Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus

Über mögliche Wirkungen der gesellschaftlichen Verfasstheit auf den Kulturbetrieb

1985 meinte der damalige Bundeskanzler Fred Sinowatz, ohne eine umfassende Modernisierung drohe die Abkopplung Österreichs von der Weltwirtschaft, damit das allmähliche Hinabgleiten im Lebensstandard und im günstigsten Fall die Ausgestaltung Österreichs zu einem riesigen Museum. Nun hat Sinowatz als Bundeskanzler nicht wirklich Furore gemacht, als langjähriger Kunstminister der Ära Kreisky aber hat er wesentlich die Kulturpolitik des sozialdemokratischen Reformprojektes bestimmt, etwa indem er das Kunst- und Kulturförderwesen errichten hat lassen, das bis heute die Beziehungen zwischen Staat, Kulturbetrieb und Künstler*innen bestimmt.

Ungefähr zur selben Zeit hat der Philosoph Panajotis Kondylis seine Studie zum „Niedergang bürgerlicher Denk- und Lebensformen verfasst. Darin konstatiert er das Heraufkommen einer Gesellschaft, die sich nicht mehr an Wertvorstellungen einer dominanten bürgerlichen Klasse orientiert, sondern an einem wachstumsgetriebenen Wohlfahrtsversprechen, das in der Einübung einer egalitär-massendemokratischen Konsumhaltung in breiten Teilen der Bevölkerung am Laufen gehalten wird.

Im Nahhinein zeigt sich unschwer, dass damals zwei völlig entgegengesetzte Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung aufeinandergetroffen sind. Da war zum einen eine an die Macht gekommene Sozialdemokratie zu Gange, die vermeinte, entlang mannigfacher Aufstiegsangebote immer mehr Menschen am bislang hegemonialen bürgerlichen Leben beteiligen und so die überkommenen Benachteiligung bislang strukturell diskriminierter Teile der Gesellschaft überwinden zu können. In Opposition zu konservativ-bürgerlicher Vorstellungen der Unvereinbarkeit sozialer Hierarchien sah sich die Sozialdemokratie der 1970er Jahre als eine Solidargemeinschaft, die eine Brücke zu schlagen versuchte zwischen denjenigen, die es bereits geschafft hatten, mit ihren Aufstiegsambitionen ins bürgerliche Milieu überzuwechseln, und denjenigen, die sich noch auf dem Weg dorthin befanden.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit aber drängte bereits damals in eine ganz andere Richtung: Mit einiger Verspätung machte sich auch in Österreich ein Wirtschaftsimperativ breit, dessen Gleichheitsversprechen sich nicht mehr politisch verstand, sondern die Menschen ungeachtet ihrer jeweiligen sozialen Hintergründe auf einen immer größer werdenden Konsummarkt verwies, zu dem per definitionem alle die gleichen Zugangschancen haben. Dort aber sollen nicht mehr unverhandelbare bürgerliche Wertvorstellungen, sondern der Wunsch nach individueller Befriedigung durch Kauf von Waren und Dienstleistungen den handlungsleitenden Maßstab abgeben.

In diesem Sinn kann der Appell von Sinowatz als Vorwegnahme einer politischen Einsicht verstanden werden, dass die politischen Versuche einer allgemeinen „Verbürgerlichung“ mit seiner Amtstätigkeit an ihr Ende gekommen waren. Ganz offensichtlich erwies sich das politische Instrumentarium zur Durchsetzung von für alle verbindlichen Wertvorstellungen einer bürgerlichen Gesellschaft gegenüber postmodernen Relativierungen von Werten entlang der jeweiligen Interessenslagen als zunehmend stumpf. Dass just zu diesem Zeitpunkt erstmals neoliberale Vorstellungen des Primats des Ökonomischen gegenüber dem Primat des Politischen aus den anglo-amerikanischen Ländern auf Österreich überschwappten, ist sicher kein Zufall.

Es sollte seinem Banker Franz Vranitzky als seinem Nachfolger vorbehalten bleiben, nunmehr auch den Staat wie ein Unternehmen zu führen, um ihn kompatibel zu machen für eine wirtschaftsliberale Neuausrichtung der österreichischen Gesellschaft. Geprägt durch den Anspruch ihrer umfassenden Mobilisierung stellten dabei auf Stetigkeit und Sicherheit gerichtete solidarische Gemeinschaften unerwünschte Hindernisse dar; stattdessen wurde die Atomisierung aller Ganzheiten zur Schaffung einer individualisierten Massengesellschaft betrieben. In ihr sollten Güter, aber auch soziale Positionen und damit verbundene Wertvorstellungen ständig neu interpretiert, verändert und ausgetauscht werden können.

