Als dem Kulturbetrieb das Publikum abhandenkam und die Kulturpolitik noch einmal die Chance erhielt, sich neu zu orientieren
Zuerst wurden Events mit mehr als tausend Menschen untersagt, dann waren es nur mehr hundert und schon wenige Tage später musste der Veranstaltungsbetrieb per Regierungsverordnung überhaupt eingestellt werden. Seit her bleiben alle Kultureinrichtungen bis auf weiteres geschlossen. Ihre Betreiber*innen müssen sich auf eine längere publikumslose Zeit gefasst machen; wann wieder aufgesperrt werden kann, steht derzeit in den Sternen. Die Interessenvertretungen erheben gerade erste Daten und Fakten, was das für die Einrichtungen finanziell bedeutet. Meine Vermutung aber geht dahin, dass es beim finanziellen Schaden nicht bleiben wird. Vielmehr deutet sich schon jetzt eine Änderung des Verhältnisses zwischen Kulturschaffenden, Kulturveranstaltern und Publikum an, die auch die Zeit nach Abflauen der Pandemie den Kulturbetrieb nachhaltig beeinflussen wird.
Die Gesundheits-Infrastruktur muss intakt und offenbleiben – Der Kulturbetrieb kann zusperren
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Aber der Reihe nach: Das, was wir zur Zeit erleben, führt uns noch einmal in aller Brutalität die gesellschaftlichen Wertigkeiten vor Augen: Alle Maßnahmen zur Einschränkung der (hoffentlich zeitlich begrenzten) persönlichen Bewegungs- und Freiheitsrechte laufen auf eine bestmögliche Weiterführung des Gesundheitswesens, insbesondere der Spitäler hinaus. Niemand käme auf die Idee, diese zu schließen (um dafür beispielsweise den Kulturbetrieb offen zu halten). Die bestehende Gesundheits-Infrastruktur wird als Garant dafür gesehen, dass möglichst viele Menschen unbeschadet diese Phase der gesundheitlichen Gefährdung überstehen. Also ordnet sich auch der Kulturbetrieb dieser staatlichen Priorität weitgehend kritiklos unter. Auch den Künstler*innen bleibt nichts anderes übrig, als sich den geltenden Verordnungen zur persönlichen Selbstisolation zu unterwerfen. Ähnliches ließe sich über die Sicherheitskräfte sagen, die im öffentlichen Leben so präsent wie nie zu vor sind, um die Einhaltung der von der Regierung oktroyierten Maßnahmen zu garantieren. Keine Rede davon, Polizeistationen und Kasernen zu schließen, ganz im Gegenteil.
Ambivalenter sieht es schon bei der Aufrechterhaltung des staatlichen Bildungsbetriebs aus. Die Schulpflicht der 8 – 15jährigen wird nicht ausgesetzt. Die Schulen werden auch nicht geschlossen sondern mutieren zu virtuellen Lernzentren. Dazu wird der Ort des Unterrichts vom Klassenzimmer ins Wohnzimmer der Schüler*innen verlagert; die Schule beschränkt sich auf Betreuungsleistungen unbeaufsichtigter Kinder und überlässt es darüber hinaus weitgehend den Familien, den Unterricht anhand von digital vermittelten Vorgaben fortzusetzen.
Während der Staat in Bezug auf die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs bis dato einen schlampigen Kompromiss verordnete, verhielt er sich gegenüber dem Kulturbetrieb eindeutig. Der wurde einfach und weitgehend ersatzlos geschlossen. Dies erschien den politisch Verantwortlichen umso leichter, als der Besuch von Kulturveranstaltungen – im Unterschied zur Schule – ja ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgt und daher der Staat nicht in die Pflicht genommen werden kann, für die Bürger*innen ein Kulturprogramm aufrecht zu erhalten.
