Qualität im Kulturbereich – Eine demokratiepolitische Provokation

Vor ein paar Tagen wurden die Ergebnisse der Wiener Theaterjury veröffentlicht. Erstaunt nahm die interessierte Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass sich die Runde nicht einmal mehr auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt hat, sondern mit ihren Entscheidungen durchaus Profil zu zeigen versuchte. Sie kam zum Entschluss, dass die Wiener Tanz- und Performance-Szene ihren Qualitätsansprüchen wesentlich eher entsprechen würde als der Bereich des Musiktheaters, dem sie insgesamt „niedrige Standards und eine besorgniserregende Tendenz zur Stagnation“ attestierte. Sinn der Übung: Die Kulturabteilung der Stadt Wien solle diese Einschätzung bei der Neuverteilung von Fördermitteln berücksichtigen.

Die Jury bestand aus gestandenen Fachleuten, allesamt ausgewiesene Künstler*innen, Manager*innen oder Kritiker*innen. Sie kennen den Betrieb und seine Akteur*innen seit vielen Jahren, wissen um die Umsetzbarkeit von Projektbeschreibungen und waren wohl auch mit den Antragsteller*innen im engen Austausch. Systematisch ausgeschlossen aber blieben die Nutzer*innen und damit all diejenigen, für die all die eingereichten Projekte wirklich – oder auch nur vermeintlich – realisiert werden sollen. Und in deren Auftrag (und mit deren Steuerleistungen) die öffentliche Hand auf der Grundlage der getroffenen Juryentscheidungen die dafür notwendigen Mittel bereitstellen soll.

Das Verfahren, mit dem sich hier Macher*innen und fachlich legitimierte Entscheider*innen ausmachen, was in der jeweiligen Kunstsparte realisiert werden kann und was nicht, hat sich zumindest im Freien Bereich weitgehend durchgesetzt. Alternative Entscheidungsmodelle wie das Intendanten-Prinzip (siehe die Bundeskurator*innen der 1990er Jahre), der Anspruch auf Selbstverwaltung oder – in Ermangelung hinreichend nachvollziehbarer Qualitätskriterien – gar die Forderung nach Auslosung sind bislang die Ausnahme geblieben. All diesen Szenarien ist gemeinsam, dass eine Gruppe von Produzent*innen samt ihrem unmittelbaren Umfeld für verbindlich erklärt, was ihren künstlerischen Qualitätsansprüchen entspricht, während der große Rest der Bevölkerung von dieser Entscheidungsfindung systematisch ausgeschlossen bleibt.

Die Nutzer*innen haben nichts mitzureden

Was wir hier – im besten Fall – erleben, das ist die Widerspiegelung von Verfahren der repräsentativen Demokratie, in der die einen – durch Wahlen legitimiert – Entscheidungen für die anderen übernehmen. Im Kulturbereich ist das nicht so einfach; hier gilt die Kraft der gesellschaftlichen Stellung. Im Fall von Jury-Entscheidungen werden Fachleute auf Zeit von gewählten Kulturpolitiker*innen bestellt, um mit ihrem spezifischen Qualitätsverständnis die Politik zu beraten, die dann letztendlich entscheidet. Den Nutzer*innen kommt beim Auswahlverfahren keine aktive Stimme zu; ihre einzige Möglichkeit, in dieses Spiel einzugreifen besteht darin, das Angebot (über dessen Qualität bereits vorab entschieden worden ist) anzunehmen – oder nicht. Die Mitwirkung an der Entscheidung selbst, was und in welcher Form angeboten werden soll, bleibt ihnen verwehrt; jede Publikumsresonanz bleibt – mit Ausnahme der Referenzfilmförderung, bei der gute Auslastungszahlen die Chancen auf Förderung der nächsten Vorhaben erhöht – ohne Wirkung

