Noch ein Unwort des Jahres: KunstundKultur – Über eine spezifische Form der Denkfaulheit im Kunstbetrieb

Man soll den Menschen kein X für ein U vormachen. Diese Forderung scheint in Zeiten von Fake-News zumindest relativiert. Zum Prinzip erhoben aber hat sie ein Slang, der seit einiger Zeit vor allem im Kunstbetrieb grassiert. Seine Vertreter*innen halten sich nicht lange auf mit der Frage, ob nun ein X oder ein U zu verwenden ist, ob man beide gleichsetzen, addieren oder multiplizieren muss. Wurscht, es interessiert sich ohnehin niemand für exakte Daten. Die Beschäftigung mit Kunst ist eben keine exakte Wissenschaft und der Geist, der weht, wohin er will.

Nun könnte man einwenden, in der Not scheint jedes Mittel recht. Immer mehr Künstler*innen fühlen sich nicht erst seit der Pandemie in ihrer Existenz bedroht. Also versuchen sie, mit allen möglichen Argumenten die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, wie wichtig ihre Tätigkeit ist. Manche schrecken dabei nicht zurück, selbst rassistische Stereotype zu strapazieren, wenn in diesen Tagen noch einmal ein Zitat des hochgepriesenen Maestro Mariss Jansons im Tagesspiegel kursiert, wonach der „Mensch ohne Kunst zum Affen würde“.

Diese zutiefst diskriminierende Rhetorik läuft darauf hinaus, das eigene künstlerische Tun als bestimmend für die Kultur als Ganzes zu erhöhen (und damit allen, die das nicht zu schätzen wissen, das Menschsein abzusprechen). Die Frage, wie aber der Beitrag der Kunst für die Kultur konkret aussieht, muss in einem Milieu der Selbstüberschätzung erst gar nicht mehr beantwortet werden. Es hat sich irgendwie von selbst zu verstehen. Herausgebildet hat sich dafür ein Wortungetüm namens KunstundKultur. In ihm sollen sich beide Begriffe verstärken, ohne dass da noch jemand Zweifel äußern könne oder wollte, um was es dabei eigentlich geht. Kunst ist wichtig, Kultur ist wichtig, also muss KunstundKultur noch viel wichtiger sein. Die Bombastik der rhetorischen Figur kann dann schon mal die Mühe des Nachdenkens ersparen, welche Hilflosigkeit, sich gesellschaftlich zu verorten, dahinter steht.

Also noch einmal: Kunst ist nicht gleich Kultur

Ich habe mich dazu bereits 2015 kritisch mit dieser Form der begrifflichen Hypostasierung auseinandergesetzt. Eine solche scheint mir mittlerweile als symptomatisch für die Denkverweigerung in Teilen der Szene zu sein (Auf Nachfrage bekomme ich dann gerne die Antwort: „Das versteht sich doch von selbst“ oder „Die Menschen wissen sehr wohl was damit gemeint ist“) Anlässlich der Präsentation des Sammelbandes „Kann Kultur Politik? – Kann Politik Kultur?“ habe ich deshalb ein Manifest erarbeitet, in der Hoffnung, damit für etwas mehr Trennschärfe zwischen diesen beiden Begriffen sorgen zu können. Ich wollte damit Argumente zusammentragen, die belegen, dass die Bestimmung von Kunst und Kultur als nicht weitgehend synonym, sondern ganz im Gegenteil als antagonistisch zu verstehen ist. Das aber verlangt uns zuallererst die Entscheidung darüber ab, worüber wir reden wollen: über Kunst oder über Kultur.