Also kam vor allem ausübenden Künstler*innen von einem Tag zum anderen „ihr“ Publikum abhanden. Museen wurden geschlossen, Musiker*innen und Schauspieler*innen fanden sich in leeren Sälen wieder und mit der Absage der großen Sommerfestivals müssen sich die potentiellen Besucher*innen darauf einstellen, für einen längeren Zeitraum „kulturabstinent“ zu bleiben.
Eine breitere öffentliche Diskussion, die Verunmöglichung der persönlichen Begegnung zwischen Kulturschaffenden und Kulturrezipient*innen würde á la longue die nationalen Gesellschaften nachhaltig beschädigen, sind mir bislang entgangen. Im Zentrum der kulturpolitischen Forderungen stehen die Existenzsorgen der Künstler*innen. Während Lebensmittelgeschäfte geöffnet bleiben, ringen Erinnerungen an überkommene rhetorische Floskeln wie die des legendären Nürnberger Kulturdezernenten Hermann Glaser „Kultur als Lebensmittel“ heute bestenfalls ein müdes Lächeln ab. Heute ist zuallererst Abstand-Halten angesagt.
Die Kulturpolitik versucht, den finanziellen Schaden für die betroffenen Künstler*innen und Kultureinrichtungen zu begrenzen
Wer im Moment vor allem aufschreit, das sind vor allem die ausübenden Künstler*innen, denen von einem Tag zum anderen „Ihr“ zahlendes Publikum abhanden gekommen ist. Sie fürchten heute mehr denn je um ihre schieren Existenzgrundlagen und wenden sich an die staatlichen Entscheidungsträger*innen – die mit ihren Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung diese Misere ja überhaupt erst hervorgerufen haben. Die staatliche Kunst- und Kulturverwaltung reagiert mit einer Reihe von Unterstützungsmaßnahmen, etwa im Rahmen des Künstler*innen-Sozialhilfefonds, um bedrohten Künstler*innen ein berufliches Überleben in dieser schwierigen Phase zu ermöglichen. Daran beteiligen sich auch die Länder; Wien hat gerade ein Sonderprogramm zur Vergabe von Arbeitsstipendien aufgelegt. Dazu erhalten die großen staatlichen Kulturtanker die Möglichkeit, ihrer Mitarbeiter*innen zur Kurzarbeit anzumelden; allein bei den Bundestheatern sind das mehr als 2000 Beschäftigte.
Um zumindest partiell den Verlust eines physisch präsenten Publikums wett zu machen, werden zurzeit eine Vielzahl an digitalen Plattformen errichtet, mit Hilfe derer Künstler*innen ihre mediale Präsenz aufrecht erhalten können. Im Rahmen mehr oder weniger origineller Formate wenden sie sich an ein virtuelles Publikum, um so mit dem Anspruch von „Jetzt erst recht!“ den Anschein einer Normalität aufrecht zu erhalten. Ihre Botschaften reichen vom Unterhaltungsangebot zur Zerstreuung der zu Hause kasernierten Menschen bis hin zu künstlerischen Experimenten, die in einem überbordenden Markt zu Normalzeiten kaum Aufmerksamkeit gefunden hätten. Dabei ist ein gewisser manisch-depressiver Unterton nicht überhörbar, wenn einerseits auf die Rettungsfunktion von Kultur in einer bedrohten Welt verwiesen und andererseits die mangelnde Beachtung beklagt wird.
Besonders hervortun können sich in dieser Phase die großen Kultureinrichtungen, die die Zeit nutzen, ihr Angebot in den digitalen Raum zu verlagern, um dort ein möglichst attraktives Angebot zu entwickeln. Unter der Devise „Kunst- und Kulturvermittlung goes virtual“ mutieren diese Einrichtungen als potentielle Vorreiter für neue Kommunikations- und Verkehrsformen zwischen Anbietern und potentiellen Nachfragern. Mit einer breiten Akzeptanz dieser Formate wird sich – weit über den aktuellen Anlassfall hinaus – entscheiden, welche Auswirkungen die Entwicklung auf die Produktions- und Rezeptionsverhältnisse innerhalb des Kulturbetriebs haben werden. Vieles spricht dafür, dass hier gerade ein Quantensprung vollzogen wird, der drauf und dran ist, die Kulturlandschaften nachhaltig zu verändern.