EDUCULT hat sich in seinen diversen Evaluierungsprojekten immer wieder mit der Frage der Qualitätsentwicklung im Kulturbetrieb auseinandergesetzt. Seitens der Auftraggeber*innen waren wir immer wieder mit der Anforderung konfrontiert, eindeutige Aussagen zur Qualität des einen oder anderen Vorhabens zu treffen. Umso größer war die Enttäuschung, wenn wir uns geweigert haben, dieser Erwartung zu entsprechen und darauf bestanden haben, dass über Qualität an sich nicht gesprochen werden kann. Es bedurfte zum Teil eines beträchtlichen Überzeugungsaufwands, um zu erklären, dass der Auseinandersetzung mit Qualität immer die explizite oder implizite Definition von Zielen voraus gehen muss. Nur wenn diese Ziele transparent gemacht werden, kann sinnvoller Weise diskutiert und letztlich beurteilt werden, ob und in welcher Hinsicht ein Vorhaben erfolgreich war bzw. welche Wirkungen sich direkt oder auch indirekt nachweisen lassen. Aber auch diese Ziele haben eine Vorgeschichte, denn sie sind – jedenfalls in demokratisch verfassten Strukturen – immer Gegenstand eines diskursiven Kommunikations- und Aushandlungsprozesses, in dem sich die einzelnen Akteur*innengruppen auf eine gemeinsame Ergebniserwartung einigen. Wenn damit die Voraussetzung für Zielvorstellungen eine Qualitätsbewertung ist, so sind auch die jeweiligen Umstände, Strukturen und Rahmenbedingungen, in denen diese Ziele erreicht werden sollen, von ebenso großem Einfluss. Das Ergebnis für EDUCULT war die Erstellung eines ganzen Qualitätsrasters, in der die wesentlichen Faktoren, die erst in einer Gesamtschau Qualität bestimmen, Eingang gefunden haben (vgl. S. 22).

Die Zuschreibung von Qualität ist das Ergebnis eines permanenten Aushandlungsprozesses

Was also bedeutet der Umstand, dass unsere Qualitätsvorstellungen das Ergebnis eines permanenten Aushandlungsprozesses darstellen und nicht einseitig dekretiert werden können? Gerade ein Blick auf den Bereich der Kulturellen Bildung, könnte hier etwas mehr Klarheit schaffen. Immerhin sollen mit den diversen Programmen die Beteiligten nicht nur zum Singen, Tanzen, Musizieren, Malen oder Schreiben ermutigt werden. Mindestens ebenso wichtig erscheint die Entwicklung eines auf die jeweiligen künstlerischen Tätigkeiten bezogenen Geschmacksurteils: Kann ich mitreden dabei, was ich gut finde und was ich für nicht gut finde? Oder finde ich mich damit ab, dass andere mir ihre Qualitätsvorstellungen dekretieren? Es ist die Lernbereitschaft, Geschmacksurteile nicht nur abzugeben, sondern auch zu begründen, die die Teilnehmer*innen Kultureller Bildungsprogramme aus ihrer ästhetischen Unmündigkeit befreit und sie ermächtigt, mitzureden, welche künstlerischen Ziele mit welchen Mitteln in welchen Umständen erreicht werden sollen.

Von einer Situation, in der sich alle in gleichberechtigter Weise an der Qualitätsdiskussion im Bereich der Künste beteiligen wollen und dies auch können, sind wir noch weit entfernt. Das ist eigentlich erstaunlich, wenn wir davon ausgehen können, dass das Phänomen ein Gemeinschaftserlebnis darstellt, an dem sich – im Idealfall – alle aktiv beteiligen können sollen.

Zur Erinnerung: Im Zuge wachsender gesellschaftlicher Arbeitsteilung hat sich auch im Feld der Künste eine Gruppe von Expert*innen herausgebildet, die für sich das Monopol beansprucht hat, über die Qualitätsvorstellungen zu verfügen. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Kulturbetriebs kam ihnen eine besondere Türwächter*innen-Funktion zu, um mit Hilfe mehr oder weniger transparenter Kriterien darüber zu entscheiden, was künstlerische Qualität ausmacht und was nicht.