Der Überschwang der eigenen Bedeutungszuschreibung unter dem Dach von KunstundKultur ist offenbar so verführerisch, dass sich jeglicher Differenzierungsbedarf scheinbar von selbst erledigt. Anstatt über Konzert, Theater, Kabarett, Streaming, YouTube, Mode, Architektur, Volkstanz oder Feuilleton zu reden, wird jetzt also nur mehr über KunstundKultur geredet. Beschworen wird damit eine unhintergehbare Systemrelevanz zumindest der Wortführer*innen, die darauf einen moralischen Anspruch an Politik und Gesellschaft begründen, ihre Existenzgrundlagen sicher zu stellen. Bei genauerem Hinsehen läuft die Verwendung durch diejenigen, die sich unter das Dach von KunstundKultur geflüchtet haben, darauf hinaus, dass irgendjemand gewährleisten soll, dass alles so bleiben soll, wie es einmal war. Geht es aber nach den Reaktionen der Adressat*innen diesbezüglicher Appelle, dann passiert gerade das Gegenteil. Sie spüren intuitiv die Missachtung, die ihnen mit einem solchen Kauderwelsch entgegengebracht wird. Immer mehr Menschen reiben sich die Augen und denken sich: Wovon reden die eigentlich? Und was hat das mit mir zu tun?

Folglich läuft meine Vermutung darauf hinaus, dass die unreflektierte Verwendung der Beschwörungsformel KunstundKultur das Gegenteil seiner Absicht bewirkt. Mit der Unfähigkeit (bzw. Unwilligkeit), die Dinge im Kunstbetrieb beim Namen zu nennen und sich statt dessen in einen wolkigen Begriff zu retten, bestätigen die Redner*innen bestenfalls den Eindruck ihrer Irrelevanz: Entsprechend der Reaktion derer, die in die moralische Pflicht genommen werden sollen: „Die wissen ja nicht einmal, was sie sagen wollen; folglich kann es nicht wichtig sein.“

Zum Ausdruck kommt dadurch ein wachsender Entfremdungsprozess, der Künstler*innen und mit ihnen den gesamten Kunstbetrieb zunehmend an den Rand der Gesellschaft drängt. Die vielfältigen Initiativen, die sich in Reaktion darauf an die Neukonzeption von Kulturpolitik machen, haben das erkannt und wollen dem entgegenwirken. Voraussetzung dafür ist freilich, noch einmal etwas Ordnung in die wesentlichen Begriffsbestimmungen zu bringen.

Die Unfassbarkeit der Kunst

Das ist sicher am schwierigsten, wenn es um den schillernden Begriff der Kunst geht. Immerhin gehört es zu den Grundvoraussetzungen einer – dem Geist der europäischen Aufklärung entsprungenen – Vorstellung der Kunst der Moderne, sich jeder definitorischen Eingrenzung zu verweigern. Auch für mich ist „Kunst ein Format, das jegliches Format übersteigt“; als solche steht sie für das Unvorhersehbare, Unauslotbare und damit das menschliche Leben selbst, das sich jeglichen Versuchen der Vordefinition auf immer wieder neue Weise erfolgreich verweigert.

In diesen Tagen soll ein Beitrag von mir zur Zukunft des Kunstbetriebs in der Wiener Zeitung erscheinen. Der zuständige Redakteur machte den Vorschlag, meinen Text mit „Die Kunst muss sich ändern, um einen Weg aus der Krise zu finden“. Ihm musste ich entgegnen: Die Kunst muss gar nichts! Wer wäre ich, der Kunst zu sagen, was sie tun soll. Dies umso mehr als ich von ihr erwarte, mir neue Welterfahrungen zuzumuten, von denen ich noch gar keine Vorstellungen habe.

Womit wir im Herzen künstlerischer Autonomie angekommen wären, die sich jeglicher Zuschreibung von außen kategorial verweigert. Also müssen wir es beim Versuch belassen, Kunst als individuelle, allenfalls auch kollektive Arbeitsweisen zur Hervorbringung, Vermittlung und Rezeption künstlerischer Phänomene zu beschreiben, die ihren ersten Sinn in sich selber finden.

