückzusehnen. Der aber existiert – jedenfalls in seiner Eigenschaft als mächtiger kulturpolitischer Akteur – nicht mehr. Kulturpolitik ist innerhalb des Regierungsportfolios zu einem undankbaren Ausgedinge verkommen, wer immer sich als Politiker*in profilieren möchte, versucht es erst gar nicht, an dieses Politikfeld anzustreifen. Entsprechend schwer ist es geworden, mit Hilfe des Buzzwords „Kulturnation“ noch einmal eine/n Entscheidungsträger*in hinter dem Ofen hervorzuholen, um ein Phantom zu retten, das für ihn überhaupt nicht mehr existiert (siehe das fast schon exemplarische Desinteresse am Kulturbetrieb von führenden Politiker*innen wie Sebastian Kurz oder Gernot Blümel).

Von der Kunst- und Kulturverwaltung gehen keine Initiativen aus

Neben der weitgehend devastierten Arena der Kulturpolitik existiert eine in die Jahre gekommene Kunst- und Kulturbürokratie, die sich an einem fast schon feudalen Gewährensmodus abarbeitet und wenig Interesse zeigt, entlang neuer Produktions- und Rezeptionsweisen selbst initiativ zu werden.

Was dann aber bleibt, sind die schieren Marktkräfte, deren Logik (in Form von Quoten, Auslastungszahlen oder Drittmittel-Akquisition) mittlerweile bestimmenden Einfluss auch auf die staatliche Förderpraxis nimmt. Auf der Grundlage kann sich staatliche Politik (die in Zeiten der Krise mit dem Slogan „Koste es, was es wolle“ noch einmal versucht, sich gegen die Marktkräfte durchzusetzen) zwar dazu verständigen, nach einigem Zögern auch Hilfsprogramme für den Musikbetrieb aufzulegen; alle darüber hinausgehenden Hoffnungen, die darauf abzielen, den Musikbetrieb konzeptionell neu aufzusetzen oder ihm noch einmal eine Rolle in der Bewältigung der Krise zuzuweisen, werden wohl enttäuscht werden.

Natürlich kam auch wieder die Forderung nach einem eigenen Kulturministerium auf. Diese zielt wohl darauf ab, eine Kulturpolitik, die ihrem Gefühl nach zu einer inferioren Restkategorie verkommen ist, noch einmal aufzuwerten (und dabei selbst eine Aufwertung zu erfahren). In ihrer jetzigen Ausformung, so jedenfalls der Tenor, scheint sie kaum in der Lage zu sein, sich gegenüber den Interessen anderer, wesentlich mächtigerer Politikfelder durchzusetzen oder gar ressortübergreifende Maßnahmen zu stimulieren.

Zusammenbruch des Marktes, Selbstabschaffung staatlicher Kulturpolitik – Wie kann da ein Neuanfang gelingen?

Die Ausgangslage könnte also schwieriger nicht sein: Da ist einerseits der Markt als eigentlicher Hoffnungsträger der letzten Jahre von einem Tag auf den anderen zusammengebrochen. Und da sind wir andererseits mit den Folgen des Rückzugs des Staates konfrontiert, der jetzt einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Anspruchsgruppen finden muss und aufgrund seiner kulturpolitischen Selbstabschaffung nicht in der Lage ist, auf die besonderen Bedürfnisse des Musikbetriebs gebührend Rücksicht zu nehmen, geschweige denn, dass nochmals signifikant steigende staatliche Mittel für den Kunst- und Kulturbereich zu erwarten sind. Die erwartbaren Folgen: Eine schmerzhafte „Bereinigung des Marktes“, was immer darunter zu verstehen sein mag. Die Hoffnungen, dass sich dabei ein neues Qualitätsverständnis etablieren könnte, das über quantitativ erfassbare Erfolgskriterien hinausweist könnten sich als trügerisch erweisen, wenn – wie schon jetzt am Beispiel der Salzburger Festspiele beobachtbar – die großen etablierten Einrichtungen ihre dominante Position bedenkenlos nutzen werden (Allein die diesjährigen zusätzlichen Kosten für den Corona-Sicherheitsdienst betragen Euro 300.000.–).

Es gibt aber auch Positives zu berichten: Die kulturpolitischen Akteure aus Politik und Verwaltung sind angesichts des Ausmaßes der Herausforderung gezwungen, vor die gönnerhaften und besserwisserischen Fassaden ihrer Potjomkinschen Dörfer zu treten. Sie sind mit ihrem Latein am Ende, noch bevor sie begonnen haben, die Krise zu managen. Dazu verfügen sie über keinerlei konzeptives Knowhow, das der Krise gewachsen wäre. Also versuchen sie, mit Vetreter*innen des Musikbetriebs in ein neues Verhältnis zu treten, um so gemeinsam maßgeschneiderte Lösungen zu erarbeiten.

