Über das Ende hegemonialer Bevormundung und was das für uns bedeuten könnte

Als Heranwachsender in den 1950er und -60er Jahren schien die Welt noch in Ordnung. Die zentralen Instanzen Familie, die Großparteien und der Staat samt seiner Vermittlungsagentur Schule, darüber hinaus die katholische Kirche und der Kulturbetrieb gaben klare Weltbilder vor und verpflichteten zu verbindlichen Verhaltensregeln. Ja, ich konnte damit nicht einverstanden sein und versuchen, dagegen aufzubegehren. Und doch lag über der gesamten Gesellschaft eine rigide Eindeutigkeit von Richtig und Falsch, Gut und Böse sowie Schön und Hässlich, der sich kaum jemand zu entziehen vermochte.

Der Staat verfügte über die „richtige“ Kultur, die er mit seinen Kultureinrichtungen repräsentiert sehen wollte. Abweichler*innen wurden mit Gesetzen gegen Schmutz und Schund sanktioniert; sie sollten dafür sorgen, in der Bevölkerung eine für alle verbindliche österreichische Kultur durchzusetzen. Dieser speiste sich inhaltlich aus einem kulturellen Reservoir aus vordemokratischer Zeit und wurde im Wesentlichen von einer konservativen bildungsbürgerlichen Elite getragen. Zu ihrer Verbreitung gab sich der Staat einen Erziehungsauftrag, der die große Masse der „Kulturlosen“ mit der staatlich verordneten Kultur vertraut machen sollte, nicht zuletzt, um damit die Bemühungen zur nationalen Identitätsbildung zu unterstützen.

Wissenschaft schien für die meisten Menschen etwas für ein paar weltfremde Spezialist*innen. Diese waren mit etwas Unverständlichem beschäftigt, das sich den lebensweltlichen Erfahrungen aller anderen weitgehend entzog. Dass ihre Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs die unwidersprochene Grundlage jeglicher schulischer Wissensvermittlung darstellte, wurde unhinterfragt als gegeben angenommen. Also hegte auch ich als Schüler keinerlei Zweifel, dass sich die Welt in zehn oder zwölf voneinander rigide getrennte Unterrichtsgegenstände hinlänglich darstellen lässt.

Für die Befriedigung aller Glaubensbedürfnisse samt moralischer Handlungsanleitungen waren die Kirchen, allen voran die katholische Kirche zuständig. Ein kleiner Rest durfte sich bei östlichen Heilslehren bedienen, solange sie die Hegemonie christlicher Wertvorstellungen nicht in Zweifel zogen.

Und auch die beiden den Staat dominierenden Großparteien vermittelten für alle nachvollziehbare Weltsichten, deren ideologischen Gehalt sie bis zum letzten Stammtisch durchzusetzen vermochten. Eine wichtige Stütze waren ihnen die Medien. Sie transportieren weitgehend kritiklos die offiziellen Versionen einer politisch vorgegebenen gesellschaftlichen Wahrheit. Ihre Durchsetzung gelang umso besser, als alle Bürger*innen dieselben Radioprogramme hörten und sich allabendlich zur, auf allen Sendern durchgeschalteten Zeit im Bild Sendung einfanden. Eine Minderheit las zudem – entsprechend der jeweiligen politischen Zugehörigkeit – die wenigen verfügbaren Zeitungen.

Allfällige Erfahrungen außerhalb dieser verordneten Weltsicht beschränkten sich auf wenige Urlaubstage im Jahr. Das weitgehend unverständliche Leben in der Fremde verstärkte noch einmal die Identifizierung mit den als „eigen“ internalisierten Erwartungen an ein obrigkeitlich verwaltetes Leben zu Hause. Das betraf auch die Wahrnehmung einer frühen Generation von Widerständler*innen, die, sei es in Gestalt jugendlicher Halbstarker („Schlurfs“) oder eigensinniger Künstler*innen, den breiten Konsens hegemonialer Vorgaben, welche die restaurative Grundstimmung eher bestätigten, in Frage stellten.