Über die Frage, wer Kunst macht und sich folglich Künstler*in nennen darf, könnte man ganze Bibliotheken füllen. Die Antwort wird nicht leichter, wenn die Grenzen zwischen professionellen und amateurhaften Ansprüchen zuletzt zunehmend fließend geworden sind. Generell wollen wir davon ausgehen, dass allen, die an künstlerischen Prozessen beteiligt sind, ist der Anspruch der Souveränität der eigenen Gestaltungskraft gemein ist.

Nun findet Kunst nicht im luftleeren Raum statt. Da mag der Wille, den eigenen künstlerischen Impetus nicht von außen bestimmen zu lassen, noch so groß sein, wir kommen um den Umstand nicht herum, dass er eingebettet ist in die jeweiligen gesellschaftlichen (Macht-)verhältnisse, mit denen auch künstlerisch Tätige notwendig umzugehen haben. Umso entscheidender ist die Fähigkeit der Akteur*innen, sich in kritische Distanz zu diesen äußeren Bedingungen zu begeben, diese zu hinterfragen und nicht in ihren Notwendigkeiten aufzugehen.

Ja, gesellschaftliche bzw. staatlich vorgegebene Bedingungen spielen in der Kunst eine Rolle. Sie können sich fördernd oder behindernd auswirken. Im Kern aber entscheiden sie nicht darüber – und das ist entscheidend – ob Kunst stattfindet oder nicht (die Tatsache, dass Kunst selbst in autoritären und kunstfeindlichen Regimen nicht völlig verhindert werden konnte, deren gesellschaftliche Wirkungen oft sogar ein besonderes Motiv, und sei es des Widerstands darstellen, spricht für diese These).

So wichtig individuelle Förderung durch den Staat im Einzelfall sein kann, die Karriereverläufe gerade herausragender Künstler*innen machen deutlich, dass sie sich nur sehr bedingt von äußeren Kräften leiten lassen, sondern im Notfall auch bereit sind, gegen alle Widerstände „durch Mauern zu gehen“. Daraus schließe ich, dass Künstler*innen per se nicht eines besonderen staatlichen Schutzes bedürfen, jedenfalls nicht erwarten dürfen, dass dieser ihre Lebens- und Arbeitsgrundlagen bereitstellt. Sie verstehen sich vielmehr als Teil der Zivilgesellschaft, zu deren Weiterentwicklung sie einen Beitrag leisten wollen. Ihr eigener künstlerischer Antrieb ist ihnen die wichtigste Grundlage, um sich die Realisierungsgrundlagen zu schaffen, die es braucht, um ihre Kunst hervorzubringen.

Der Staat setzt kunstpolitische Maßnahmen – und hat keine Ahnung, was sie bewirken (mehr, er will es gar nicht wissen)

Der Staat interveniert seit den 1970er Jahren entlang einer gewachsenen Verwaltungsstruktur, wenn auch höchst unterschiedlich gewichtend (Verteilung von Förderungen, Schaffung von Anreizen, Setzung von Symbolpolitik, Ermöglichung von Repräsentation, Nachwuchs- und Breitenförderung oder Künstlerische Bildung, etc.). Trotz der Implementierung einer großen Vielfalt von einschlägigen Maßnahmen hat er weitestgehend darauf verzichtet, die dadurch entstandenen Wirkungen zu evaluieren und die Ergebnisse für die künftige Entscheidungsfindung zu nutzen (davon zeugt u.a. die Nichtexistenz einer signifikanten Kulturpolitikforschung in Österreich).

Unbestritten sind die quantitativen Erfolge, so hat sich die Kunstszene wesentlich vergrößert. Zugleich sind die damit verbundenen qualitativen Bewertungsgrundlagen, jedenfalls in Bezug auf ästhetische Kriterien in Bewegung geraten: Der Kunstbetrieb ist ebenso wie die Kunstverwaltung aus sich heraus angesichts der Pluralisierung der Lebenswelten nur mehr sehr beschränkt in der Lage, für alle nachvollziehbare Qualitätsmaßstäbe vorzugeben bzw. diese zu begründen. Dementsprechend entfallen politisch gewollte Schwerpunktsetzungen. Umso wichtiger wurde der Erfolg auf dem Kunstmarkt, ein Umstand, der wesentlich zu einer Verschiebung von einer künstlerischen Prozessorientierung hin zur Produktorientierung (Eventisierung) geführt hat.

