Nachdenken über hinterfragenswerte Zuschreibungen

Wie geht es Ihnen, wenn man Sie als typische*n „Nicht-Besucher“ bzw. „Nicht-Besucherin“ anspricht? Fehlt Ihnen etwas, fühlen Sie sich defizitär, fühlen Sie sich überhaupt angesprochen? Oder sind Sie gar stolz darauf? Wie immer Sie zu dieser Zuschreibung stehen, als Nicht-Besucher*in befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Sie teilen diese Schublade mit der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Aber um was geht es eigentlich? Was wird hier nicht besucht? Die Rede ist vom sogenannten „Kulturbetrieb“, damit einer spezifischen Infrastruktur, die unter dem schwammigen Label „KunstundKultur“ spezifische Angebote an die Öffentlichkeit richtet. Gemeinhin werden damit Museen und Ausstellungen, Opern-, Tanz- und Theaterhäuser, Konzertsäle, darüber hinaus Kinos sowie Spezialeinrichtungen wie Literaturhäuser, Design- und Architekturzentren aber auch nicht ortsgebundene Angebote von Kulturinitiativen zusammengefasst. Spätestens mit dem Aufkommen von sub- und alternativkulturellen, jedenfalls freien Kulturszenen lässt sich der „Kulturbetrieb“ immer schwerer fassen; mit immer neuen Innovationen vor allem in den digitalen Medien fransen jegliche Systematisierungsversuche immer weiter aus und machen es schwer, noch einmal eine kategoriale Trennung von Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen vorzunehmen. Und selbst profunde Kenner*innen der kulturellen Szene haben es schwer, Sie mit Ihrem kulturellen Verhalten entsprechend einzuordnen.

Audience Development – Auf der Suche nach dem*der idealen Besucher*in

Gerade weil der Kultursektor und die mit ihm verbundenen Besucher*innen-Gewohnheiten in den letzten Jahren so unübersichtlich geworden ist, hat sich ein neuer Fachzusammenhang des „Audience Development“ herausgebildet. Ursprünglich entstanden im Bedarf, neue, möglichst zielgruppenspezifische Marketingstrategien zu entwickeln, repräsentiert Audience Development mittlerweile eine vorsichtige kulturpolitische Trendwende von der Angebotsseite hin zur Nachfrageseite. Das aber geht nur, wenn man mehr über die Nachfrager*innen weiß. Dazu gehört auch, sie nicht nur als eine anonyme Masse zu verhandeln, der bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden, sondern sie als dynamischen Ko-akteur des kulturellen Geschehens zu begreifen. Entsprechend stieg der Bedarf an Daten, die begründbare Annahmen erlauben, wer, warum und unter welchen Bedingungen bereit ist, das Angebot des Kulturbetriebs anzunehmen – und wer nicht.

Das Ergebnis war eine Vielzahl an Vorhaben zur „Besucherforschung“, die allesamt versuchten, den*die für das jeweilige Kulturangebot typischen Besucher*in zu identifizieren, um ihm*ihr auf möglichst gesicherter Datengrundlage die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen, um seinen*ihren kulturellen Dispositionen möglichst einfach und bequem in der Realität umsetzen zu können. So sehr sich die Studienergebnisse im Detail unterscheiden so eint sie doch ein demokratisches Ärgernis: Sie weisen – übrigens seit vielen Jahren weitgehend ungebrochen – in ihrer Gesamtheit aus, dass sich der*die typische Besucher*in vor allem von öffentlich (co-)finanzierten Kultureinrichtungen vor allem in Punkto Einkommen, Wohlstand, Bildungsvoraussetzung und zunehmend auch Genderzughörigkeit vom Rest der Gesellschaft deutlich abgrenzt. Daran haben ganz offensichtlich die vielfältigen Maßnahmen der kulturellen Bildung und Vermittlung nur peripher etwas zu ändern vermocht. Ein durchaus prekärer Befund, der mittlerweile die Gefahr einer umfassenden Legitimationskrise, etwa im Theaterbereich, erkennen lässt.