Der Fortschritt ist unumkehrbar und der Staat sein zentraler Akteur

Über der Bereitschaft, sich in das Korsett an Vorgaben zu fügen, waberte das große Versprechen des Fortschritts. Dieses erzählte davon, dass es nach den schrecklichen Erfahrungen von Diktatur und Krieg künftig nur mehr in eine Richtung gehen könne. Die Durchsetzung des Prinzips der Moderne würde dauerhaft einen umfassenden Reformprozess in Gang halten und sicherstellen, dass es sukzessive allen immer besser gehen würde. Die Bildungspolitik der 1970er Jahre sollte dafür die entscheidenden Voraussetzungen schaffen und zusätzlich – so jedenfalls die Hoffnungen einer reformorientierten Sozialdemokratie der 1970er Jahre – einen umfassenden Emanzipationsschub auslösen, der helfen würde, immer mehr Menschen ein mittelständisch ausgerichtetes Leben zu ermöglichen (Der deutsche Soziologe Helmut Schelsky sprach in diesem Zusammenhang von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft).

Erster Widerstand gegen staatliche Bevormundung

Die Allmacht obrigkeitlicher Vorgaben wurde erstmals in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Frage gestellt. Spätestens damals trat eine zunehmende Anzahl vor allem junger Menschen auch öffentlichkeitswirksam auf den Plan, um sich dem staatlich verordneten Sog des einzig Richtigen, Wahren und Schönen entgegenzusetzen. Aus dem Geist der ausgegrenzten Subkulturen der 1960er Jahre erwuchsen nach und nach Alternativbewegungen, die ihren Anspruch auf eine eigene Interpretation von Welt gegen das herrschende Establishment zum Ausdruck brachten. So bildete eine Reihe neuer Kulturinitiativen rund um die Arena-Bewegung den Nukleus der Infragestellung einer rückwärtsgewandten Kulturpolitik, die sich weigerte, von ihrem paternalistischen Selbstverständnis abzurücken und alles tat, um den Bemühungen um kulturelle Selbstermächtigung entgegenzuwirken.

Diese neuen auf kulturelle Emanzipation gerichteten Kulturbewegungen paarten sich schon bald mit Kritiker*innen, die auf die zerstörerische Kraft der herrschenden Euphorie der technologischen Beherrschbarkeit der Welt aufmerksam zu machen versuchten. Mit den Initiativen gegen die Nutzung der Atomkraft in Zwentendorf oder den Bau eines Wasserkraftwerks in einer bislang unversehrten Donauauen-Landschaft sollte die Fortschrittsskepsis erstmals breitere Bevölkerungskreise erfassen.

Als den Staat die Kräfte verließen

Aber auch alle anderen Haltegriffe begannen brüchig zu werden. Für viele Sozialwissenschafter*innen stellt das Jahr 1983 eine entscheidende Wende dar. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gab eine erschöpfte Sozialdemokratie im Gleichklang mit den Sozialpartnern den aufkommenden neoliberalen Tendenzen nach und verabschiedete sich vom Konzept der Vollbeschäftigung als zentrale Voraussetzung des sozialen Zusammenhalts. Sie entsorgte damit auch gleich den Anspruch auf staatlich gewährleistete Solidarität und öffnete damit das Tor zur bis heute fortschreitenden Verschärfung sozialer Ungleichheit. Diese sollte in der Folge zu zunehmend unkalkulierbaren gesellschaftlichen Verwerfungen führen, wie sie auch im Rahmen der Bekämpfung der Pandemie als mittlerweile unversöhnliche Gegensätze zu spüren sind.

Eigentlich kein Wunder, dass mit dieser Grundsatzentscheidung gegen die Interessen weiter Teile der Bevölkerung die bislang völlig unangefochtenen großen Parteien zunehmend an ideologischer Glaubwürdigkeit verloren. Mit dem Bruch ihres (wohl schon immer illusionären) Versprechens, früher oder später allen Menschen ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen, setzte ein bis heute nicht versiegender Aderlass an Mitgliedern und Wähler*innen ein. Der Aufstieg Jörg Haiders und seiner FPÖ, der mit dem Versprechen, die „Altparteien mit einem nassen Fetzen vor sich hertreiben zu wollen“ macht die ganze Tragik dieses Niedergangs deutlich. In dem Maß, in dem die ideologische Entleerung der ehemals staatstragenden Parteien immer deutlicher wurde, füllten populistische Konzepte am rechten Rand das entstandene Vakuum. Ihr Erfolgsrezept bis heute besteht darin, den Menschen zu suggerieren, ihren lang unterdrückten Willen zu repräsentieren und diesen gegen die Interessen der alten Eliten durchzusetzen. Eine Hochzeit für Single Issue Parteien, die wie jüngst die MFG in Oberösterreich, aus dem Stand gegen die Anti-Corona-Politik zu punkten vermögen.

