Gedanken zu Katja Eichingers: „Liebe und andere Neurosen“ – mit ein paar Ergänzungen aus Alain Badious „Lob der Liebe“

In the temple of love/Shine like thunder/In the temple of love/Cry like rain

In the temple of love/hear my calling

And the temple of love/Is falling down (Lana)

Ist es den mannigfachen Krisenerscheinungen geschuldet und den sich immer weiter verdunkelnden Zukunftsaussichten? Oder aber – wie Alain Badiou in seinem „Lob der Liebe“ vermutet – einem überbordenden Sicherheitsdenken, das mit dem Anspruch auf Risikolosigkeit der Lebensgestaltung immer mehr Menschen vom Konzept der Liebe als existenzielle Lebenserfahrung sich verabschieden lässt?

Zu anstrengend, zu verwirrend, zu mühsam, und am Ende doch immer verletzend. Selbst viele junge Menschen zeigen sich skeptisch, wenn es um große Gefühle geht und suchen nach einem sicheren Hafen markttauglichen Zwischenmenschlichkeit. „Als hätten wir nicht schon genug andere Sorgen“, ist ihr Argument, das selbst bei Künstler*innen um sich greift, wenn sie sich „das mit der Liebe nicht mehr antun wollen“ und stattdessen auf deren Sublimierung mittels ihre Kunst setzen. Und dabei gar nicht mehr bemerken, als wie menschenfeindlich eine solche Kunst erfahren werden muss.

Nun ist „Liebesfeindlichkeit“ nichts Neues. Ihr wichtigster Vertreter ist Arthur Schopenhauer, der unterstellt hat, die Liebesleidenschaft sei einfach eine ebenso unnötige wie wertlose Camouflage, um die Fortpflanzung de menschlichen Rasse zu idealisieren. Zuletzt hat sich die israelische Soziologin Eva Illouz intensiv mit den falschen Hoffnungen der Liebe auseinandergesetzt. In ihren Studien mit dem bezeichnenden Titel „Warum Liebe weh tut“ entwickelt sie eine Gesellschaftsanalyse, in der Begehren und Liebe auf Betriebsmittel der kapitalistischen Konsumgesellschaft reduziert und ihr humaner Wert ins Reich der Illusion verwiesen werden: Liebe als Ware also, die genau so produziert und konsumiert werden will wie jede andere Dienstleistung.

In einem solchen liebesskeptischen Ambiente veröffentlichte jüngst die deutsche Journalistin mit Schwerpunkt Film Katja Eichinger ein Buch mit dem Titel „Liebe und andere Neurosen“. Sie macht damit auf sehr originelle Weise nochmals Lust auf die Liebe und damit auf das Leben in seiner Unauslotbarkeit.

Mit ihren Auslassungen erntete sie hymnische Kritiken, in denen der Text „als ein publizistisches Kunststück, in dem eine, die schreiben kann, spielerisch zwischen ganz persönlichen Erfahrungen, Referenzen aus Musik und Kunst und Gesellschaftsanalysen hin und her zu springen vermag“. Dabei schafft sie eine Mischung aus persönlichen Erinnerungen, Haltungen, Spurensuchen und Zeitdiagnosen, die die Leser*innen – so eine Kritikerin – intelligenter und lustiger als zu Beginn der Lektüre entlassen würde.

Ganz entgegen dem Trend der Zeit, „sich zu verlieben, ohne der Liebe zu verfallen“ habe ich „Liebe und andere Neurosen“ als eine Ermutigung gelesen, sich auf das Leben mit all seinen Unvorhersehbarkeiten einzulassen. Und damit als eine Aufforderung, sich gegen den Zeitgeist nicht mit dem zu begnügen, was die zunehmend verinnerlichten Konventionen zur Sicherstellung, „dass nichts passiert“ erlauben. Dazu gehört auch, sich mit den dunklen Seiten der eigenen Existenz auseinanderzusetzen, die sich dort auftun, wo der*die Liebende über den Schatten der eigenen Bewusstheit zu springen versucht und danach strebt , als Ganzer das „Sein des anderen zu erreichen“ (Badiou). Auf dieser Grundlage hat Eichinger eine kluge, durchaus sich selbst immer wieder zur Disposition stellende Streitschrift für die Einbildungskraft als zentrale Erfolgsbedingung von „Liebeskonstruktionen“ (Badiou) geschrieben, die sich der pragmatischen Organisation des Lebens entlang eines äußerlich oktroyierten Common Sense verweigert.