Wenn uns die Besucher*innen nichts mehr Neues erzählen, dann richten wir die Scheinwerfer eben auf die Nicht-Besucher*innen

Weil sich aus den gängigen Beforschungen der Besucher*innen nur mehr ein sehr bescheidener handlungsleitender Erkenntnisgewinn hat erzielen lassen, verlagerten sich zuletzt die Hoffnungen auf diejenigen, die das Angebot nicht wahrnehmen, die Nicht-Besucher*innen eben. Möglicherweise stehen sie ja einfach nur vor unüberwindlichen Barrieren, die sie davon abhalten, das Kulturangebot wahrzunehmen. Ausreichend Daten würden helfen, allfällige Hindernisse zu entfernen, um all diejenigen, die sich bislang nicht angesprochen oder gar ausgeschlossen gefühlt haben, doch noch als Besucher*innen gewinnen zu können.

Pragmatisch ist dieser Ansatz gut nachvollziehbar. Vergleichbar mit anderen Wirtschaftssektoren wird hier der Versuch einer Markterschließung gemacht, der darauf setzt, Bedürfnisse zu stimulieren, die von einem scheinbar maßgeschneiderten Angebot befriedigt werden können. Gesellschaftstheoretisch erweist sich dieser Versuch freilich als komplizierter, etwa wenn spätestens mit Pierre Bourdieus „Feinen Unterschieden“ unterschiedlichen sozialen Gruppen ein unterschiedliches kulturelles Verhalten (und damit auch unterschiedliches kulturelles Nachfrageverhalten) zugeschrieben wird, das sich mit dem Wegräumen der einen oder anderen Hürde nicht beliebig verändern lässt. Darauf verweisen durchaus auch marktkonforme Strukturierungsversuche wie die Sinus-Milieu-Studien, die das jeweilige kulturelle Verhalten zu der Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus in Beziehung setzen. Dass das zuletzt vielfach strapazierte Verhalten von sogenannten „Omnivores“, die sich in ihrem kulturellen Verhalten über soziale Grenzen hinzuwegsetzen vermögen, selbst Ausdruck eines spezifischen Milieus darstellt, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt.

Muss der Kulturbetrieb seine Publikumsstrategien ganz neu denken?

Am Wunsch nach weitergehender Harmonisierung der Kulturmärkte in Bezug auf die Beinflussbarkeit des Nutzer*innenverhaltens durch ausgefeilte Marketingstrategien sind diese theoretischen Überlegungen bislang weitestgehend abgeprallt. Die Angst des Kulturbetriebs wächst, der sich mit den Auswirkungen der Pandemie gezwungen sieht, seine Publikumsstrategien völlig neu zu denken, noch weiter an den Rand öffentlicher Aufmerksamkeit gedrängt zu werden. Immerhin stellen für ihn die Nicht-Besucher*innen ein riesiges Reservoir an zumindest potentiellen Nutzer*innen dar, das es gilt, nach dem Ende der Pandemie besser und umfassender als bisher abzuschöpfen.

Die Probleme dabei sind freilich nicht unerheblich. Da ist zum einen der weitgehend anonyme Charakter von Nicht-Besucher*innen, die als überwiegender Teil der Gesellschaft nur schwer zu fassen sind. Zu berücksichtigen ist aber auch der nicht zu unterschätzende Diskriminierungsaspekt: So verweist die Rede über Nicht-Besucher*innen unweigerlich auf bestehende Machtverhältnisse. Menschen deklarieren sich nicht selbst als Nicht-Besucher*innen. Ihnen wird diese Eigenschaft zugeschrieben, und zwar aus privilegierter Sicht derer, die sich als Teil des Kulturbetriebs sehen und aus ihrem kulturellen Verhalten Schlussfolgerungen in Bezug auf das kulturelle Verhalten aller anderen treffen. Damit erhält der zugeschriebene Status als Nicht-Besucher*in nur allzu leicht eine denunziatorische Konnotation: Ihnen fehlte etwas, das der Kulturbetrieb hinsichtlich des Verhaltens für richtig und so für alle Menschen wichtig und erstrebenswert erachtet.

Alle bisherigen Versuche, das amorphe Feld der Nicht-Besucher*innen besser beschreibbar zu machen, sind bislang rasch an ihre Grenzen gestoßen. Bislang existieren nur einige wenige Fallstudien wie die von Martin Tröndle, der sich auf eine sehr eingeschränkte Gruppe wie die von Studierenden ausgewählter Universitäten und deren kulturelles Verhalten konzentriert.