Die Kunst ist auch nicht mehr das, was sie einmal war

Der dramatische gesellschaftliche Transformationsprozess lässt sich aber nicht auf den Bereich der repräsentativen Politik beschränken. Auch im Bereich der Künste setzte spätestens in den 1980 Jahre ein theoretischer Diskurs ein, der die Bedeutung der Künste als gemeinschaftsstiftender Faktor in Frage stellte. Begnügte sich der italienische Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco noch mit der Beschreibung einer Tendenz in Richtung „Offenes Kunstwerk“ so dekretierte sein US-amerikanisches Pendant Arthur C. Danto gleich das „Ende der Kunst“ “. Beide folgten der Entwicklung der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die in ihrem Kampf gegen die Hermetik des Kulturbetriebs die Auflösung des etablierten Kunstbegriffs immer weitertrieben, um am Ende bei der Aussage zu landen, dass im Prinzip alles Kunst sein kann. Um damit eine gesicherte Trennlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu eliminieren und bei allen Nichteingeweihten für Ratlosigkeit zu sorgen („Das kann ich auch!“).

Die Konsequenzen dieser Auflösungen überkommener künstlerischer Sicherheiten haben mittlerweile selbst den Klassischen Musikbetrieb erreicht. In seinem Buch „Hauskonzert“ zitiert der Pianist Igor Levit u.a. Thelonius Monk. Dieser habe ihn mit dem Satz: „The Piano ain’t got no wrong notes“ inspiriert, die größtmögliche Freiheit bei der Interpretation der von ihm gespielten Musik anzustreben. Seither gäbe es für ihn keine „falsche“ Art mehr, ein Stück zu spielen – und umgekehrt auch keine für alle verbindliche. Es gäbe nur mehr „seine“ Art als die einzig richtige.

Zumindest indirekt verweist Levit damit auf einen, weit über den Kulturbetrieb hinaus geltenden Trend, den der deutsche Soziologe Andreas von Reckwitz mit dem Begriff der „Singularitäten“ zu fassen versucht hat. Ganz offensichtlich gelten selbst für Levit im wahrscheinlich konservativsten Segment des Kulturbetriebs keinerlei maßstabsetzenden künstlerischen Qualitätsvorstellungen mehr. Stattdessen sieht er sich als Repräsentant eines unbedingten Selbstbehauptungswillens, der den Einzelnen permanent einer alles umfassenden Konkurrenz aussetzt, dessen Schattenseite freilich ein Gefühl der totalen Entsolidarisierung ist.

Von der Wissenschaft gar nicht zu reden

Ähnliches lässt sich das für den Wissenschaftsbetrieb sagen. Auch wenn in den Tagen der Pandemie nochmals die eminente Bedeutung der Wissenschaft beschworen wird; zumindest für die Fraktion der Querdenker*innen scheint sie ihre Bedeutung verloren zu haben, wenn sie nicht gleich als ein Instrument der Eliten gegen sie interpretiert wird. Eine der Ursachen mag darin liegen, dass – wie in den Künsten – schon lang vor der Pandemie ein Relativierungsprozess eingesetzt hat, der sie ihres Monopols als der Aufklärung verpflichteten Interpretationsmonopols der Welt beraubt hat.