Entstanden ist ein breites Kunstfeld mit unterschiedlichsten Akteur*innentypen, die von ebenso unterschiedlichen Motivationen angetrieben wird (neben dem unmittelbaren Erwerb von Einkommen, vor allem dem Standing am Markt, in der Szene, in der Kritik, in den Medien, beim Publikum oder einfach durch Selbstverwirklichung), die sich zum Teil überlappen.

Eine empirisch nachvollziehbare Analyse der Wirkungen staatlicher Maßnahmen auf Motivation, Realisierungsbedingungen, formale und inhaltliche Ausrichtung oder Abwehr-bzw. Antizipationskraft äußerer Entwicklungen (Technologie, Internationalisierung, etc.) auf die jeweils Begünstigten (aber auch Nicht-Begünstigten) steht aus.

Kunstpolitik als Garant von Bestandsinteressen

Nun stellt das Kunstfeld nicht nur eine willkürliche und beziehungslose Ansammlung individueller Künstler*innen-Persönlichkeiten dar, die sich jeder*r für sich mit äußerlichen teils fördernden, teils hemmenden Umständen herumschlagen müssen, ohne ihre künstlerische Souveränität preiszugeben. Um nicht allein übrig zu bleiben, bemühen sich vor allem die Künstler*innen, zuletzt aber auch verstärkt die Vermittler*innen um eine strukturbildende kollektive Interessenartikulation. Schwerer tun sich da die Rezipient*innen, die in der Regel als eine anonyme bzw. nur schwer fassbare Größe wahrgenommen wird (Die Gründe dafür liegen wohl darin, dass sie – entgegen dem Wortsinn von Publikum – nicht mehr als eine Repräsentanz einer gesellschaftspolitisch aktiven Öffentlichkeit wahrgenommen wird). Zusammen mit der faktischen Durchsetzungskraft von Kunstinstitutionen schaffen sie die Voraussetzungen für eine interessensgeleitete Kunstpolitik.

Hauptaufgabe ihrer Repräsentant*innen ist es zu versuchen, die Realisierungsbedingungen der einzelnen Akteur*innengruppen innerhalb des Kunstfeldes zu verbessern. Diesbezügliche Aushandlungsprozesse erfolgen in Österreich hoch personalisiert und informalisiert. Im Vergleich zu den lauten Stimmen der Repräsentant*innen großer Kunsteinrichtungen sind die meisten Interessensvertretungen im Freien Bereich schwach und untereinander wenig koordiniert (Ein solcher Zustand erschwert eine transparente, auf Evidenzen gestützte Entscheidungsfindung. stattdessen üben sich die Big Player in der Aufrechterhaltung eines obrigkeitlichen Verständnisses von „Divide et Impera“, bei dem regelmäßig die lautesten Stimme in den größten Institutionen gewinnen).

In den letzten 50 Jahren wurde der Staat wurde vom Kunstbetrieb zwar erfolgreich in die Pflicht genommen, einen Förderschirm aufzuspannen („Kulturauftrag des Staates“). Bislang folgte er damit weitestgehend der Logik des etablierten Kunstbetriebs samt dem Erhalt seiner Institutionen, die es um fast jeden Preis (und zum Nachteil aller nichtinstitutionalisierten Initiativen) mit Hilfe von gesetzlichen Regelungen, Betriebsgarantien oder Ausbildungsinitiativen in ihrer bewährten Verfassung zu schützen galt. In der Dominanz „pragmatisierter Subventionsempfänger*innen“ blieben neue Entwicklungen randständig. So wusste sich der sogenannte Freie, weil nicht oder nur rudimentär institutionelle Sektor von der Kommunikation mit staatlichen Stellen weitestgehend ausgeschlossen. Weite Teile einer jüngeren Künstler*innen-Generation haben sich mit ihrer erzwungenen „Staatsferne“ mittlerweile abgefunden – sie glauben nicht mehr an die Segnungen staatlicher Kunstpolitik. Ausnahmen wie die amtsführende Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler mit ihrem Willen, die Existenzgrundlagen des Freien Bereichs noch einmal zu verbessern („Fair Pay“), bestätigen diese lange Geschichte staatlicher Förderung von sozialer Ungleichheit.

