Zu Jahresbeginn veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung, ein Think-Tank der deutschen Grünen, eine Veranstaltung zum Thema "Kulturkampf – Wie begegnen wir dem Angriff der PopulistInnen auf die offene Gesellschaft?". Der Titel ist nur ein Beleg für eine neue Konjunktur des Begriffs „Kulturkampf“ in der politischen Auseinandersetzung. Er verweist auf eine Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse aufgrund der Zunahme gesellschaftlicher Gegensätze. Da diese aber nicht mehr auf unterschiedliche Interessenlagen von Klassen – die es im aktuellen Diskurs nicht mehr gibt – bezogen werden können, werden die wachsenden Konflikte mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen erklärt und diese gegeneinander in Stellung gebracht.
Das Ergebnis ist eine Kulturalisierung von Politik, die vor allem von PopulistInnen vorgetragen wird. Sie können hoffen, auf der Grundlage einer Verschärfung der von ihnen inszenierten kulturellen Zuschreibungen politisches Kapital zu schlagen.
Politik vs. Religion
Bevor wir diesen aktuell von PopulistInnen okkupierten Begriff weiter ungeprüft verwenden (und damit ungewollt deren Geschäft betreiben) sollten wir versuchen, in einer historischen Herleitung seine politischen Inhalte zu klären. Immerhin stand am Beginn seiner Verwendung eine ganz besondere kulturelle Ausdrucksform, nämlich die Religion, genauer der politische Einfluss der katholischen Kirche im Zentrum der politischen Auseinandersetzung . Es war der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, der im Zuge der deutschen Vereinigung von 1871 versuchte, den überragenden Einfluss der katholischen Kirche auf das damalige politische Geschehen zurückzudrängen. Mit ihm waren sich national- und linksliberale Kräfte einig im Anspruch auf einen säkularen Staat. Diesen galt es gegen die sakrosankt herrschenden antidemokratisch-konservativen Kräfte zu befestigen. Ganz ähnliche Bestrebungen lassen sich in anderen europäischen Ländern festmachen, vor allem in Frankreich mit den Bemühungen des Reformsozialisten Jean Jaurés zugunsten einer strikten Trennung von Kirche und Staat.
In der ausgehenden österreichisch-ungarischen Monarchie gestaltete sich der „Kulturkampf“ vergleichsweise moderater. Immerhin waren weite Teile der herrschenden Aristokratie, mit dem Kaiserhaus an der Spitze, im Einklang mit weiten Teilen der Bevölkerung, tief der katholischen Kirche verbunden. Ein Umstand, der die Republik bis weit ins 20. Jhdt. bestimmen sollte. Die darauf bezogenen Konflikte wurden vor allem auf universitärer Ebene ausgetragen, wo sich katholisch-konservative und national-liberale Burschenschafter zunehmend unversöhnlich gegenüber standen.
Von Konkordat bis Kreisky
Die Besonderheit der österreichischen Variante des „Kulturkampfes“ nach 1918 wurde vor allem in der Schule ausgetragen, wo eine sozialistisch-emanzipatorische Bildungspolitik der katholischen Kirche ihre traditionelle Vormachtstellung streitig zu machen versuchte. Die Auseinandersetzung endete in der Erneuerung eines Konkordats, das die AustrofaschistInnen mit dem Vatikan schlossen, um sich ab 1933 der nachhaltigen Unterstützung der katholischen Kirche bei der Errichtung eines antidemokratischen und autoritären Ständestaates zu versichern. Unterbrochen von der NS-Herrschaft feierte der Einfluss der katholischen Kirche auf das politische Geschehen nach 1945 fröhliche Urständ. Sie beanspruchte für sich, das von den Nationalsozialisten herbeigeführte geistige Vakuum aufzufüllen und damit die junge Demokratie mit ihrem gottgegebenen Wertehaushalt auszustatten. Damit sind ihre ExponentInnen wesentlich für die regressiv-konservative Grundstimmung, die sich u. a. vehement gegen eine junge KünstlerInnen-Generation richtete, verantwortlich zu machen.
Es war dem Sozialdemokraten Bruno Kreisky und seinem katholischen Gegenüber Kardinal Franz König vorbehalten, diesem „Kulturkampf“ in den 1960er Jahren ein Ende zu machen. Diesbezügliche Vereinbarungen ermöglichten eine Reihe von Schulreformen und hielten auch den familienpolitischen Reformversuchen der 1970er Jahre, die sich u. a. an der Abtreibungsfrage entzündete, stand.