Heute noch einmal zu versuchen, über die Liebe als eine zentrale Kategorie kultureller Verfasstheit zu schreiben, das ist ein mutiges Unterfangen. Zumal schon der*die eine oder andere schon vor ihr sich verleitet gesehen hat, sich schreibend mit dem Thema Liebe auseinanderzusetzen – und sich mit der Produktion aller Arten von Kitsch heftig die Finger daran verbrannt hat. Dass Eichinger nicht vor der Ich-Form zurückschreckt, ist dann fast schon eine Garantie, an der eigenen Ambition zu scheitern. Aber – so viel sei vorweggenommen – obwohl Eichinger offenherzig über ihr persönliches Erleben berichtet (und dabei auf Verweise der Beeinträchtigung durch die eigenen Neurosen nicht verzichtet) kommt nie der Eindruck der Indiskretion auf, eine Leistung, die Badious These bestätigt, dass im persönlichen Liebesstreben immer ein Keim des Universellen (und damit das Kulturelle Repräsentierende) steckt – vorbehaltlich freilich, es findet eine adäquate Erzählform.

Wie viele andere Beispiele der Liebesliteratur bedient sich Eichinger in vielfältiger Weise Assoziationen aus Literatur und Kunst. Auf fast schon virtuose Weise verquickt sie dabei hoch- und populärkulturelle Aushandlungsformen und macht entlang der Aussagekraft der gewählten Beispiele deutlich, wie obsolet diese gewaltsame, ausschließlich den Interessen einzelner Marktakteur*innen geschuldeter Trennung geworden ist, zumindest wenn es um etwas geht, das das Leben als Ganzes zu verhandeln.

Der Band teilt sich, den Verlauf der Liebe chronologisch nachzeichnend in zehn Kapitel und reicht vom Begehren bis zu Tod und Trennung. Dazwischen verhandelt Eichinger in einer lustvollen Mischung von Persönlichem und Allgemeinem

Themen wie Leidenschaft, Lust, Verlieben, Ehe, Zweisamkeit, Ehe, Selbstliebe oder Freundschaft, die am Ende ermutigen, sich mit den eigenen Erfahrungen im prekären Spannungsverhältnis von Nähe (Erleben von innen) und Distanz (Beobachtung von außen) noch einmal intensiver zu beschäftigen.

Ein Logistik-Standort als Erfüllungszentrum

Der Beginn des ersten Kapitels zum Begehren beginnt irritierend. Eichinger beschreibt ein Logistik-Zentrum von Amazon in Niederaula, einem Ort knapp an der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, aus dem ihre Familie stammt. Sie findet damit einen Einstieg, der für ihren Zugang charakteristisch ist, wenn sie scheinbar unvermittelt Gegenstände, Ereignisse oder Sachverhalte aufeinander bezieht und damit die tiefe Verwobenheit dessen, was wir für gewöhnlich als getrennte Welten wahrnehmen, deutlich macht. Und wir erfahren immer wieder erstaunt, wie eng Familiengeschichten, Goethes Faust und die Omnipräsenz des iPhones miteinander verbunden sind.