Wollen wir uns – über den einen oder anderen spezifischen Erkenntnisgewinn – über das Verhältnis von Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen verständigen, dann kommen wir um die Frage der gesellschaftlichen Verfasstheit samt den damit verbundenen Kulturvorstellungen nicht herum.

Kultur als Ein- und als Ausschluss-Strategie: Die Geschichte der Nicht-Besucher*innen ist lang

Damit geraten wir unversehens in eine Traditionslinie, in der vor allem der etablierte Kulturbetrieb (in seinen architektonischen, programmatischen oder personellen Erscheinungsformen) einer Elite vorbehalten war, die sich in ihrem kulturellen Verhalten zumindest reserviert, wenn nicht ablehnend gegenüber dem großen Rest der Bevölkerung gezeigt hat. Kein Wunder also, dass sich dieser für das Angebot des Kulturbetriebs nicht interessiert, Berührungsängste entwickelt hat und sich ausgeschlossen fühlt. Also kam es den Betroffenen – mit wenigen individuellen Ausnahmen – erst gar nicht in den Sinn, den Zugang zu suchen. Auf der Grundlage dieses Spannungsverhältnisses gab es immer wieder Versuche der kulturpolitischen Gegensteuerung, zuletzt vor allem entlang der Auflage, sich in besonderer Weise um „Sozial Benachteiligte“, „Bildungsferne“ oder sonst wie „Randständige“ zu bemühen. Gleich wie die Apostrophierten nicht heftig an den Toren des Kulturbetriebs klopften, um Einlass zu erhalten, kamen die kulturpolitischen Forderungen um den Verdacht des Paternalismus nicht herum. Der damit verbundene Unterton, diesen Gruppen fehle etwas bzw. müssten besonders betreut werden, blieb an ihnen kleben.

Für diesen vorsichtigen kulturpolitischen Paradigmenwechsel lassen sich folgende Gründe festmachen:

Sie liegen erstens in wachsenden Legitimationsproblemen vor allem der öffentlichen Kulturpolitik. Geht es nach wenigen verfügbaren Datenlagen, dann ist eine Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht, dass das staatlich geförderte Kulturangebot vorrangig die kulturellen Bedürfnisse derjenigen Rechnung trägt, die ohnehin zu den gesellschaftlich Privilegierten gehören, während diejenigen, die das öffentlich geförderte Kulturangebot nicht wahrnehmen, so auch nicht in den Genuss öffentlicher Maßnahmen kommen können. Damit sprechen sich ausgerechnet diejenigen, die als „Sozial Benachteiligte“ zuletzt in besonderer Weise in den Blick kulturpolitischer Maßnahmen genommen wurden, überproportional für ein Ende des staatlichen Engagements im Kulturbereich aus (mit dieser Ansicht stimmen in besonderer Weise überein mit der Argumentationslinie der Rechtspopulist*innen, die sich für einen Rückzug des Staates aussprechen.

Der zweite Grund ist der zunehmenden Vermarktwirtschaftlichung des Kulturbetriebes geschuldet. Als solcher geriet auch er in den Sog einer umfassenden Wachstumsideologie, die professionelle Beobachter*innen zuletzt sogar von einer „Überhitzung“ bzw. einem „Überangebot des Kulturbetriebs“ haben sprechen lassen. In dem Maß, in dem sich die Konkurrenzverhältnisse samt beträchtlicher Steigerung des Kulturangebots verschärften, intensivierte sich auch der Bedarf nach mehr Besucher*innen und – damit verbunden – mehr Einnahmen. Ein darauf bezogenes Bewertungssystem wurde durch eine zunehmend ökonomisch-gelenkte Kulturpolitik noch einmal befördert: Dort, wo sich künstlerische Qualität immer mehr objektivierbaren Bewertungsverfahren entzog, kamen zunehmend quantifizierbare Kriterien wie Quoten oder die Höhe der Drittmittelakquisition ins Spiel.

Den vergleichsweise geringsten Stellenwert fand zuletzt der demokratiepolitische Begründungszusammenhang, dem noch in den 1970er und 1980er Jahren eine herausragende Bedeutung für die Öffnung des Kulturbetriebs „Kultur für alle“ zukam. Immerhin verstand sich damals Kultur als ein Konstitutiv demokratischer Öffentlichkeit, an der alle in gleichem Maße teilhaben sollten.