Auch das Kunstschaffen ist heute mit einem umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozess konfrontiert (Gesundheit, Demographie, Arbeitsmarkt, Mediatisierung und Digitalisierung, Internationalisierung,…). Die daraus resultierenden Konsequenzen bleiben bislang in der Kunstszene weitgehend unreflektiert und haben angesichts massiver Beharrungskräfte bislang noch nicht zur Herausbildung neuer kunstpolitischer Interessenslagen geführt. Auch staatliche Maßnahmen erschöpfen sich – verstärkt durch die Folgen der Pandemie – im Versuch der simplen Fortschreibung bzw. möglichst bald eine alte Normalität wieder herzustellen.

Der Staat als traditionell reaktives System ist wenig flexibel, wenn es darum geht, Weiterentwicklungen im Bereich des Kunstbetriebes im Rahmen einer überfälligen Neuausrichtung von kunstspezifischen Maßnahmen zu antizipieren. Und doch spricht vieles dafür, dass gerade die Pandemie zu einer Rundumerneuerung selbst des staatlich hoch subventionierten und damit unangreifbar erscheinenden Betriebs zum Erhalt des kulturellen Erbes führen wird müssen (Neue Settings und Format, neue Interaktionsformen mit dem Publikum, Outreach, Besucher*innen-Fokussierung (Audience Orientation), Mediatisierung und Digitalisierung der Produktion, Vermittlung und Rezeption, etc. )

Dazu entstehen neue Anreizsysteme, in der Hoffnung, damit neue nicht-staatliche Akteure (Mäzene, Stiftungen, Sponsoren, Spender, Crowd Funding,….) mit ins Boot zu holen. Diese verbinden ihr Engagement mit unterschiedlichsten eigenen Interessen. Auch in diesem Zusammenhang fehlen systematische Untersuchungen.

Im hier angedeuteten Verhältnis zwischen Kunstbetrieb und Staat wird die Logik des Kunstbetriebs nicht verlassen (Autonomie: dieser weiß selbst am besten, was gut für ihn ist) – es gilt, über den Weg der Interessensvertretungen die Bedingungen für alle Beteiligten zu verbessern. Allenfalls sollen neue Kooperations- und Koordinierungsmodelle zwischen Kunstverwaltung und Kunstbetrieb (bzw. ihren Vertretungen) dafür sorgen, den Betrieb am Laufen zu halten.

Kulturpolitik I: Relevanz des Kunstbetriebs in der Gesellschaft

Folgte man dem Soziologen Niklas Luhmann in seiner Studie „Die Kunst der Gesellschaft“, dann könnte die Beschreibung des in sich abgeschlossenen sozialen Systems „Kunst“ als Teil einer arbeitsteiligen Gesellschaft hier an ein Ende kommen. Und mit ihm die Ansprüche an eine Kunstpolitik, deren Auftrag darin besteht, den Bestand dieses Systems sicher zu stellen.