Ein Gespräch auf Augenhöhe setzt voraus zu wissen, wovon die Rede ist. Vereinfacht: Interessen zu haben und diese zu vertreten

So erfreulich diese neue Gesprächskultur erscheint, so verweist sie doch auf ein strukturelles Defizit der Szene, die sich bislang um die Frage herumgedrückt hat, ob sie überhaupt Interessen hat und wenn ja, wie sich diese vertreten lassen. Immerhin hat sich erst vor ein paar Tagen eine neue Interessensgemeinschaft der Freien Musikschaffenden etabliert, die sich in Lockenhaus präsentieren konnte. Dieser erfreuliche Umstand konnte aber nicht verbergen, dass viele, vor allem der freischaffenden Musiker*innen und Künstler*innen noch immer von einem völlig apolitischen Berufsbild geprägt sind und folglich an Politik überhaupt nicht anstreifen möchten. Alleine der Umstand, sie könnten eigene Interessen haben, geschweige denn diese mit anderen teilen, ließ zumindest einige der Teilnehmer*innen an ihrem Künstlerbild zweifeln, das sich erhaben weiß über die Niederungen des Politischen. Dass es eine Reihe von Teilnehmer*innen gab, die erstmals zur Kenntnis nahmen, dass es im Rahmen der „younion“ eine gewerkschaftliche Vertretung zumindest für abhängig erwerbstätige Musikschaffende gibt, hat mir zu denken gegeben.

„Wir denken nicht politisch“ meinte folgerichtig eine Teilnehmerin und wurde dabei unterstützt von einem Vertreter eines der großen österreichischen Orchester, der die Szene dazu einlud, sich bei aller künstlerischen Exzellenz auch als ganz normale Erwerbstätige samt spezifischen Berufsinteressen zu begreifen. Abschiednehmen von einer manisch-depressiven Grundhaltung habe ich das genannt, die auf fast schon virtuose Weise den Anspruch, etwas Besonders zu sein (und auch so behandelt werden zu wollen) mit der Einschätzung, besonders arm und missverstanden zu werden, zu verbinden weiß.

Emanzipation des Musikbetriebs zwischen Irrelevanz und Selbstermächtigung

Die Chance, die in einer Politisierung des Musikbetrieb liegt, zeigt sich spätestens dort, wo die Kehrseite der Emanzipation von staatlicher Bevormundung, wie sie seit den 1990er Jahren mit einer zunehmenden Marktdurchdringung des Musikbetriebs zu beobachten ist, sich zu einem Gefühl wachsender Irrelevanz verdichtet. Diese Angst war bei den Teilnehmer*innen spürbar. Immer mehr Menschen bis weit in den etablierten Mittelstand geraten zurzeit in existentielle Krisen und lassen sich mit Appellen an die Kulturstaatlichkeit nicht mehr in die Konzertsäle zurückholen. Stattdessen war viel die Rede von einer neuen Sprache, die erst entwickelt werden muss. Und die sowohl näher als auch konkreter verbunden sein muss mit denen, mit denen es der Musikbetrieb in Zukunft zu tun haben will.

Kooperation in der Konkurrenzgesellschaft

Wenn die Kulturpolitik der letzten Jahre etwas erreicht hat, dann ist es die Durchsetzung eines Systems des Divide-et-Impera. Die Folge ist eine weitgehende Isolierung der Akteur*innen auch innerhalb des Musikbetriebs, die sich untereinander vor allem in gegenseitigen Konkurrenzverhältnissen empfinden. Abhandengekommen ist dabei die Fähigkeit, sich bei aller Kompetitivität des Musikmarktes in zentralen Fragen zu verständigen und in Kooperation zu üben.

Dies gilt nach innen über die Genre-Grenzen hinweg. Dies gilt aber auch nach außen, wenn sich erst in einer kooperativen Haltung neue Chancen des Zusammenwirkens mit anderen gesellschaftlichen Bereichen auftun. Dazu kommt, dass in dem Maß, in dem Kulturpolitik nicht mehr in der Lage ist, die Interessen des Kulturbetriebs hinreichend in anderen Politikfeldern zu vertreten, der Bedarf, selbst neue Kooperationen zu versuchen und dort die besonderen Fähigkeiten des Kulturbetriebs einzubringen, wachsen wird. Eine solch neue kooperative Haltung, die sich nicht auf die unbedingte Verteidigung dessen, was vor der Krise bestand, beschränkt, führt notwendig auch zu einer Erweiterung künstlerischer Berufsbilder, die Organisations- und Regionalentwicklung ebenso umfassen können wie Bildungs- und Sozialarbeit im Zusammenhang mit der zunehmenden Heterogenisierung der Gesellschaft. Dass dies keinerlei negative Auswirkungen auf die künstlerische Qualität haben muss, das haben vielfältige Beispiele eindrucksvoll gezeigt.