Mit der Schilderung der örtlichen Gegebenheiten erwächst im Amazon-Standort ein „Erfüllungszentrum“. Dieses repräsentiert einen mittlerweile dominant gewordenen Typus des Begehrens, der sich im Kauf von Waren und Dienstleistungen erschöpft und doch gravierende Auswirkungen auf unser begehrendes Verhalten auch in Bezug auf den Wunsch nach einem potentiellen Liebesobjekt hat. Was uns mit Eichinger staunen lässt, das ist nicht nur die architektonische Reduktion des Standortes in Gestalt einer trostlos-überdimensionalen Schachtel, sondern auch seine Verortung ausgerechnet an einem der Brennpunkte des Kalten Krieges. Dort, wo ein ursprünglicher Ort ultimativer Frustration samt Todesstreifen und Wachtürmen zur äußersten Repräsentation der Konsumgesellschaft mutiert ist. Als ein anonymer Ort der scheinbaren Überwindung aller Frustration und der Erfüllung aller Begehren.

In einer tiefergehenden Analyse des Begehrens hat sich Eichinger mit dem französischen Literaturwissenschaftler René Girard auseinandergesetzt. Seine These läuft darauf hinaus, dass es so etwas wie ein ausschließlich auf den*die anderen/das andere bezogene*s Begehren gar nicht gibt. Es brauche immer einen Dritten/ein Drittes, das dieses begründet und den Wunsch nach Ausschließlichkeit in Frage stellt (Eine These, die nicht nur Amazon virtuos dazu nutzt, das Begehren anzustacheln („Kunden, die ihr Produkt gekauft haben, interessiert auch…“) und von seinem französischem Widerpart Badiou für die Sphäre der Liebe aber heftig bestritten wird).

So oder so lässt sich in diesem Dreiecksverhältnis leicht der Ursprung von Eifersucht verorten, der Badiou den Charakter eines künstlichen Parasiten zuspricht. Entsprechend ist ihm nicht der Rivale, sondern die Egozentriker der entscheidende Treiber von Eifersucht. Dazu kommt, – geht es nach Girard – dass es das Begehren auf den einen anderen im biologischen Sinn gar nicht gibt, es sich vielmehr um ein kulturell-soziales Konstrukt handelt, das als Ergebnis sozialer Beobachtung zuallererst im Kopf stattfindet. In diesem Sinn lässt sich dann auch die aus dem Begehren erwachsene Leidenschaft deuten, wenn diese primär nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern gerade wegen der Hindernisse (in Gestalt des*der Dritten), die in den Weg gelegt werden. Um damit das Hindernis selbst zum Gegenstand der Leidenschaft zu machen.

„Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf Gassen und Strassen und suchen, den meine Seele liebt.“ (Hohelied)

Wenn von Leidenschaft die Rede ist, dann ist die Idealisierung nicht weit. Das so entstehende prekäre Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit lässt Eichinger fragen, ob mit Leidenschaft geschlagene Menschen überhaupt in der Lage wären, sich mit ihrem Gegenüber als Person auseinanderzusetzen; oder ob sie nicht Gefahr laufen, sich auf deren Idealisierung zu konzentrieren, die die Wesenheit des*der leidenschaftlich Ersehnten zunehmend in den Hintergrund treten lassen. Hinweise auf eine Vielzahl von Ratgeber-Literatur zur „richtigen“ Partnerwahl macht sie sicher.

In Bezug darauf hat Badiou den Begriff der „Liebeskonstruktion“ entwickelt, wonach leidenschaftlich Liebende notwendig ein gemeinsames Ideal bilden würden; unter dessen Dach aber hätte die unterschiedliche Lebenswirklichkeit der Liebenden durchaus ihren Platz; mehr, gerade die Akzeptanz dieser Unterschiedlichkeit würde die Kraftquelle dafür bilden, sich nicht mit der eigenen Identität begnügen zu müssen.