Die Trennung zwischen Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen ist eng an die gesellschaftliche Gesamtverfassung geknüpft

Eine adäquate Diskussion um die Bedeutung von Nicht-Besucher*innen wird um die Berücksichtigung der gravierenden Änderungen der gesellschaftlichen Verfassung nicht herumkommen.

Immerhin fällt die Gründung weiter Teile des etablierten Kulturbetriebs, der bis heute die größte kulturpolitische Aufmerksamkeit erfährt, in die Phase einer spätfeudal-organisierten Klassengesellschaft. Die bereits angedeuteten wenigen Gut-Gebildeten bildeten die kulturaffinen Träger*innen des staatlich alimentierten Kulturbetriebs. Ihnen gegenüber stand ein größerer Teil der Gesellschaft, der mit diesem Angebot nur sehr peripher in Berührung kam und dies auch nicht als ein soziales Manko erlebte, und sei es, weil das Gros der Menschen andere Sorgen hatte.

Im Versuch, die Klassengesellschaft zu überwinden, arbeitete sich ab den 1970er Jahren eine (stark sozialdemokratisch geprägte) Reformpolitik ab, die à la longue zu einer weitgehenden Harmonisierung der Gesellschaft führen sollte. Die Grundannahme dabei war, dass eine auf Dauer gestellte wirtschaftliche Prosperität würde zu einer allgemeinen Vermittelständigung führen. Damit ließe sich auch die kulturelle Differenz der Klassengesellschaft einebnen. Vor allem mit dem Ausbau des Bildungsangebotes für alle würde sich unter dem Dach des Kulturbetriebs früher oder später die gesamte Gesellschaft versammeln, um dort gemeinsame kulturelle Werte zu teilen. Also entwickelte sich auf der Grundlage eines ausgebauten Wohlfahrtsstaates seit den 1970er Jahren eine „Neue Kulturpolitik“, die zu einer beträchtlichen Ausweitung des Angebots, das diese kulturellen Werte repräsentierten sollte, führen würde; die Nutzer*innen würden sich dann quasi automatisch einstellen.

Spätestens in den 1980er Jahren war dieser Traum der gesellschaftlichen Harmonisierung ausgeträumt. Es kam zu einer neuerlichen Vertiefung sozialer Ungleichheiten, die sich nicht mehr allein auf den Grundwiderspruch verschiedener Klassen zurückführen lassen. Eine Reihe neuer Bruchlinien wurde sichtbar. Sie verliefen aber nicht mehr nur entlang der Klassenlage, sondern entlang vielfältiger sozialer, ethnischer, religiöser, sprachlicher, gender- und generationsspezifischer aber auch geographischer Grenzziehungen, die zur Zeit in der Neuauflage des Identitätsdiskurs ihren beredsten Ausdruck finden.

Begleitet wird diese Fragmentierung von der Durchdringung des Kulturbetriebs mit einer marktwirtschaftlichen Logik, die die Konkurrenzverhältnisse stimuliert. Auf dieser Grundlage werden ständig neue Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert, die ein gesellschaftliches Auseinanderdriften befördern, das mit staatlichen Mitteln nicht mehr hinreichend kompensiert werden kann. Das Ergebnis zeigt sich in einer wachsenden Pluralisierung, Heterogenisierung und Diversifizierung der Gesellschaften. Dies drückt sich u.a. in der Entwicklung unterschiedlicher Milieus mit jeweils unterschiedlichen kulturellen Interessen/Haltungen/Erwartungen aus.

In diese neue kulturelle Vielfalt ragt erratisch ein historisch gewachsener Kulturbetrieb, der noch nicht in vollem Ausmaß antizipiert hat, dass sich die Gesellschaft rund um ihn seit seiner Entstehung fundamental geändert hat. Entsprechend hallen seine Apelle zur Bedeutung seines Angebots für den Zusammenhalt und für die Weiterentwicklung der Gesellschaft zunehmend ins Leere.