Weitgehend informell und hoch personalisiert erwiesen sich diese Kriterien in einer breiteren Öffentlichkeit freilich nur schwer vermittelbar: Um sich trotzdem hinreichend zu legitimieren, mussten die selbsternannten Auserwählten zu zwei Totschlag-Argumenten greifen: Das eine nahm Anleihe an religiöse Traditionen und ließ sie in das säkular verbrämte Kleid des Kunstpriestertums schlüpfen. Ihren Apologet*innen, so die Begründung, ginge es ja gar nicht um die Erringung und um den Erhalt einer herausragenden Position in der Gesellschaft, vielmehr stünden sie im Dienst einer höheren Wahrheit, deren Zugänglichkeit – aufgrund von Berufung samt spezifischer Ausbildung – halt nur einer kleinen Gruppe zugänglich sei. Diese Wahrheit zu erkennen, sie zu pflegen und in ausgewählten Öffentlichkeiten zu vermitteln, sei ausschließlich als ein Dienst an der Gesellschaft zu bewerten. Das hier eine Elite einseitig einen Machanspruch realisierte, indem sie versuchte, kraft ihres Amtes die Qualität von Kunst zu dekretieren und damit die öffentliche Meinung zu dominieren, gehörte zum Geschäft dazu. Aus dieser Selbsterhöhung folgte notwendig eine Abwertung aller anderen, die über kein vergleichbares Rüstzeug zur Einschätzung künstlerischer Hervorbringungen verfügen würden und denen man folglich vorschreiben könne bzw. müsse, was künstlerisch Sache ist. Wer sich aber in diesem Spiel diesbezüglichen Belehrungen zu entziehen trachtete, der brauchte gleich gar nicht mehr seine Stimme zu erheben: Stigmatisiert als „kulturlos“ hatte er oder sie jedes Recht verwirkt, am – den verordneten Qualitätsansprüchen entsprechenden – kulturellen Geschehen teilzunehmen. Gerne als „Nicht-Besucher*innen“ stigmatisiert werden sie bis heute auf ein beliebiges Freizeitangebot verwiesen, wo unter dem Diktat des Marktes jede*r schauen kann, wo er*sie bleibt. Ihnen verstärkt eine Stimme zu geben, so die große Befürchtung der Kunstmandarine, würde eine weitgehende Korrumpierung des Kulturbetriebs bedeuten, der sich immer weniger an den von ihm selbst auferlegten Qualitätskriterien messen ließe, sondern an einem kleinsten gemeinsamen Nenner, der Quote bringt.

Die Überheblichkeit der Auserwählten – noch prangt sie an den Wänden des Kulturbetriebs

Ich selbst bin erst vor wenigen Tagen Zeuge der dieser ungebrochenen Traditionen geworden. Beim Spazierengehen fiel mir eine Inschrift auf dem Wiener Konzerthaus auf, die da lautet: „Ehret die Deutschen Meister – dann bannt ihr die guten Geister“. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus Wagners Meistersingern, das so weitergeht: „”Habt Acht! Uns dräuen üble Streich’: zerfällt erst deutsches Volk und Reich, in falscher wälscher Majestät kein Fürst bald mehr sein Volk versteht, und wälschen Dunst mit wälschem Tand sie pflanzen uns in deutsches Land; was deutsch und echt, wüsst’ keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’.” Als ich mein ungläubiges Erstaunen auf Facebook zur Diskussion stellte, erreichte mich unmittelbar eine Vielzahl von Rückmeldungen, die unisono davon sprachen, dass dieser Spruch – als eine historische Reminiszenz – tunlichst beizubehalten wäre. Mein Einwand, dass sich die Mehrheit der diversen Wiener Stadtgesellschaft mit der ganzen Vielfalt ihrer unterschiedlichen kulturellen Haltungen mit einer solchen Zurschaustellung eines überkommenen (wir wissen mittlerweile auch politisch höchst gefährlichen Elitismus) nicht wirklich eingeladen fühlen würde, das Haus zu ihrem zu machen, traf auf nur wenig Verständnis. Offenbar ist selbst in liberalen Kulturmilieus die Sorge zu groß, eine auch nur symbolische Infragestellung historisch gewachsener (in dem Fall mit altdeutscher Suprematie durchtränkten) Dominanzvorstellungen könnte – auch wenn die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse noch so sehr darauf pochen – gleich den gesamten Betrieb in den Niedergang reißen.