Der steinige Weg von einer angebots- zu einer nachfrageorientierten Kulturpolitik
Dazu eine grundsätzliche Überlegung: Im Rahmen einer traditionell angebotsorientieren Kulturpolitik, die auch für Österreich die längste Zeit handlungsleitend war, stand immer schon der, seltener die Künstlerin im Mittelpunkt der kulturpolitischen Bemühungen. Es galt, adäquate Produktionsbedingungen in gesicherten Räumen sicher zu stellen, in denen Künstler*innen ihre künstlerischen Qualitäten entfalten konnten. Angesichts der Existenz eines kulturaffinen Bildungsbürgertums würde sich das Interesse potentieller Nutzer*innen an ihren Hervorbringungen dann schon irgendwie automatisch ergeben.
Kulturpolitik konnte sich darauf beschränken, in Sonntagsreden die eminenten Beiträge des Kunstschaffens für den einzelnen ebenso wie für die gesamte Gesellschaft herauszustreichen. Mit dem Schwächeln eines bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses in den letzten Jahren erreichten diese Botschaften immer weniger Menschen. Dieser Zusammenbruch einer kulturpolitischen Öffentlichkeit stellt heute eine eminente Gefahr für den Fortbestand eines staatlich alimentierten Kulturbetriebs dar, der gegen wachsende Vorbehalte in Gesellschaft und Politik noch einmal in ganz besonderer Weise legitimiert werden muss. Und so schallt es gerade in diesen Tagen noch einmal aus allen Kanälen, wie wichtig das Kunst- und Kulturschaffen für uns alle bei der Bewältigung der Krise wäre.
Mit ihren vollmundigen Behauptungen müssen die Wortführer*innen mit der schieren Tatsache kämpfen, dass – selbst nach 50 Jahren einer angebotsorientierten Kulturpolitik – nach wie vor weite Teile der Bevölkerung meinen, ohne ein staatlich gefördertes Kulturangebot auskommen zu können. Es sind immer dieselben 5 – 8 Prozent der Bevölkerung, die regelmäßig Gebrauch davon machen, während beim überwiegenden Teil dieses Angebot spurlos vorbeigeht, ohne dass die Menschen dies als eine nachhaltige Beeinträchtigung ihrer Lebensweise empfinden würden. Ihren diesbezüglichen Bedarf decken sie am internationalen Markt der Kulturindustrie ab, der sich bereits in den letzten Jahren vehement in Richtung digitaler Formate verschoben hat.
Angesichts dieser fortbestehenden Ungleichverteilung darf freilich nicht der Kulturpolitik im engeren Sinn die alleinige Schuld gegeben werden. Die Gründe liegen wohl zu aller erst daran, dass Kunst und Kultur selbst in fortschrittlichen politischen Kreisen nicht angekommen sind. Auch von linken Politiker*innen als Luxusproblem einer liberalen Elite zur Seite geschoben, verlieren sich spätestens seit den 1970er Jahren die Spuren eines gemeinsamen Projekts von Kultur und Politik, das geeignet gewesen wäre, die individuelle und kollektive Emanzipation derer, die als Unterprivilegierte von einem konservativen Kulturbetrieb systematisch ausgeschlossen wurden, nachhaltig voranzutreiben.
Statt wirksamer kulturpolitischer Maßnahmen zugunsten derer, die von keinem bildungsbürgerlichen Kulturverständnis geplagt waren, sollten mit dem Überhandnehmen neoliberaler Vorstellungen auch im Kulturbereich ausschließlich die Marktkräfte dafür sorgen, den Zugang zum Kulturbetrieb für alle (die es sich leisten können und leisten wollen) sicher zu stellen.