Um die diesbezüglichen Auswirkungen auf den Kulturbetrieb besser verstehen zu können, schlage ich ein Vier-Phasen-Modell vor, deren jede durch eine andere Charakteristik von Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen geprägt ist. Aus historischer Sicht fügen sich diese Phasen freilich nicht nahtlos aneinander; in ihrer Verlaufsgeschichte stellen sie heute ein vielschichtiges Konglomerat dar, deren Akteur*innengruppen die kulturpolitische Entscheidungsfindung auf dem Weg einer Demokratisierung, auch des Kulturbetriebs, je nach den Stärkeverhältnissen zu beeinflussen trachten.

Den Anfang macht ein Ständisches Prinzip: In diesem stellt eine vergleichsweise kleine Elite den kulturellen Führungsanspruch. Aufgrund ihres ausgezeichneten sozialen Standings hat sie eine Deutungshoheit für kulturbetriebliche Entwicklungen inne. Ausgestattet mit den dafür notwendigen Bildungsvoraussetzungen verfügen jene über die für die Nutzung des kulturellen Angebots notwendigen materiellen und immateriellen Ressourcen. Mit ihrer Teilnahme verschaffen sie sich beträchtliche Distinktionsgewinne, indem sie sich gegenüber dem großen als weitgehend „kulturlos“ eingeschätzten Rest der Gesellschaft abzugrenzen vermögen.

Spätestens mit der Teilnahme Österreichs am europäischen Integrationsprojekt hat auch im Kulturbereich das Markt-Prinzip die Oberhand gewonnen. Sein spezifisches emanzipatorisches Potential liegt darin, dass jede*r ungeachtet seiner*ihrer sozialen Zugehörigkeit das Angebot wahrnehmen kann. Umgekehrt zeigen sich die Nachteile in einer weitgehenden Kommodifizierung des kulturellen Angebotes, das die Nutzer*innen auf ihre Rolle als passive Konsument*innen reduziert. Mit seinem Auftreten auf dem Markt bringt der Kulturbetrieb die Begründung für seine staatliche Priorisierung massiv unter Druck. Konnte sich Kunst- und Kulturförderung eine Zeit lang noch als „wertorientiere Marktkorrektur“ (Kurt Blaukopf) legitimieren, so brachte die Auflösung eines allgemein verbindlichen Qualitätsbegriffs (getrieben durch den Kampfbegriff der Avantgarde, wonach alles Kunst sein kann) diesbezügliche Argumentationen an die Grenzen. Sie beschränken sich mittlerweile auf unterschiedliche Produktionsbedingungen aber auch auf einen unterschiedlichen Publikumszuspruch (Quoten).

Die noch größere Herausforderung sowohl für den Kulturbetrieb als auch die Kulturpolitik stellt das Diversitäts-Prinzip dar. Dieses trägt dem Umstand Rechnung, dass die wachsende Heterogenisierung und Pluralisierung der Arbeits- und Lebenswelten der Menschen auch zur Ausbildung ganz unterschiedlicher, auch kulturell definierter Szenen geführt hat, die einem permanenten Wandel unterworfen sind. Als solche lassen sie sich nicht mehr in ein gewohntes hierarchisches Gefüge pressen. Ob sie wollen oder nicht, stehen sie in vielfältigen Bezügen zueinander, überlappen sich, konkurrieren sich, bilden temporäre Überschneidungen oder versuchen sich voneinander abzugrenzen.

Eigentlich gute Voraussetzungen, um dem Demokratie-Prinzip, das den Kulturbetrieb seit mehr als hundert Jahren begleitet und provoziert, gerade jetzt zum Durchbruch zu verhelfen. Und doch finden sich auf die Frage, wie eine demokratisch legitimierte Kulturpolitik darauf reagieren könnte oder sollte, bislang nur sehr wenige wegweisende Antworten.

Als das künftige kulturpolitische Handeln leitend könnte sich die These erweisen, dass die nationalen Gesellschaften nach der Phase der Produzent*innen in die Phase der Rezipient*innen bzw. Nutzer*innen eintreten (engl: „Spectator“, siehe dazu u.a. Anna R. Burzynska (der.) (2016): Jodiden Forces – Ausdiene Partizipation in Theater). Dies könnte bedeuten, die Bestandsinteressen des Kulturbetriebs mit der Neugierde für das Publikum zu verknüpfen. Kultureinrichtungen könnten sich so nicht nur als Orte der Kulturproduktion, sondern darüber hinaus zu Orten der kulturellen Öffentlichkeit weiterentwickeln, die attraktiv sind für Menschen unterschiedlicher Milieus, die dort aufeinandertreffen, einander etwas zu sagen haben, sich austauschen und allenfalls auch ganz konkret etwas mit einander zu tun bekommen.