Noch einmal eine beträchtliche Beschleunigung erfuhr diese Transformation durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Kondylis weist in seinem Essay „Die kommunistische und die liberale Ideologie“ nach, dass das kommunistische Menschenbild stark von bürgerlichen Wertvorstellungen geprägt war: „…die klassenlose Gesellschaft, in der jeder ungehemmt seine Kräfte würde entfalten können, würde eher von großen und kleinen Shakespeares und Goethes denn von tonangebenden Popstars, sich auslebenden Touristen und Jet-Set-Professoren wimmeln.“

Das aber bedeutet, dass bei aller politischen Gegnerschaft linke ebenso wie rechte Vertreter*innen des Primats bürgerlicher Wertvorstellungen auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs zwar den Kalten Krieg gewonnen, in Bezug auf die Verteidigung bürgerlicher Werte aber ihren wichtigsten Bündnispartner verloren haben. Ihnen blieb danach nur mehr, sich angesichts des verdichtenden Mainstreams verbeliebigender massendemokratischer Denk- und Handlungsweisen ihren Abgesang in Gestalt bürgerlicher Dekadenz zu zelebrieren.

Das Ende der bürgerlichen Kultur

Geht es nach Kondylis, dann hat ausgerechnet der „Zusammenbruch des anthropologisch und geschichtsphilosophisch ausgerichteten Marxismus das Ende der bürgerlichen Kultur besiegelt.“ Seither würden selbst ausgefeilteste Marketingstrategien zur Propagierung kultureller Schönrederei samt ideologischer Selbsttäuschung derer, die unverbrüchlich an die Wiederkehr einer besseren Vergangenheit glauben immer weniger darüber hinwegtäuschen können, dass der Westen seine bürgerlichen Kulturvorstellungen zur Disposition gestellt hat und stattdessen versucht, die ganze Welt mit „massendemokratischem Technizismus und Ökonomismus einerseits und einer hedonistischen Massenkultur des Kitsches andererseits“ zu fluten.

Die Grundlage des damit verfolgten neuen Universalismus bildete die inhaltliche Entleerung ehedem bürgerlicher Wertvorstellungen, die sich fortan auf den Anspruch bloß formel-rechtlicher Gleichheitsansprüche als Garantie von Freiheit beschränkte, die in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedlich interpretiert und damit für die hegemonialen Interessen genutzt werden konnten. Es galt, eine weitgehend werte-lose Massenkonsumkultur durchzusetzen, die zumindest in der ersten Euphorie des „Endes der Geschichte“ als ein umfassender Befreiungsschlag („Ende der Klassengesellschaft“) verkauft werden konnte.

Das Tragische an der Geschichte: Selbst weite Teile einer „Neuen ebenso wie Alten Linken“ wussten diesem globalen Trend zur Freisetzung aller Werte keine politische Alternative entgegenzusetzen. Die damit verbundene politische Selbstknebelung lässt sich gut am Theorem der “Entfremdung“ beschreiben, dem die Menschen angesichts ihrer umfassenden Ökonomisierung noch in den 1970er Jahren ausgesetzt waren. Spätestens mit der Integration Österreichs in die europäische Union wurde der Terminus gerade von linken kritischen Intellektuellen zum Primat “individueller Selbstverwirklichung” uminterpretiert, um damit in weitgehend affirmativer Weise den massendemokratischen Freiheitsansprüchen im neoliberalen Gewand zu ergeben, in der Hoffnung, damit den Fortschrittsgedanken am Laufen halten zu können – und allenfalls sogar Nutzen daraus zu ziehen.