In dem Maß aber, in dem das Kunstfeld für sich eine gesamtgesellschaftliche Wirkmächtigkeit beansprucht, verlassen wir die Beschränkungen von Kunstpolitik und begeben uns auf das nach wie vor weitgehend ungesicherte Terrain der Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Dabei geht der Anspruch der Akteur*innen dahin, sich nicht auf ihr „ästhetisches Kerngeschäft“ in den dafür vorgesehenen Institutionen zu beschränken, sondern Einfluss zu nehmen auf das, was gerne als „Kultur“ bezeichnet wird und wohl die Lebens- und Arbeitsverhältnisse möglichst aller meint. Als solcher will er ebenso einen Beitrag zur nationalen Identität, Standortattraktivität, regionalen Entwicklung, wirtschaftlichen Prosperität, Verbesserung von Bildungschancen, Inklusion oder Exklusion von Zuwander*innen, oder als entscheidender Faktor zur Schaffung von Lebenszufriedenheit (und vieles mehr) leisten.

Erst der Anspruch, über das Kunstfelde hinausgehende gesellschaftliche Wirkungen zu erzielen, macht den Kunstbetrieb zu einem Kulturbetrieb. Dabei möchte er sich nicht in der Wahrnehmung seiner selbstreferentiellen Bestandsinteressen erschöpfen, sondern Relevanz erfahren in einer Welt, ob sie sich für Kunst interessiert oder nicht. Ihre Vertreter*innen wollen mitreden und die kollektive Verfasstheit als Ganzes mitbestimmen.

Geleitet werden die Vertreter*innen eines solchen über das unmittelbare Kunstgeschehen hinauswirkenden kulturpolitischen Anspruchs freilich von einem rundum positiven Verständnis dessen, was sie unter Kultur propagieren. Diese Form der Idealisierung zeigt sich blind gegenüber der Janusköpfigkeit jedes näheren Bestimmungsversuchs von Kultur. Denn diese ist in ihrer inhaltlichen Ausrichtung weder per se gut noch schlecht. Über sie als ein gesellschaftliches Ziel zu reden aber macht nur Sinn, wenn dieses in irgendeiner Form sichtbar gemacht werden kann. Schwierig in einer Zeit, in der ideologisch nachvollziehbare Gesellschaftsentwürfe rar geworden sind. Frei nach dem Motto: „Wir wissen zwar nicht wohin, dafür aber sind wir früher dort“ (Helmut Qualtinger) erweisen sich für die meisten Beobachter*innen die Versuche des Kunstbetriebs, dafür einen signifikanten Beitrag zu leisten, als weitgehend inhaltleere Profilierungsversuche. Was bleibt, ist ein affirmativer Anspruch, mit Hilfe ihres Angebotes die Gesellschaft irgendwie zum Besseren wenden zu können, ohne noch einmal spezifizieren zu können, wie sie sich das gesellschaftliche Zusammenleben im Auge der vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen und damit auch kulturellen Kämpfe vorstellen. Dies umso mehr als darauf bezogene Wertungen nicht ästhetisch, sondern politisch zu interpretieren sind.

Eine Kulturpolitik, die für sich beansprucht, über das Feld der Kunstpolitik hinauszuweisen, hat es zur Zeit schwer. Immerhin müsste sie in der Lage sein, wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklungen zu benennen, um in der Folge den Kunstbetrieb dazu einzuladen, an dessen konkretem Zustandekommen mitzuwirken.

Weil das aber politisch immer weniger geleistet werden kann, tendiert der Kunstbetrieb zu einer manisch-depressiven Grundhaltung, der die Kulturpolitik weitgehend ratlos gegenüber steht. Als selbst zunehmend gefährdetes Subsystem stellt der Anspruch des Kunstbetriebs, eine „bessere Politik“ zu repräsentieren, zumeist eine verhängnisvolle Überforderung dar. Umso größer sein Bedürfnis, eine „schlechte Politik“ für den schlechten Zustand des Kunstbetriebs und darüber hinaus der ganzen Gesellschaft verantwortlich zu machen.

Der einzig verbleibende Ausweg, um einem weiteren An-den-Rand-Drängen zu entgehen, erscheint mir das Erlernen von Kooperationen mit Akteur*innen anderer politischer Felder bzw. der Anbindung an ein genuines politisches Projekt (haben im Moment außer im rechten Lager nicht Konjunktur). Dabei könnte eine die engen Zuständigkeitsgrenzen übersteigende trans-sektoral gerichtete Kulturpolitik einen wesentlichen Beitrag leisten.