Sowohl Eichinger als auch Badiou kommen um die Erwähnung von Wagners Tristan und Isolde als ultimative Liebesrepräsentation nicht herum. Wird doch in dieser Oper paradigmatisch die Sehnsucht der Liebenden nach Verschmelzung bzw. Einswerdung verhandelt. Beide sehen in Wagners Werk den Ausdruck einer engen Beziehung zwischen Liebe und Tod, wenn sich die Liebenden in einem unaussprechlichen und außergewöhnlichen Augenblick der Begegnung verzehren und danach nicht mehr in eine Welt, die der Beziehung äußerlich bleiben muss, zurückkönnen (Im Französischen hat diese temporäre Auflösung des Ich (und Du) im Orgasmus als „petite mort“ seine Entsprechung gefunden).

Für Badiou stellt diese Verschmelzungsphantasie keine wünschenswerte Form der Liebeserfüllung dar. Er führt ins Treffen, dass sich die Liebe als ein überraschendes und kontingentes Ereignis weder als vorhersehbar noch als berechenbar erweist: „Das Begehren ist eine unmittelbare Macht, aber die Liebe verlangt nicht nur Sorgfalt, sondern auch die Wiederaufnahmen und Fortführungen.“ Als eine „Konstruktion“ sei sie nicht auf ein Ende, sondern auf Dauer gerichtet, entsprechend ist sie permanent auf Wiederholungen angewiesen. Er spricht von der Liebe als einem „hartnäckigen Abenteuer“, das drauf angelegt sei, über Hindernisse zu triumphieren, die der Raum, die Zeit und die Welt ihr in den Weg stellten. Ähnlich Eichinger, die eine wesentliche Qualität in der Erfüllung von leidenschaftlicher Liebe im Kontrollverlust sieht, mit dem die Liebenden sich ihrer Ration zu entledigen trachten. Zugleich aber bliebe die Angst vor dem Tod, gegen den wir auch und gerade in der Liebe alle Arten von Hindernissen errichten. Was sie zur quasi entgegengesetzten Frage führt, welche Hindernisse Liebende brauchen, um Leidenschaft so erfahren können, dass sie darin nicht vergehen müssen.

Als Absolventin eines humanistischen Gymnasiums kommt Eichinger immer wieder auf ihre Lektüre altgriechischer und römischer Autoren zurück. Viele von ihnen erweisen sich als Ahnväter

Arthur Schopenhauers, wenn sie einen menschlichen Idealzustand der Leidenschaftslosigkeit definieren, zumal die Liebe zu anderen Menschen nur verwirren und versklaven, nie aber zu dauerhaften Glück führen könne. Stoiker propagieren die „Autarkia“, die den Einklang des Menschen mit der Natur zum Ziele hätte. Ihnen hält sie ein simples und doch so bedeutungsschweres Zitat aus Andrei Tarkowskis Film „Solaris“ entgegen, wonach „der Mensch den Menschen brauchen“ würde; für sie hat sich die Erkenntnis, dass der Mensch ein soziales und damit liebensfähiges, ja liebesbedürftiges Wesen darstellt, mit den diversen Lockdowns noch einmal vertieft.

„We’re human. Humans fuck up” (The Dude)

Das Kapitel Lust hätte besser mit Lust und Unlust überschrieben werden sollen. Immerhin erweisen sich diese beiden Aspekte der Liebe als zwei Seiten einer Medaille, die uns oft ebenso rasch wie unerwartet in den „dark room“ unserer Existenz verweist. Die Rettung vor dem völligen Hineinfallen in die dunklen Abgründe der Existenz findet Eichinger in der Schaffung einer Beobachter*innen-Position. Spätestens dort wird sichtbar, dass allem Zwischenmenschlichem, zumal wenn es um Sex geht, Lächerliches und Absurdes innewohnt.