Als der Liberalismus begann, sich gegen sich zu wenden

Dass sich die damals in höchsten Tönen gepriesenen wirtschaftlichen und politischen Prinzipien der von allen Werten befreiten Marktgesellschaften des Westens irgendwann gegen sie selbst wenden könnten, war 1989 für die meisten Beobachter*innen nicht absehbar. Und doch hat sich in den letzten Jahren bei breiten Teilen der haltegrifflosen massenmedial gepolten Gesellschaften des Westens ein tiefes Gefühl der Unsicherheit breit gemacht. Geschürt wird dieses durch eine wachsende Krisenanfälligkeit, die bei aller technologischen Dynamik alle Vorstellungen einer, wenn schon nicht besseren so doch gedeihlichen Zukunft abhandenkommen lässt. Davon sind vor allem junge Menschen betroffen, die täglich mit neuen Hiobsbotschaften über ihre eigenen mangelnden Zukunftsaussichten konfrontiert sind, ohne in ihren isolierten Positionen noch einmal ein stärkendes Gefühl gemeinschaftlicher Betroffenheit als Voraussetzung für politischen Aktivismus entwickeln zu können. Sie baden heute aus, dass die bestimmenden Individualisierungsansprüche alle Versuche einer werte-basierten Vergemeinschaftung konterkariert und sie bestenfalls zum Privatvergnügen einzelner Marktteilnehmer*innen erklärt.

Das Scheitern linker Bewegungen seit 1989 verdankt sich nicht nur dem Verschütten marxistischer Quellen im Osten. Es ist vor allem dem Einstimmen in das Konzert (wirtschafts-)liberaler Weltanschauungen des gesamten politischen Establishments geschuldet, in der der Markt in seiner jeweils aktuellen Stimmungslage zum einzig verbleibenden Maßstab politischen Handelns wird. Und folglich Meinungsbefragungen darüber bestimmen können, ob und wenn ja wie Werte verhandelt und umgesetzt werden (die aktuellen Auseinandersetzungen innerhalb der ÖVP über das Ende der Sanktionen gegenüber Russland sind in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel: Dem vermeintlich unverbrüchlichen Wert des Völkerrechts steht der Freiheitsanspruch gegenüber, im Reservoir zunehmend Sanktionen kritischer Teile der Bevölkerung zu fischen).

Die Rechten als scheinbar einzige Alternative

Mit dieser Preisgabe alternativer Gesellschaftsentwürfe (und damit verbundener Machtansprüche) jenseits individueller Selbstverwirklichungsphantasien — die ideologisch dazu dienen, die Konkurrenzverhältnisse immer weiter zu verschärfen — wurde das Feld der Opposition weitgehend kampflos rechten bis rechtsradikalen Kräften überlassen, die in den letzten Jahren im Zusammenwirken mit allen Arten von identitären Bewegungen, Neo-Nationalist*innen, Illiberalen, Anti-Demokrat*innen, Neo-Autoritären oder Rassist*innen die wachsende Unsicherheit der nationalen Gesellschaften auf ihre politischen Mühlen zu lenken.

Nach vor ein paar Jahren als Exoten am Rand der Gesellschaft verhandelt, bewegen sie sich immer mehr in die Mitte der Gesellschaft und bestätigen damit Kondylis‘ Vermutung bereits aus dem Jahr 2001, dass es genau die liberale, angeblich universell gültige Form der Herrschaftssicherung ist, die sich früher oder später gegen sie selbst wenden würde. Analysen wie die von Branko Milanovic „The Clash of Capitalisms“ machen deutlich, wie weit fortgeschritten die Infragestellung einer universell gerichteten liberalen Hegemonie bereits gediehen ist. Zumal sich der Eindruck allerorten verdichtet, dass die grundstürzenden Probleme unserer Tage auf massendemokratischer Grundlage keine zukunftsweisende Lösung finden werden, um so die Akzeptanz autoritärer Herrschaftsformen aufzubereiten.

Spätestens wenn in einem der großen europäischen Länder autoritäre Kräfte die Macht übernehmen (Italien könnte schon im Herbst eine diesbezügliche Vorreiterrolle einnehmen), wenn die Republikaner in ihrem derzeitigen Zustand 2024 die Präsidentschaft in den USA übernehmen oder wenn das autoritäre China als alsbald führende Wirtschaftsmacht dem Rest der Welt oktroyiert, wie künftig mit den natürlichen Ressourcen umzugehen wäre, dann könnte sich der universelle Fortschrittsanspruch liberaler Regime rasch in Luft auflösen. Noch weiß heute niemand, welche konkreten Ereignisse bereits jetzt konstatierbare Tendenzen der Entliberalisierung einleiten werden. Das bislang sträflich vernachlässigte Thema des anhaltenden Bevölkerungswachstums bei wachsenden Zwang zur Ressourcenreduktion scheint nur eines davon zu sein, das beträchtliche Zweifel aufkommen lässt, sie auf gewaltlose bzw. demokratische Weise lösen zu können. Stattdessen — geht es nach Kondylis — könnten die nächsten Jahre das tragischste und erschütterndste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit einläuten. Das Einzige, das wir bisher sicher wissen ist der Umstand, dass die meisten politisch Handelnden, die sich in ihrer Affirmationsbereitschaft gegenüber der Allmacht eines Oligopols ökonomischer Entscheidungsträger*innen ihre Instrumente der Zukunftsgestaltung aus den Händen haben schlagen lassen, darauf nicht vorbereitet sind.