Kulturpolitik II: Politik der Kulturen

Ja, und dann gibt es noch eine andere, fast schon vergessene Dimension von Kulturpolitik: Neben den Versuchen, den Kunstbetrieb zu einem signifikanten Faktor gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu machen, haben zuletzt noch einmal Vorstellungen einer Kultur, die ganz ohne Kunst auskommt (sich vielmehr von Kunst bedroht sieht) an Bedeutung gewonnen. Die Rede ist von den Pervertierungen der Diskussion rund um einen „weiten Kulturbetriff“ seit den 1970er Jahren. Ursprünglich sollte eine darauf bezogene Kulturpolitik möglichst alle Menschen in die Lage versetzen, sich ungeachtet ihrer sozialen Stellung als kulturelle Wesen zu erkennen, egal ob sie das Angebot des Kunstbetriebs nutzen oder nicht. Kultur als Repräsentation „wie der Mensch lebt und arbeitet“ wurde vor allem von linken Kräften als ein emanzipatorischer Anspruch vorgetragen, um früher oder später alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Ein elitärer, ausgrenzender Kunstbetrieb wurde dafür als eher hinderlich eingeschätzt.

In Ermangelung eines politischen Subjekts, das noch einmal in der Lage wäre, eine überzeugende gesellschaftspolitische Perspektive zu vermitteln, haben sich diesbezügliche kulturpolitische Ansprüche verlaufen. Stattdessen ist es zu einer beeindruckenden Zweckentfremdung der ursprünglichen kulturpolitischen Absichten gekommen. So wird ein weiter Kulturbetriff heute vor allem von Rechtspopulist*innen vorgetragen, der sich mit dem Bestehen auf einer kulturellen Eigenart sich jeglicher Form des anderen verweigert. Als solche speist er vor allem den aktuellen Interkulturalitäts- bzw. Migrationsdiskurses entlang zum Teil willkürlich gezogener ethnisch-kultureller Grenzen. Dabei kommt dem Kulturbetrieb trotz aller Beschwörungen nur eine sehr nachgeordnete Rolle zu. Als viel wichtiger erweisen sich dabei integrative Maßnahmen im Bereich Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit, Wohnungspolitik oder Wahlrecht. In einem solchen Setting wird Kultur politisch nur allzu gerne dazu benutzt, um soziale Widersprüche (soziale Ungleichheit) zu verschleiern.

Der Kunstbetrieb sieht sich heute einem grundstürzenden Transformationsprozess gegenüber. Dabei fungiert die Pandemie als ein Brennglas für strukturelle Probleme, die der Sektor seit vielen Jahren unbearbeitet mitschleppt. Sich heute mit aller Kraft noch einmal ins Spiel bringen zu wollen, ist mehr als verständlich. Dies aber noch einmal mit einem weitgehend sinnentleerten Vokabular zu versuchen, verstärkt bestenfalls den Eindruck der zunehmenden Irrelevanz des Sektors.

Im Moment bilden sich allerorten Initiativen, die nach einer neuen Kunst- und Kulturpolitik rufen und bereit sind, an der Konzeption einer solchen mitzuwirken. Auch der nächste Durchlauf des europäischen Symposiums zu aktuellen Fragen der Kulturpolitik an der Universität für angewandte Kunst, das für den 20. Mai dieses Jahres vorgesehen ist, wird sich diesem Anliegen widmen. Sich dabei noch einmal der Mühe zu unterziehen, das x als x und das u als u näher zu bestimmen bzw. eine zeitgemäße Spezifikation mittlerweile allzu schlampig verwendeter Begriffe zu verwenden, könnte dafür eine wichtige Voraussetzung bilden.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

Weitere Blogs, Publikationen und Aktivitäten sind auf Wimmers Kultur-Service zu finden. Hier geht's auf die Website.

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