Die damit verbundenen Ausschlusskriterien decken sich weitgehend mit den Ergebnissen einer Bildungspolitik, die in ihrer überkommenen Selektionsfunktion bis heute jungen Menschen ganz unterschiedliche Chancen im Zugang zum öffentlichen und damit auch kulturellen Leben zuweist. Von einer Kulturpolitik, die lange Zeit als bloßer Wurmfortsatz der Bildungspolitik verhandelt wurde, zu verlangen, gegen diese strukturelle Verungleichung der Menschen kompensatorisch wirksam sein zu können, stellt eine Überforderung dar.
Die (potentiellen) Nutzer*innen finden keine Identität, damit keine Öffentlichkeit und verfügen so auch über keine kulturpolitische Stimme
Und doch könnte es gerade jetzt Sinn machen – zugunsten einer besseren Verankerung von Kunst und Kultur – im Rahmen der demokratischen Verfasstheit, die Krise zu nutzen, und noch einmal die Blickrichtung zu ändern. Auch wenn es für manche blasphemisch klingt: Wie wäre es, Künstler*innen zumindest einen Moment davon zu befreien, sich mit ihrem Argumentations-Arsenal zur Rettung der Gesellschaft Legitimation zu verschaffen. Sondern die Beweislast umzudrehen und auch einmal danach zu fragen, was diejenigen, an die sich das Kulturangebot richtet, für diese zu leisten vermögen.
Spätestens mit einer solchen Kehrwendung wird klar, dass es gar nicht so leicht ist, die potentiellen Nutznießer*innen in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt erst einmal begrifflich zu fassen. Am einfachsten funktioniert das ex negativo. Ihre Gemeinsamkeit besteht zu aller erst darin, keine Künstler*innen zu sein: Wahlweise als kulturell Interessierte, Besucher*innen, Zuschauer- und Zuhörer*innen, Nutzer*innen, Teil eines Publikums oder aber auch als Nicht-Besucher*innen apostrophiert finden sie sich in einer anonymen Gruppe von Menschen, die Kulturpolitik in den letzten Jahren mit wenigen Ausnahmen systematisch vernachlässigt hat.
In ihrer diffusen Vereinzelung vermögen die so Bezeichneten in der Regel keine meinungsbildende Öffentlichkeit zu bilden. Bestenfalls indirekt vertreten durch eine in Österreich nur sehr schwachbrüstige Kulturkritik wird sie in erster Linie in ihrer traditionellen Funktion als „Empfänger“ wahrgenommen, die – über den Kauf von Eintrittskarten hinaus – erst gar nicht als kulturpolitischer Akteur wahrgenommen wird. Also bilden sie auch keinen nennenswerten Faktor in den Überlegungen staatlicher Kulturpolitik, die –allein schon in Ermangelung entsprechender Datenlagen – weiter ihre angebotsorientierte Haltung verfolgt.
Die Frage, ob diese Gruppe ihrerseits Ansprüche an den Kulturbetrieb und damit auch an die künstlerische Produktion stellen könnte, wird in einer solchen kulturpolitischen Traditionslinie erst gar nicht gestellt (Selbst so positive Ausnahmen wie das aktuelle Programm der Stadt Wien zur Errichtung von „Stadtlaboren“ in Teilen der Stadt mit mangelnder kultureller Infrastruktur verabschieden sich nur sehr mühsam von der traditionellen Angebotsorientierung.