Die Unplanbarkeit und damit Notwendigkeit des „Zufalls“, von dem Badiou als einer kontingenten Voraussetzung am Beginn jeder Liebesbeziehung spricht (um sie danach schicksalhaft in Dauer überzuführen) findet in ihren Überlegungen seine Entsprechung in der Annahme einer fehlenden Zielgerichtetheit von Lust: Eichinger berichtet von Menschen, die voll Lust wären, aber nicht so richtig wüssten, worauf sie Lust haben (und schon wieder sind bei den Voraussetzungen einer erfolgreichen Marktgesellschaft, die auf diesem Nichtwissen ihre Marketingstrategien zu entwickeln vermag). In jedem Fall wohne der Lust die Hoffnung auf Kontrollverlust inne, der uns das Fremde in uns ebenso wie im anderen erfahren lässt. In diesem Zusammenhang zitiert sie den Psychoanalytiker Adam Philips („Monogamie“), der davon ausgeht, dass „genau zu wissen, worauf man Lust hat eine Form von Terror (gegenüber sich selbst und anderen).“ darstellt. „Und damit Sex immer ein Spiel ist, ein Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang“. Lust inkludiere immer auch das Nichtwissen des eigenen Begehrens; diese Uneindeutigkeit führe zu einem Liebes-Paradox, dass man einerseits genau weiß, was man will, und andererseits überhaupt nicht.

Spätestens hier kommt der Begriff der Perversion ins Spiel, der aber von Eichinger anders als von der Fraktion political correctness interpretiert wird. Ja, traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit und darauf bezogene Neurosen mögen auch in der Liebesbeziehung seltsame Blüten treiben. In Fortsetzung ihres Lust-Begriffs gilt ihr die Perversion vor allem als ein Akt, bei dem es nichts zu entdecken gibt. Ihr gilt als pervers, wenn Zukunft auf keinen Fall anders aussehen darf als die Vergangenheit. Dabei verweist sie auf den Typ des Zynikers, der sich den durch den anderen hervorgerufenen verunsichernden Unauslotbarkeiten verschließen würde, um ihn auf Distanz zu halten.

Im prekären Verhältnis von Lust und Unlust erzählt sie von einem Eros, der nicht nur goldene, sondern auch bleierne Pfeile parat hat. Diese bestünden vor allem im Ausleben eines Kontrollwahns, der jegliche Lust und Verlangen rasch zum Verlöschen brächten; ein weiteres Indiz dafür, dass sowohl Begehren als auch Lust in erster Linie im Kopf stattfinden. Ungeachtet dessen beschäftigt sich Eichinger auch mit den biologischen Voraussetzungen der Lust. Und wir erfahren erstaunt, dass es nach einem Jahrhundert weiblicher Emanzipationsgeschichte nach wie vor ein eklatantes Missverhältnis von Studien zur männlichen und weiblichen Sexualität samt ihren biologischen Voraussetzungen gibt. Darüber hinaus nimmt sie Abschied von den lang tradierten Zuschreibungen, wie spezifisch männliches und spezifisch weibliches Lustverhalten zu interpretieren wäre, zumal die Zuschreibung: „Wer bin ich – männlich oder weiblich?“ immer fließender würden.

Wenn es um das Verlieben geht, dann ist die Rede von Sucht und von Drogen nicht weit. Und damit das Stereotyp, dass es sich auch beim Verlieben um eine Form der Destruktion zur Herstellung von Frustration handelt, punktiert von kurzen Momenten der Erlösung. Und doch sieht Eichinger das Verlieben als eine Form der Selbsterkenntnis. Die Möglichkeit, sich im verliebten Ausnahmezustand im anderen zu erkennen, weist wesentlich über eine narzisstische Spiegelung hinaus, die sich in der Zelebration des eigenen Selbstbildes erschöpft. Und den*die Verliebte*n zum/zur Schöpfer*in eines Ebenbildes im anderen macht. Gerade im Moment des Verliebens würden die Grenzen des Selbst zerfließen, an denen sich Selbst- und Nächstenliebe vermischen.