Nachsatz zu Auswirkungen auf den Kulturbetrieb

Weite Teile, vor allem des staatlich geförderten Kulturbetriebs finden bis heute ihre Grundlage in liberal-bürgerlichen Wertvorstellungen. Das wusste die regierende Sozialdemokratie der 1970er Jahre nur zu gut. Als solche nutzte sie den überkommenen Kulturbetrieb zur Repräsentation bürgerlicher Hegemonieansprüche als nach wie vor bestimmendes Leitmedium gesellschaftlicher Verfasstheit. Um ihrer Modernität zu illustrieren ergänzte sie das traditionelle Setting um eine Auswahl staatlich alimentierter antibürgerlicher künstlerischer Manifestationen.

Was mich beschäftigt, das ist die Frage, welche Auswirkungen der oben angedeutete umfassende gesellschaftliche Transformationsprozess auf die Verfasstheit des Kulturbetriebs hat: Was bedeutet es für diesen, wenn einer ihn tragende Gesellschaft das bürgerliche Werteverständnis abhandenkommt und durch den Anspruch einer Massendemokratie tauglichen Selbstverwirklichung ersetzt wird? Man muss nicht gleich so weit gehen wie Kondylis, der nach dem Ende einer wertebasierten bürgerlichen Kultur die einzig verbleibende Aufgabe von Kultureinrichtungen in der Vermittlung einer markttauglichen „hedonistischen Massenkultur des Kitsches“ sieht.

Dass seine Analyse begründet ist, zeigt sich u.a. daran, dass weiten Teilen der Bevölkerung – jedenfalls jenseits kleiner Expert*innen-Szenen – die Maßstäbe zur Bestimmung künstlerischer Qualitäten weitgehend abhandengekommen sind. Was zählt, das ist nicht mehr die Werthaltigkeit, sondern der schiere (oft schwer erklärbare, in jedem Fall aber quantitativ in Quoten oder Geldwert messbare) Erfolg. Dass wesentliche Wortführer der Kulturpolitik sich mit der Verteidigung bürgerlicher Kulturvorstellungen (die sie in der Regel in einer besseren Vergangenheit verorten) bis heute weigern, die umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen (geschweige denn darauf konzeptionell zu reagieren) zeigen die kulturpolitischen Versäumnisse der letzten Jahre.

Natürlich gibt es nach wie vor mannigfache Bemühungen vor allem einer jüngeren Künstler*innen-Generation, die mit ihrer künstlerischen Arbeit humane Wertvorstellungen zu verbinden suchen. Damit stellen sie sich – entgegen bestehender theoretischer Konzepte wie praktischer Umsetzungsformen – ungebrochen einem Fortschrittsanspruch, der freilich oft nur schwer von individuellen Selbstverwirklichungsphantasien zu unterscheiden ist. Erschwert werden diese Bemühungen durch das Fehlen genuin politischer Konzepte, auf die sich diese ambitionierten Künstler*innen-Generation beziehen könnte. Bislang sind alle künstlerischen Versuche, in dieser historischen Phase umfassender Verunsicherung einen Beitrag „zur Verbesserung der Welt“ zu leisten, auf zivilgesellschaftliches Engagement angewiesen. Dieses kommt spätestens dort an sein Ende, wo Fragen der Veränderbarkeit politischer Strukturen angesprochen sind.

Es ist die Analyse der gesellschaftlichen Gegebenheiten, die über die Zukunft des Kulturbetriebs entscheidet

Das Gefühl zunehmender „Irrelevanz“ des Kulturbetriebs hat mit Corona noch einmal eine unerwartete Steigerung erlebt, zumal mit der Pandemie die Beliebigkeit des Angebotes offenkundig wurde (Die geänderten Publikumsstrukturen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache). Daran ändern selbst die Beharrungskräfte eines verbliebenen bürgerlichen Establishments wenig, sosehr diese auch eine baldige Rückkehr zu einer Normalität fordern, die defacto nicht mehr existiert.