Institutionell – und mit halbherziger staatlicher Unterstützung – ist man da oder dort schon etwas weiter. Zumindest ein Teil des Kulturmanagements hat realisiert, dass der Fortbestand dieser strukturellen Schieflage ihre Unternehmen auf Dauer gefährden könnte. Neben einer stetigen Erweiterung der Marketing-Abteilungen (die sich vor allem darum bemühen, ihre Stammzielgruppen bei Laune zu halten) entstanden in den letzten Jahren vielfältige Bildungs- und Vermittlungsinitiativen vor allem in und rund um die großen Häuser, in der Hoffnung, damit über ein verlässliches Stammpublikum hinaus, neue Kommunikationsformen zu entwickeln und bislang abseitsstehende Menschen für ihre Angebote zu interessieren.
Zumindest relativiert werden diese Bemühungen um ein neues „Ernstnehmens“ potentieller Nutzer*innen durch einen Fortbestand einer missionarischen Haltung. Nur die wenigsten Initiativen- soweit ich das jedenfalls sehen kann – gehen soweit, nicht ihre Bestände sondern das, was die Menschen mitbringen, zum Ausgangspunkt einer „Kommunikation auf Augenhöhe“ und damit gemeinsamer kultureller Aktivitäten zu machen. Noch seltener sind bislang Beteiligungsmodelle, die den „Nachfrager*innen“ als eminentem Teil des Kulturbetriebs aktive Mitgestaltung bei der programmatischen und strategischen Ausrichtung gewähren würden. Dementsprechend unterentwickelt sind – zumal in Österreich – kulturelle Partizipationsformen, die etwa im Rahmen von „Cultural Governance“ die Mitsprache der Vielen bei kulturpolitischen Entscheidungen ermöglichen würden.
Also bleibt in diesen Tagen unser Blick starr gerichtet auf das Schicksal all der Künstler*innen, die von einem Tag auf den anderen ihres Publikums beraubt wurden. Und wir erkennen in ihnen eine sehr ausgesetzte Berufsgruppe, die in weiten Teilen ohne staatliches Engagement nicht überlebensfähig wäre. Die Gründe liegen auf der Hand: Mit ihren persönlichen Dispositionen haben sie sich für eine, in weiten Teilen nicht marktkonforme Lebens- und Arbeitsweise entschieden, die sich vom großen Rest beträchtlich unterscheidet. Viele von ihnen wären aufgrund ihrer persönlichen Charakteristik erst gar nicht in der Lage, einen Routine-Job im weiten Land des Wirtschaftslebens, der für alle anderen eine Selbstverständlichkeit darstellt, auszufüllen (dass sich auch in diesem Bereich die beruflichen Sicherheiten verflüchtigen, zeigen die hochschnellenden Arbeitslosenzahlen).
Die herrschende Angebotsorientierung der Kulturpolitik macht in der Krise die Prekarität von Künstler*innen besonders deutlich
Daraus ergibt sich eine prinzipielle Prekarität der künstlerischen Produktionsverhältnisse abseits der Arbeits- und Lebensverhältnisse des großen Restes der Bevölkerung (in denen der individuelle Erfolg einzelner Künstler*innen nur die Ausnahme von der Regel darstellt). Künstler*innen merken heute besonders schmerzlich, wie ausgesetzt sie sind unter ihrer, von der Kulturpolitik aufgezwungenen Käseglocke und wie weit weg von dem, was den überwiegenden Teil der Bevölkerung umtreibt. Die negativen Folgen zeigten sich bereits vor der Pandemie-Krise in Form von Angriffen rechtspopulistischer Kräfte, die als falsche Wortführer all derer auftreten, um die sich Kulturpolitik in den letzten Jahren nicht gekümmert hat und die als destruktive Antwort darauf das staatliche Engagement zugunsten künstlerischer Produktion gleich ganz in Zweifel ziehen (wohin das sehr rasch führen kann, ist in Ungarn und anderen mittel-ost-europäischen Ländern zur Zeit hautnah mitzuerleben).