Damit aber geht Verlieben nur, wenn die Beteiligten die eingefahrenen Wege verlassen; geht nur, wenn sie sich aussetzen, und sei es mit weitreichenden Folgen. Eichinger schildert mit Sympathie den Fall einer Bekannten, die mit ihrem Verlieben ihr soziales Setting zum Einsturz gebracht hat:

„Irgendein Teil von ihr brauchte und wollte wohl diese ganze Zerstörung, Aufregung und den Schmerz. Und warum auch nicht. Vielleicht hätte das auch alles vernünftiger, besonnener und weniger dramatisch ablaufen können. Aber immer nur elegant mit einem schicken Wagen und einem braven Pferd durchs Leben traben, ohne Fehler und ohne Drama, das schien ihr ein verschenktes Leben. Wer sich auf den Wahnsinn einlässt, muss eben in Kauf nehmen, dass es schief gehen und weh tun kann“.

„Die Liebe aus Mitleid ist schlimmer als gekaufte Liebe“ (Hermann Broch)

Entlang der verfügbaren Daten nähert sich Eichinger dem Thema der Treue vorsichtig. Die soziale Forderung nach Monogamie sieht sie in der Realität weitgehend falsifiziert. Und entlang ihrer eigenen Familiengeschichte als einem „Beziehungsknast“ weiß sie nur zu augenscheinlich vom Elend in der Ehe und der Familie zu berichten. Anhand zahlreicher Beispiele weist sie nach, dass die Versuche, in der monogam organisierten Familie zumindest einen Teil unseres Lebensglücks an eine andere Person abzugeben, sich immer wieder als trügerisch erweisen. Zugleich kommt auch sie nicht um die Einsicht herum, dass es Liebe und das Gefühl der Zweisamkeit ist, die der großen, alles überschattenden Sinnlosigkeit des Lebens Bedeutung zu verschaffen vermag.

In den Augen Eichingers ist die Familie ein herausragender Ort, „um mit Mehrstimmigkeit und Dissonanzen umgehen zu lernen. Und zu erkennen, dass auch in der Krise und der zwanghaften Wiederholung traumatischer Erlebnisse in und außerhalb der Familie die Chance innewohnt, es anders zu machen, los zu lassen von alten Mustern. Zu vergeben. Sich Neuem zuzuwenden.“ Dabei stellt sie Assoziationen zum politischen System her, wonach auch Demokratie nur funktioniert, wenn die Teilnehmer*innen gelernt haben, mit Zurückweisung umzugehen und die Existenz des Anderen, ja des Inakzeptablen zu akzeptieren. Dazu wäre es nötig, Fremdheit nicht nur an der anderen Person, sondern in sich selbst zu erkennen.

Im Gegensatz zur Demokratie als das Verfahren, das uns politisch diese Unterschiedlichkeit aushalten lässt, verweist sie auf die Logik des Faschismus. Dieser würde ihre Befürworter*innen darin einen, nicht akzeptieren zu können, dass in diversen Gesellschaften das narzisstische Selbstbild permanent in Frage steht. Sie kommen nicht los vom frühkindlichen Anspruch umfassender Verschmelzung, der ihre ersten Liebeserfahrungen geprägt hat – womit wir wieder bei der Oper Tristan und Isolde gelandet wären, diesmal in ihrer politischen Ausdeutung, an dessen Ende nicht Liebe, sondern Einsamkeit als eine Form des Todes im Leben steht.

„Wenn ich liebe, seh‘ ich Sterne. Ist’s getan, seh‘ ich den Mond. Ach, es war nur die Laterne. Trotzdem hat es sich gelohnt“ (Julie Schrader)

Liebe ist eigentlich nicht eine Möglichkeit, sondern eher die Überwindung von etwas, das zuvor als unmöglich erscheinen musste. Und uns erkennen lässt, dass etwas existiert in unserem Leben, das davor keinen Grund hatte zu sein, etwas, das einem zuvor nicht als Möglichkeit gegeben war, meint Badiou. In dieser Richtung argumentiert auch der französische Philosoph Jacques Lacan in „Die Sprache der Liebe“, wenn er von Liebe als etwas spricht, das versucht, „jemanden etwas zu geben, das man selbst nicht besitzt und das der andere auch gar nicht haben will“.