Das Ende des „Kulturkampfes“ schien eingeläutet und der Weg frei für eine religionsfreie Ausgestaltung des liberalen Rechts- und Wohlfahrtsstaates. Dieser verwies den Glauben in die Privatsphäre der BürgerInnen. Als säkularer Ersatz kam eine Reihe neuer kulturpolitischer Initiativen zur Förderung eines vielfältigen und zeitgemäßen Kunst- und Kulturschaffens in Gang. (In diese Zeit fällt nicht nur die Definition von Kulturpolitik als umfassende gesellschaftliche Reformpolitik sondern auch die Implementierung weiter Teile des Kunst- und Kulturförderungsinstrumentariums wie wir es bis heute kennen.) Dieser von religiösen Einflüssen befreite Staat sollte getragen sein von einer immer größeren Anzahl an mittelständisch orientierten BürgerInnen, die der Wunsch einte, ein besseres Leben zu führen und den Einfluss der Kirchen auf das politische Leben möglichst zu begrenzen.
All over again: Religion, Staat, Kunst
Die Entwicklung der letzten Jahre hat deutlich gemacht, dass dieser Prozess keiner historischen Logik folgt, sondern mit dem Erstarken einer neoliberalen Wirtschaftslogik seine Umkehrung erfahren hat. Zu konstatieren ist auch in Österreich das Ende der versprochenen umfassenden Vermittelständigung (und damit verbundener sozialer – aber nicht kultureller – Homogenisierung). Stattdessen erleben wir ein wachsendes Auseinanderdriften der Gesellschaft. Dazu kommt das migrationsbedingte Wiedererstarken des religiösen Einflusses auf das öffentliche Gespräch, diesmal vorrangig unter muslimischen Vorzeichen. Soziale Ungleichheit und Religion sind also zurück und mit ihr die Versuchung, daraus noch einmal politisches Kapital zu schlagen.
Die Interpretationsversuche dieses Backlashs verweisen gerne auf Samuel Huntingtons Buch „Clash of Civilizations“ aus 1996. Darin verortet der US-amerikanische Politikwissenschafter bald nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neue globale Trennlinien, nicht mehr entlang unterschiedlicher wirtschaftlicher Regime, sondern vorrangig entlang kultureller und auch religiöser Differenzen. Seine Argumente richten sich vor allem gegen den Westen, dem er ein traditionelles Dominanzverhalten zuschreibt. Huntington kritisiert: "Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt." Er kommt zu dem Schluss, dass der Westen nun zunehmend mit der Gegenwehr derer konfrontiert werde, die an dieser Dominanz bis heute leiden würden.
Die Analyse eines Bedeutungszuwachses kultureller Gegensätze lässt freilich nur zu leicht die ökonomischen Implikationen, die das globale System bis heute bestimmen, in den Hintergrund treten. Und sie suggeriert äußere Bruchstellen, während die Zunahme innerer Konflikte unreflektiert bleibt. Auf der Grundlage finden wir uns unerwartet wieder in einer überschäumenden Kopftuchdebatte, die darauf abstellt, den Skandal sozialer Ungleichheit zu verhüllen. Und erleben die Wiederauflage eines „Kulturkampfes“ unter umgekehrten Vorzeichen. Wieder sind es – zumindest dem Namen nach – vor allem nationalliberale Kräfte, die vorgeben, den Staat gegen den wachsenden religiösen Einfluss, diesmal der muslimischen Religion, schützen zu müssen. In ihrer populistischen Variante geht es ihren Wortführern aber um nichts weniger als um die Aufrechterhaltung einer auf Vielfalt beruhenden liberalen und säkularen Verfasstheit des Staates.
Ihre Bemühungen richten sich im Gegenteil vielmehr auf die Schwächung staatlich garantierter demokratischer Errungenschaften, denen sie noch einmal das Bild einer weitgehend kulturell homogenen Gesellschaft der 1950er Jahre entgegensetzen. In ihrem Furor, den Islam aus Staat und Gesellschaft gleichermaßen zu verbannen, knüpfen sie an die repressive Grundstimmung der Nachkriegszeit an, wo jede nicht kanonisierte Kunstausübung als Schwächung staatlicher Autorität interpretiert und damit von öffentlicher Förderung ausgeschlossen wurde.
Und so wird in der aktuellen Variante des „Kulturkampfes“ nicht nur die Ausübung des Glaubens, sondern jede Kunstäußerung, die nicht den geltenden Homogenisierungsanforderungen entspricht, zur Privatsache erklärt. Dass die aktuellen „KulturkämpferInnen“ die Privatisierung der Kunstförderung nur als einen Nebenschauplatz ansehen, wenn sie zentrale gesellschaftspolitische Fragen wie das Geschlechterverhältnis, Familie, Autorität oder demokratische Verfahren beeinflussen wollen, versteht sich da fast schon von selbst.
Eine adäquate Antwort auf die Frage der Heinrich-Böll-Stiftung wird die Beibehaltung der Trennung von Staat und Religion ebenso zu berücksichtigen haben wie die Verteidigung der staatlich garantierten Grundsätze einer liberalen Demokratie zur Ermöglichung eines ethnisch, kulturell oder religiös vielfältigen und dennoch auf permanenten Austausch und Ausgleich bedachten sozialen Lebens.
Der Beitrag erschien in dieKupfzeitung, derZeitung 161