Also muss heute staatliche Kulturpolitik noch einmal mit aller Kraft in den Ring steigen, um mit Hilfe immer neuer Argumentationslinien die Bevölkerung davon überzeugen versucht, dass künstlerische Produktion dazu angetan ist, der Gesellschaft als Ganzes einen Dienst zu erweisen. Wenn sie dabei rasch an ihr Ende kommt, dann hat das auch damit zu tun, dass Kulturpolitik die Früchte dieser einseitigen Prioritätensetzung erntet. Heute rächt sich, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber den potentiellen Nutzer*innen systematisch vernachlässigt hat. Sie darf sich also nicht wundern, wenn sie in breiten Bevölkerungsteilen (die zurzeit wahrlich andere Sorgen haben) immer weniger Unterstützung bei der Aufrechterhaltung des Kunst- und Kulturbetriebs erfährt. Vereinfacht gesagt: Bereits lange vor der Krise fühlte sich eine große Mehrheit der Bevölkerung von den Tätigkeiten von Künstler*innen nicht angesprochen; warum sollten die Menschen ausgerechnet jetzt, wo sich die persönlichen und beruflichen Umstände für sie zuspitzen, eine besondere Lanze für die Fortsetzung des Kunst- und Kulturschaffens brechen?
Erschwerend kommt dazu, dass mit der Schließung der kulturellen Infrastruktur auch alle Initiativen zur Kunst- und Kulturvermittlung an ihr vorläufiges Ende gekommen sind. Nur einige wenige können ohne Schmälerung der ursprünglichen Absichten in den digitalen Raum verlagert werden. Dort aber dominiert mittlerweile ein extrovertierter Künstler*innen-Typ, der meint, von seinen Emanationen hinge das Schicksal von uns allen ab.
Dahinter aber werden möglicher Weise bereits die Weichen für ein neues Verhältnis zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen im digitalen Raum gestellt. Immerhin bietet dieser Raum – zumindest prinzipiell – ganz neue Möglichkeiten der Interaktion, die sich dem eindimensionalen Sender-Empfänger-Prinzip verweigert und statt dessen Möglichkeiten der aktiven Beteiligung aller ermöglicht, um so die traditionellen kategorialen Grenzen zwischen diesen beiden Hauptakteursgruppen des Kulturbetriebs zumindest partiell aufzulösen (Es ist sicher nicht verwunderlich, dass in diesen Tagen der Kauf von E-Books einen Hype erlebt: Das ist durchaus im Sinn der Zwischenhändler (inklusive amazon), die sich damit beträchtliche Verpackungs- und Transportkosten sparen. Und eröffnet darüber hinaus ein neues, auch interaktives Leseverhalten).
In der Zwischenzeit haben wir – in unseren Wohnungen auf uns selbst gestellt – noch einmal die Gelegenheit, ganz grundsätzliche darüber nachzudenken, was wir vom Kulturbetrieb erwarten. Da gibt es in diesen Tagen sicher einen erhöhten Zerstreuungs- und damit Unterhaltungsbedarf, der uns zumindest für kurze Zeit unsere Sorgen vergessen machen hilft. Und Künstler*innen tun – schon aus schieren Selbsterhalt – ihr Bestes, um diesen zumindest digital zu befriedigen.
Da ist aber auch die Möglichkeit, in einem Moment des Innehaltens sich noch einmal intensiver mit sich selbst zu beschäftigen. Eingedenk der Tatsache, dass wir uns in der Krise nicht mehr beliebig „entgehen können“, würde uns vielleicht sogar so manche „Kulturabstinenz“ gut tun, weil diese – von der Vielfalt kultureller Angebote unabgelenkt – eine Qualität des Zwiegesprächs mit sich selbst erlaubt, für die wir uns in normalen Zeiten nicht die Zeit nehmen.
Ausgestattet mit diesbezüglichen Erfahrungen könnten wir uns ja nach der Krise neu zu Wort melden, was wir uns künftig vom Kulturbetrieb erwarten (und die Kulturpolitik würde uns vielleicht sogar da und dort zuhören).