Damit aber gerät noch einmal das prekäre Verhältnis von Wirklichkeit und Projektion in den Blick, zumal vieles dafürspricht, dass es im Sinne der gemeinsamen „Liebeskonstruktion“ Projektionen und nicht die Realitäten sind, die die Beziehung aufrechterhalten. Und wir erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass es sich dabei um einen der stärksten Klebstoffe handelt, der Menschen real und körperlich zusammenbindet. Offenbar ermöglichen es gerade diese Projektionen, die Defizite der realen Beziehungen im Zaum zu halten, weil wir uns viel lieber mit den Beziehungen beschäftigen, die wir gerne hätten und weniger mit denen, in denen wir stecken. Und uns damit abfinden, dass die Beziehungen, die wir in unseren Tagträumen führen, meist befriedigender sind als die unseres tatsächlichen Lebens.

Daraus ergibt sich notwendig ein Frustrationsgefühl, auf das Eichinger mit Albert Camus’s Sisyphos-Erzählung antwortet. Nach ihm sind „Glück und Absurdität Kinder ein und derselben Erde“. Ja, es gehört offenbar zum Wesen der Liebe, dass an sie permanent Erwartungen gerichtet werden, die sie nicht erfüllen kann. Die Entscheidung, die Grenzen laufend auszuweiten, um diesen Erwartungen gerecht zu werden, das ist das eine. Das andere aber ist die nicht versiegende Einsicht, dass selbst Liebende ihren Partnerschaften nicht bedingungslos ausgeliefert sind. Auch sie können einfach aufstehen und gehen. Auch sie können sich verändern.

Eichinger hat auch zum Thema Freundschaft etwas zu sagen. Ihr wohnt ja gerade in Liebesdingen ein schaler Beigeschmack inne, wenn Liebende im Trennungsgespräch irgendwann den rettenden Strohhalm ergreifen, in dem sie einander anbieten, doch immerhin Freunde bleiben zu wollen. Dagegen setzt sie – im Geist von Pythagoras – ein radikales Konzept der Freundschaft als Ausdruck der Gleichheit. Mit ihr gäbe es zwar die Chance, das Leben die Vergangenheit überwuchern lassen. Zugleich fänden sich „im Paradies der Freundschaft….keine verbotenen Früchte, keine verbotene Lust und kein verbotenes Wissen. Überall stehen Bäume der Erkenntnis, sie mögen giftig, ja vielleicht sogar lebensgefährlich sein, aber der Verzehr ihrer Früchte geschieht auf eigene Gefahr.“

Es gibt einen gravierenden Einwand gegen Eichingers Eloge auf die Kunst. Mit ihrem persönlichen Zugang verweist sie auf ein spezifisches Milieu, das es sich leisten kann, einen solch differenzierten Liebesbegriff zu entwickeln. Gleichzeitig hat sie – ausgestattet mit ihrem künstlerisch aufgeladenen Mittelschicht-Liebesvokabular – weitgehend vermieden, unterschiedliche Milieus durchzudeklinieren, um allenfalls draufzukommen, dass Menschen ja nach sozialer Lage sowohl verbal als auch nonverbal sehr unterschiedlich mit dem Phänomen Liebe umgehen. Und dieser Umstand auch ganz unterschiedliche Auswirkungen auf ihr individuelles und soziales Verhalten haben kann.

„Der Tod muss abgeschafft/Werden. Diese verdammte/Schweinerei muß aufhören. /Wer ein Wort des Trostes/Spricht, ist ein Verräter.“ (Bazon Brock)