Kunst hat sich längst über die engen Grenzen bestehender Qualitätserwartungen hinweggesetzt

Diese zugegeben recht holzschnittartig dargestellte Gegenüberstellung derer, die über Qualität verfügen und denen, die mit den Ergebnissen konfrontiert werden, hat zuletzt eine Reihe von Rissen bekommen. Der tiefste kommt direkt aus dem Herzen des Kunstbetriebs, wenn eine künstlerische Avantgarde seit mehr als hundert Jahren versucht, die mühsam immer wieder neu errichteten Grenzziehungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst niederzureißen. Wenn Kunst im Prinzip alles kann, dann helfen auf Dauer selbst ausgefeilte konzeptionelle Korsette nur mehr wenig, um an solchen permanenten Überschreitungen eines gesellschaftlich zugewiesenen Geländes noch einmal auch nur halbwegs plausible Qualitätskriterien anzulegen. Das Ergebnis zeigt sich in einer großen Ratlosigkeit des Publikums, das die konzeptionellen Grundlagen nicht zu lesen weiß und im bloßen Augenschein die kategoriale Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht nachzuvollziehen vermag. Bestenfalls bleibt die in Worte gefasste Resignation: „Des kann ich auch“.

Aber auch dort, wo etablierte institutionelle Grenzziehungen wie im Theater, Konzert oder Ausstellungsbereich noch einigermaßen intakt erscheinen, ist es zuletzt zu unübersichtlichen Ausfransungen gekommen. So kümmern sich Vermittler*innen in nahezu allen Genres, dem Kulturbetrieb bislang fernstehende Menschen für ihr Angebot zu gewinnen. Noch können sie dabei auf die den Institutionen inhärenten Qualitätsmaßstäbe setzen, die sie den Neuankömmlingen im künstlerischen Feld zu vermitteln trachten. Aber nur zu bald könnte sich herumsprechen, dass diese über eigene Qualitätsvorstellungen verfügen und diese auch aktiv einbringen wollen. Dies umso mehr, als sich in den letzten Jahren neben einem (in der Regel staatlich alimentierten) Kulturbetrieb eine Vielfalt weiterer kultureller Ausdrucksformen etabliert hat.

Diese orientieren sich immer weniger an einem institutionell verordneten Qualitätsverständnis, sondern erlaubt den Macher*innen ebenso wie Nutzer*innen wesentlich mehr Souveränität bei der Bewertung ihrer Hervorbringungen. Hier haben sich ganz andere auf vielfältige Mitwirkung bezogene Qualitätsvorstellungen breit gemacht, die den Akteur*innen sowohl beim Machen als auch beim Bewerten einen aktiven Part zuweisen. Mit der massenhaften Durchsetzung einer solchen auf umfassende Mitwirkung angelegten kulturellen Praxis gibt es wenig Grund zur Annahme, diese ließe sich an anderer Stelle noch einmal in ein hierarchisches Gefüge zwängen, in der die da oben wissen, was gut ist, und die da unten das akzeptieren.