„Der Bedarf an Interaktion nach der Pandemie wird gigantisch sein“ (Nicholas Christakis)

Geht es nach dem US-Medizinsoziologen Nicholas Christakis, dann wird „der Bedarf an Interaktion nach der Pandemie wird gigantisch sein.“ Dementsprechend könnte sich – so viel lässt sich jetzt schon sagen – das Profil des Kulturbetriebs von einer Kunst-Produktionsstätte zu einem Ort der Vermittlung weiterentwickeln. Dieser Vermittlungsaspekt wird sich freilich nicht darauf beschränken können, junge Menschen als „Publikum von Morgen“ in ein spezifisches kulturelles Verhalten einzuüben, sondern kulturelle Angebote unterschiedlichen sozialen Gruppen mit ihren zum Teil sehr unterschiedlichen kulturellen Selbstverständnissen in gleicher Weise zugänglich zu machen.

Die dort verhandelte Kunst wäre nicht mehr auf ihre Repräsentationsfunktion beschränkt, sondern könnte als Katalysator kultureller Aushandlungsprozesse genutzt werden, in denen sich Künstler*innen und ihr Publikum auf Augenhöhe begegnen. Das hätte wohl auch Auswirkungen auf das künftige Profilbildes von Künstler*innen, die sich viel mehr als bisher im Spannungsverhältnis von Kunstproduktion und Kommunikation mit ihren Nutzer*innen verorten müssen. All das ist nicht neu, sondern von den diversen Strömungen der künstlerischen Avantgarden seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts vorgedacht zumindest am Rand des Kulturbetriebs erprobt worden.

Eine darauf basierende Transformation des Kulturbetriebs hätte beträchtliche Auswirkungen auf eine neue Agenda der Kulturpolitik, der zuletzt die politischen Ziele abhandengekommen sind und also gemeint hat, auf eine genauere Kenntnis des jeweiligen Nutzer*innen bzw. Nicht-Nutzer*innen-Verhaltens verzichten zu können. Ausgestattet mit einem neuen Interesse für das kulturelle Verhalten der Bevölkerung könnte eine bessere Kenntnis und eine stärkere Einbeziehung des Publikums zu einem Demokratisierungsschub führen; diverse Experimente um Beteiligungsmodelle wie Cultural Government oder die Einrichtung von Bürgerforen zeigen die Bereitschaft zu einem breiten kulturpolitischen Diskurs, der weit über das eingeübte Konsument*innen-Verhalten hinausweist. Schon jetzt entstehen in einigen künstlerischen Experimenten neue Orte des öffentlichen Gesprächs, das andernorts weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Zugleich setzt er umfassende Lernprozesse bei den Beteiligten frei, um das Publikum wieder in sein Recht als Co-Akteur, als Co-Createur des Kulturbetriebs zu setzen.

Am Ende dieser Überlegungen soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass technologische Entwicklungen schon immer entscheidende Triebkräfte für die Weiterentwicklung des Kulturbetriebs gewesen sind. Als solche haben sie immer wieder zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Produzent*innen und Rezipient*innen geführt, ja sich als entscheidendes Movens bei der Demokratisierung des Kulturbetriebs verstanden. Dies gilt auch und gerade in der gegenwärtigen Phase der Digitalisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche, die – verschärft durch die Pandemie – auch vor dem Kulturbetrieb nicht Halt machen wird.

In den unendlichen Weiten der digitalen Räume, die mittlerweile von (fast) allen Menschen genutzt werden, verschwimmen die Trennlinien zwischen Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen. Ob sie sich im realen Raum noch einmal in diese überkommene Kategorisierung werden einteilen lassen wollen, das wage ich zu bezweifeln.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

Weitere Blogs, Publikationen und Aktivitäten sind auf Wimmers Kultur-Service zu finden. Hier geht's auf die Website.

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