Den Abschluss des Textes bilden Gedanken rund um Tod und Trennung von einer Person, deren wichtigster Lebenspartner, der Filmproduzent Berndt Eichinger 2011 gestorben ist. Der Wutspiegel, der das Ende einer Liebe begleitet, kann hoch sein. Und doch weiß sie darum, dass „all diese (Selbst-) Aggressionen nichts anderes als die Versuche sind, die eigene Ohnmacht ob des Kontrollverlustes des Todes zu übertünchen.“ Und kommt so zu einer entscheidenden Wendung, wenn sie als durchaus religionskritische Beobachterin die „Vergebung“ als den „größten Befreiungsschlag, als das größte Geschenk sieht, das man sich machen kann. Die kann eine Weile dauern, gesteht sie zu, aber für Rache ist das Leben einfach zu kurz und zu kostbar. Bis dahin, sagt ausgerechnet eine, die eine Vielzahl von Musikbeispielen parat hat, sei es in der Zeit der Trauer nicht möglich gewesen, Musik hören. Auf ihrem hohen Level der Sensibilität wäre es ihr nicht möglich gewesen, die dabei vermittelten Emotionen auszuhalten. „Allerhöchstens Sisters of Mercy“ – einfach, weil sie so monoton und deprimierend sind“.

Die Schlussfolgerungen sind ebenso bedeutsam wie trivial. Wenn wir über Liebe reden müssen wir auch davon reden, dass Leben ewigen Wandel bedeutet. Und es folglich im Leben ebenso wie in der Liebe kein Entkommen gibt vor Tod und Trennung. Sie sind ein eminenter Bestandteil dessen, was wir als Liebe empfinden.

Entgegen Andreas Reckwitz soziologischer Analyse des massenhaften Auftretens von Singularitäten in einer von Diversität geprägten Gesellschaft kommt Eichinger nach ihrem Parforce-Ritt durch das Feld der Liebe zur Erkenntnis, dass sie keine Sehnsucht nach Singularität verspüren würde. Und noch einmal kommt die Ahnung auf, wie politisch Liebe sein kann, wenn sie darauf besteht: „Viel lieber lebe, liebe und überlebe ich die Unvereinbarkeit.“

Wenn mich diese Lektüre etwas gelehrt hat, dann die Einsicht, dass es die Liebe nicht gibt, mit und ohne Neurosen. Dass Liebe vielmehr einen Anspruch, eine Haltung, eine Lebensweise, eine Widerstandsform gegen das Gegebene darstellt, die Liebende als ein einmaliges unverwechselbares Ereignis auf immer neue Weise ausverhandeln müssen. Um dabei mit Badiou mit zu berücksichtigen, dass Liebe eine Form des Denkens als Ausdruck einer „existentiellen Poesie“ sei, die sich zwischen zwei geschlechtlichen Körpern hin- und hergehend entfaltet. Gedanken und Sinnlichkeit also aufs Engste miteinander verbunden werden. Und dass dieses Denken unweigerlich von unvermeidlicher Gewalt geprägt sei: „Die Liebe kann unseren Körper biegen, ihm gewaltige Qualen bereiten.“

Eichinger macht deutlich, dass ihre/unsere Liebesvorstellungen als präformierende Ansprüche einerseits Ausdruck der kulturellen Verfasstheit sind, in der sie gebildet werden – ihre zahlreichen Hinweise auf ein breites künstlerisches Repertoire zeugen davon. Andererseits aber weisen die mit ihnen verbundenen Ansprüche, das Unmögliche möglich zu machen, über dieses Set kultureller Selbstversicherung hinaus. Liebe wohnt damit ein utopisches Moment inne, sowohl was die gegenwärtige Verfassung wie die Zukunftserwartung betrifft. Mit dem Beatles-Zitat „Tomorrow Never Knows“ kommt sie ans Ende. Und fügt dann noch die Inschrift am Grab von Bernd Eichinger „GIVE YOUR BEST“ hinzu:

„Wenn ich traurig bin oder mich hoffnungslos fühle, denke ich daran. Es ist egal, was im schwarzen Loch auf uns wartet. Es ist egal, was war und was kommen mag. Wichtig ist nur, dass wir im Hier und Jetzt unser Bestes geben. Im Leben wie in der Liebe“.

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Noch keine Kommentare

Mehr von Michael Wimmer