Um nicht allzu naiv zu erscheinen, sei an dieser Stelle durchaus auf die Gefahren dieser neuen Vielstimmigkeit im Netz hingewiesen, wenn dort neben wohlüberlegten Positionen haltlos auch jeder Unsinn verbreitet werden darf. Und natürlich ist mit einer solchen medialen Ausweitung des öffentlichen Gesprächs nicht jeder Wunsch nach Orientierung abhandengekommen. Autoritär fixierte Rechtspopulist*innen wissen über diese Bedürfnisse nur zu gut und vermögen ebenso wie „Influencer“ samt den dahinterstehenden Wirtschaftsinteressen davon zu profieren. Auch wenn wir uns dieser Gefahren Bewusst sind: Wir kommen kulturpolitisch um den Umstand nicht herum, dass die Büchse der Pandora vielfältiger Mitsprache geöffnet ist: Jede*r kann, ja soll mitreden in ihn ganz persönlich betreffenden ästhetischen Fragen, damit in einer demokratisch verfassten Kultur, deren Qualitätsvorstellungen sich den Vielen und nicht an den Wenigen orientieren kann.

Ästhetische Urteile sind immer subjektiv

Wenn heute vor allem die sozialen Medien ganz neue Möglichkeiten eröffnen, am kulturellen Geschehen aktiv mitzuwirken und die damit auch eigene Qualitätsansprüche durchzusetzen, so sei an dieser Stelle daran erinnert, dass uns die Frage, wer über künstlerische Qualität zu verfügen vermag und wer nicht, die modernen Gesellschaften spätestens seit der Aufklärung begleiten. Immerhin hat sich bereits Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft sehr wegweisend über den Geltungsanspruch ästhetischer Urteile geäußert. Ihm zufolge handle es sich hierbei ausschließlich um subjektive Geschmacksurteile, die sich nicht beliebig auf andere übertragen lassen: „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ Damit macht Kant auch auf den kategorialen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst deutlich, wenn erstere die Gewinnung verallgemeinerbarer Erkenntnisse zum Ziel hat, während sich die Kunst aus ihren subjektiven Bezügen (der Künstler*innen ebenso wie aller anderen, die mit ihren Ergebnissen konfrontiert werden) speist.

Aus Kants Überlegungen zur Subjektivität ästhetischer Urteile folgt – jedenfalls für mich – eine sehr radikale Erkenntnis: Dass es nämlich keine gesellschaftliche Instanz geben kann, die nachvollziehbar darüber verfügen könnte, was von künstlerischer Qualität ist und was nicht. Stattdessen kommen wir um die Aufgabe nicht herum, uns ein eigenes Urteil zu machen. Dafür lohnt es sich freilich, uns mit einem hinreichenden Rüstzeug auszustatten, um unseren Geschmack zu bilden.

Jede Äußerung von Qualitätszuschreibungen verweist auf bestehende Machtverhältnisse

Die Frage, wer unter welchen Bedingungen über Qualität mitentscheiden darf, verweist damit auf die Infragestellung bestehender Machtstrukturen – auch und besonders im Kulturbereich – die den einen eine herausragende Stellung bei der Beurteilung von künstlerischer Qualität zuspricht und diese anderen verweigert. Wenn wir aber im Rahmen unserer demokratischen Verfasstheit allen Menschen eine ihnen eigene Subjektivität zusprechen, dann gilt das auch und gerade in Bezug auf ihre Mitsprache bei der ästhetischen Urteilsbildung. Mit einem solchen Anspruch auf Emanzipation auch und gerade in Fragen der Beschäftigung mit Kunst müssen wir uns von der Erwartung, Qualität künstlerischer Äußerungen ließe sich verallgemeinern oder gar objektivieren, verabschieden. Qualitätsansprüche erwachsen vielmehr aus einem vielstimmigen Aushandlungsprozess, der vielleicht zu temporär intersubjektiven Entscheidungen aller Beteiligten führt. Aber nur, um diese spätestens mit ihrer Fertigstellung auch schon wieder in Frage zu stellen.