Daraus folgt nicht nur für mich, dass aktuell die zentrale kulturpolitische Aufgabe darin besteht, einen umfassenden Transformationsprozess des Kulturbetriebes anzustoßen, der sich von seinen bürgerlichen Versatzstücken verabschiedet und den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie immer diese interpretiert werden, als Grundlage seines künftigen Handelns Rechnung trägt. In Wahrheit eine völlig unterschätzte Mammutaufgabe, die doch über den Fortbestand des Kulturbetriebs entscheiden wird.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Unter anderem deshalb, weil diese Arbeit auch gesamtpolitisch noch nicht geleistet wurde: Immerhin ist es den linken Bewegungen bislang nicht gelungen, den oben angedeuteten Tendenzen gesellschaftlicher Fehlentwicklung überzeugende Alternativen entgegen zu setzen. Entsprechend schwach erweisen sich demnach die weitgehend „halt- weil wertlosen“ Versuche, eine Kulturpolitik zu formulieren, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Lage wäre, über eine ökonomisch getriebene „hedonistische Massenkultur“ hinauszuweisen und sie darüber hinaus vor autoritären Versuchungen zu schützen.

Das Ergebnis zeigt sich in diesen Tagen in aller Deutlichkeit am Beispiel der Documenta 15. Geht es nach Bazon Brock, dann kommen ausgerechnet an diesem Repräsentationsort von Weltkunst die bürgerlichen Autonomieansprüche der Kunst an ihr Ende und werden durch ein weitgehend anonymes Heer an Kulturalist*innen ersetzt, die aus der Sicht des globalem Südens einem vermeintlich eurozentristischen Kunstbegriff abschwören und sich entlang von „anything goes“ – ganz im Sinn von Kondylis – mit der Produktion von Kitsch begnügen.

Über Kunst als zentrale Referenz von Bürgerlichkeit wurde – im Gegensatz zu Antisemitismus – im Rahmen der diesjährigen Documenta nicht gesprochen. Auch wenn die Veranstalter*innen noch so sehr den Anspruch einer wertebasierten Kollektivität beschwören, das, was vermittelt wird ist am Ende das Gefühl von ästhetischer Beliebigkeit ohne jede Auswirkung auf die gesellschaftlich Verfasstheit (siehe dazu auch: documenta fifteen: Die Kunst, keine zu sein)

Und so spiegelt sich am Ende auch im Kunstbetrieb ein gesellschaftliches Dilemma, das zwischen liberal-bürgerlicher, hedonistisch massendemokratischer und autoritärer Gesellschaftskonzepte, die gerade zunehmend vehement gegeneinander antreten, oszilliert. Während sich die einen in nostalgischen Erinnerungen an eine vermeintlich bessere Vergangenheit ergehen (siehe Sinowatz Sager zur „Ausgestaltung Österreichs zu einem riesigen Museum“), hoffen die anderen auf eine Erfolgsgeschichte in wertebefreiten Marktverhältnissen.

Und doch könnte es sein, dass schon bald die Wortführer einer autoritären gesellschaftlichen Verfasstheit nicht nur die Politik, sondern auch die kulturellen Szenen bestimmen (autoritär verfasste Länder wie Ungarn, Polen oder Russland machen es vor; aber auch in gefestigten Demokratien weist das Überhandnehmen einer „Cancel Culture“ in eine neo-autoritäre Richtung. Europäische Universitäten beginnen bereits Strindberg, Dickens und auch Shakespeare aus ihren Bibliotheksbeständen zu eliminieren. Der Umstand, dass es in den letzten Jahren nahezu ausschließlich rechte und identitäre Kräfte waren, die sich kulturpolitisch artikuliert haben, könnte zu denken geben.

Und unversehens könnten wir uns schon bald wieder dort finden, wo im 19. Jahrhundert das Bürger*innentum als eine gesellschaftliche Minderheit in der Behauptung seiner Universalität aufgebrochen ist, um sich an die Hebel der Macht zu kämpfen. Und sich dabei weitgehend hemmungslos künstlerischer Repräsentationsformen bedient hat.

ejaugsburg/pixabay https://pixabay.com/de/photos/umweltschutz-naturschutz-%c3%b6kologie-326923/

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Frank und frei

Frank und frei bewertete diesen Eintrag 05.09.2022 12:24:32

42 Kommentare

Mehr von Michael Wimmer