Der bestandserhaltende Ruf nach „keiner Neiddebatte“ und warum wir um die Verteilungsfrage nicht herumkommen werden

Wahrscheinlich nicht ungefährlich ist die Einschätzung, dass die aktuelle Krise auch den Kampf um eine neue Gewichtung der Akteur*innen innerhalb des Musikbetriebs wiedereröffnen konnte. Nur ja keine „Neiddebatte“ lautete die kulturpolitische Losung der letzten Jahre, die die Hierarchie zwischen einem privilegierten inneren Kreis und den vielen Freien auf Dauer stellte. Nach dem ersten Generalangriff auf die etablierten Gralshüter nach 1968 sollten sich die experimentierfreudigen Freien dank bescheidener Förderungen mit ihrer inferioren Rolle am Rand des Betriebs auf Dauer zufrieden geben. Die großen Player hingegen orientierten sich weiterhin auf ihre Gott gegebenen Formatvorgaben und ließen es mit kosmetischen Veränderungen bewenden. Für den Nachwuchs auf dem Weg ins Bestehende sollten Musikvermittler*innen sorgen. Dieweil übernahmen die Freien die Funktion einer wenig bedankten Forschungs- und Entwicklungsabteilung, machten sich auf die Suche nach neuen Publika, erprobten neue Interaktionsformen, experimentierten mit neuen Formaten und lieferten damit den Stoff, aus dem der Weg aus der Krise gebaut werden kann.

Der Freie Bereich als zentrale Ressource für die Neukonzeption des Musikbetriebs

Während in diesen Tagen selbst Vertreter*innen des etablierten Konzertbetriebs danach fragen, ob große Orchesterformationen, die bislang den Betrieb dominiert haben, außerhalb einiger weniger musealen Nischen überhaupt noch eine Zukunft haben, hätte es der Freie Bereich in der Hand, mit seinen vielfältigen Erfahrungen der letzten Jahre den Musikbetrieb neu auszurichten und damit noch einmal Bedeutung zu geben. Sie wissen wohl am besten über die Logik von Produktionszyklen, die jedes Geschäftsmodell bestimmen. Das Wissen liegt in ihren Genen, dass nicht die Wiederholung des „Immer Gleichen“ das Ziel sein kann, sondern die Mitwirkung an einer dynamischen Entwicklung von immer wieder neuen Angeboten, die einen Anfang, einen Höhepunkt aber auch ein Ende kennen. Dazu gehört auch die Hoffnung auf neue Musiken, die für die jeweiligen Interessierten adäquaten Settings zur Aufführung gebracht werden könnten (wie das übrigens bis ins 19. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit war). Die Losung des Intendanten der styriarte Mathis Huber, sich dabei weniger an den Ansprüchen der Musik an das Publikum zu orientieren, sondern an den Ansprüchen des Publikums an die Musik könnte hierfür eine gute Leitlinie bilden.

In diesem Zusammenhang sehe ich eine zentrale Aufgabe der Kulturpolitik darin, solche „open labs“ als Experimentier- und Entwicklungsräume zur Entwicklung künftiger Inhalte und

Formate zu stimulieren (In dem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Deutsche Kulturstiftung des Bundes ein Programm „reload.Stipendium für freie Gruppen“ aufgelegt hat, im Rahmen dessen auch die Konzeption des Projekt „Così.20“ gefördert wurde, ohne es mit der Auflage zu verbinden, dieses auf die Bühne zu bringen. Umso schöner, dass es schließlich doch gelungen ist). Der Call „Corona Futures“ könnte hierfür beispielgebend sein.

Zumindest angesprochen wurde eine Reihe von notwendigen kulturpolitischen Maßnahmen, sie reichen von der Durchsetzung adäquater Bezahlung von Streaming-Diensten, die Valorisierung von Förderzusagen oder die Bindung von Förderungen für Veranstalter*innen an eine sozial abgesicherte Mindestentlohnung. Einen zentralen Stellenwert aber hat – nicht nur in unserer Diskussion – die Einführung eines voraussetzungslosen Grundeinkommens eingenommen. Dabei fand sich kein*e Diskutant*in, der/die eine solche Maßnahme auf den Kunst- bzw. Musikbetrieb beschränkt wissen wollte. Stattdessen bezog sich diese Forderung auf alle, die die aktuelle Krise mit ihren gravierenden Auswirkungen auf den gesamten Arbeitsmarkt dazu nutzen wollen, eine sinnstiftende Lebensweise abseits der rigider werdenden Zwänge der Arbeitswelt zu erproben. Künstler*innen könnten sich als Interessensträger nicht nur des eigenen Sektors profilieren und damit ihre gesellschaftspolitische Relevanz unter Beweis stellen.

Vieles wurde nur angesprochen. Vor allem der möglicherweise entscheidende Einfluss, den die digitalen Medien auf jede Neuausrichtung des Musikbetriebs nehmen werden, blieb weitgehend unterbelichtet. Die vielleicht entscheidende Qualität des Treffens aber bestand darin, dass Menschen aus ihren Silos herausgetreten sind und sich über die Genre-Grenzen hinaus verständig haben. Wer wie ich die Koryphäen der Alten Musik im Gespräch mit dem führenden Vertreter der österreichischen Jazz-Szene gesehen hat, der spürte unmittelbar, dass sich beide etwas zu sagen haben. Und noch lange nicht alles gesagt (geschweige denn getan) ist.

Es würde großen Sinn machen, dieses Gespräch spätestens im nächsten Jahr fortzusetzen.

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