Eine solche Suche nach der Einbeziehung möglichst vieler Stimmen bei der Qualitätsbeurteilung hat gravierende Auswirkungen auf die Ausgestaltung künftiger kulturpolitisch relevanter Settings. Mit neuen Programmen zur „kulturellen Partizipation“ wird hier ein Trend gesetzt, der auf die Durchsetzung einer staatlich verordneten Kultur verzichtet und stattdessen darauf abstellt, mehr Menschen ihr kulturelles Schicksal in die eigene Hände nehmen zu lassen. Das hat Auswirkungen auf den Aspekt der Vermittlung, der sich immer weniger darauf beschränken wird können, institutionell vorgegebene Qualitätsvorgaben an Unkundige weiterzugeben, sondern diese zu ermächtigen, sich ihrer kulturellen Erwartungen bewusst zu werden und diese auch zu artikulieren (Diesbezügliche Erfahrungen können dann auch für die inhaltlich-programmatische Weiterentwicklung der Institutionen genutzt werden).

Kulturelle Bildung nicht nur als eine Einladung zu machen, sondern mitzureden

Eine zentrale Aufgabe käme in diesem Zusammenhang sicher der Kulturellen Bildung als ein Verfahren zur individuellen und auch kollektiven Emanzipation zu, die die Lernenden aus der Abhängigkeit ihnen fremder Geschmacksurteile entlässt und sie ermächtigt, sich aktiv am Gespräch über ein gemeinsames Qualitätsverständnis zu beteiligen. Künstler*innen, sofern sie bereit sind, ihre geschützten Räume der Repräsentation zu verlassen, könnte dabei eine stimulierende Rolle zukommen. Immerhin verfügen sie kraft ihrer Ausbildung und professioneller Erfahrung über ein ganz besonderes Sensorium, wenn es darum geht, diffus Empfundenem/Ungedachtem/Ungezeigtem/Ungesagtem eine Form zu geben und damit Menschen zu ermutigen, sich und damit ihre subjektive Befindlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Aber natürlich hat eine solche Trendwende auch mit verbesserten Datenlagen zu tun, die mit Hilfe einer zeitgemäßen Kulturpolitikforschung erarbeitet werden können. Überlegungen, den jährlichen Kunst- und Kulturberichten der Gebietskörperschaften, die die Produktionsseite detailreich beleuchten, „Publikumsberichte“ beizugeben, um damit die Nutzer*innen auch empirisch zu stärken, weisen in die richtige Richtung.

Neben dem Mut, noch einmal inhaltlich-politische Schwerpunkte vor allem zugunsten der Menschen, die in der Gesellschaft keine Stimme haben, zu konzipieren und umzusetzen liegt der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Weiterentwicklung in der Bereitschaft, die kulturpolitische Dominanz der Repräsentation zu überwinden und sich verstärkt Aspekten der Konfrontation und Kooperation zuzuwenden (am 20. Mai 2021 ist dazu ein Symposium an der Universität für angewandte Kunst geplant.

Statt mit der traditionellen Produktionsorientierung immer weiter ins Abseits zu geraten, ist es höchste Zeit, kulturelle Öffentlichkeiten wieder zu beleben, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen sich selbst ermächtigen, um mit ihren jeweiligen Befindlichkeiten, Erwartungen, Interessen, Sehnsüchten und Hoffnungen aktiv am kulturellen Geschehen teilzunehmen. Eine darauf basierende Kulturpolitik würde über das Instrumentarium verfügen, Menschen einen aktiven Part im kulturellen Geschehen zuzuweisen und sie als Mitgestalter*innen bei der kulturellen Entwicklung unseres Gemeinwesens in den bislang so hermetischen Kreis der Entscheidungsträger*innen über Qualität und einiges mehr aufzunehmen.

Das Gremium, das über die Qualität der Freien Wiener Theaterszene verfügt, würde dann wohl noch einmal ganz anders ausgestattet sein – und wahrscheinlich auch zu anderen Ergebnissen kommen.

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