Ein wesentlicher Markstein dabei könnte die missverständliche Interpretation des Diktums „anything goes“ von Paul Feyerabend gewesen sein. In seinen Überlegungen „Wider den Methodenzwang“ aus 1975 hat der österreichische Wissenschaftstheoretiker ein Plädoyer für die Vielfalt der Methoden beim (wissenschaftlichen) Erkenntnisgewinn gehalten. Die Überinterpretation seiner strikt methodischen Überlegungen hat in der Folge eine Diskussion weit über die Fachgrenzen hinaus ausgelöst, ob sich damit der Anspruch der Wissenschaft, intersubjektive Wahrheitsfindung zu betreiben, nicht gleich als Ganzes ad absurdum geführt hätte. Um damit rationale Erkenntnis mit irrationalem Glauben auf eine gleiche Stufe der Weltwahrnehmung zu stellen.

Nun wissen wir bereits seit Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ von den paradoxen Wirkungen eines rein rationalen Denkens, wenn es sich von seinen menschlichen und damit sinnlich-emotionalen Grundlagen zu befreien sucht. Der Erziehungswissenschaftler Kersten Reich hat zuletzt noch einmal darauf hingewiesen, dass Wissen erst zu einem solchen wird, wenn es emotionale Grundlage findet. Oder anders gesagt: Es gibt kein Wissen ohne Glauben.

Mittlerweile aber scheint das Pendel von der Rationalität immer mehr zur Emotionalität auszuschlagen, um so dem Gefühlshaushalt des*der Erkennenden größere Bedeutung zuzumessen als seinem*ihrem Verstand. Also macht sich auf im Bereich der Wissenschaft ein Primat der subjektiven Befindlichkeit breit. Zu Ende gedacht lassen sich damit die Unterschiede zwischen News und Fakenews zu einer Form der Herrschaftssicherung uminterpretieren. Umso mehr in einer emotional dauererregten Bevölkerung, die immer weniger Probleme mit der Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat. Und so von Populist*innen zunehmend schamlos in die Irre geführt wird. Die grassierende Wissenschaftsfeindlichkeit, die in Österreich eine lange Tradition hat, ist ein beredter Ausdruck davon.

Als der Schule die Bildung abhandenkam

Verschärft werden diese Auflösungstendenzen durch eine Bildungspolitik, die sich immer weniger an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, sondern an den, von Vertreter*innen der Wirtschaft vorgegebenen Zurichtungserfordernissen am Arbeitsmarkt. Dafür aber bedarf es eher Anpassung denn Erkenntnis und Gemeinsinn. Im Vergleich dazu wird die Fähigkeit zur Selbstreflexion und soziales Lernen im Individualisierungstaumel zu einem vernachlässigbaren Unterrichtsinhalt. Ein weiterer Grund, warum die Grenzen zwischen wahr und falsch in der Wahrnehmung einer wachsenden Anzahl von Menschen durchlässiger geworden.

Auch die Medien unterlagen in diesem Zeitraum einem grundstürzenden Transformationsprozess. Sie verloren ihre Stellung als Vermittlerinnen einer konsistenten, auf soliden Recherchen basierenden Weltsicht. Als sensationsgeile Akteurinnen am hart umkämpften Medienmarkt haben sie viel an allgemeiner Glaubwürdigkeit eingebüßt; ihre Stellung als vierte Macht im Staat scheint heute mehr denn je bedroht, wenn sie als eine unter vielen Informations- und Meinungsquellen firmieren.

Social Media als Surrogat des öffentlichen Gesprächs – Alle sprechen über alles

Ihren Platz als herausragende Repräsentation von Öffentlichkeit haben in großem Ausmaß an die – jedenfalls vordergründig – wesentlich stärker auf Mitwirkung und Interaktion angelegten Social Media übergeben. In ihnen geben nicht mehr professionelle Fachleute die Inhalte vor. Jeder kann scheinbar in gleicher Weise mitreden, Informationen weitergeben, seine Meinung kundtun und zu Aktivismus aufrufen. Als solche sind Social Media vielleicht die überzeugendste Ausdrucksform dafür, dass der Staat und seine Agenturen sein Monopol der Weltinterpretation verloren hat und an seine Stelle die Bürger*innen selbst getreten sind, die, jeder und jede für sich, Wahrheit, Schönheit und Richtigkeit kreieren bzw. sich in temporären Allianzen denen anschließen kann, die mit ihnen zumindest temporär auf einer Wellenlänge zu sein scheinen.

Es gehört zur Natur der Social Media (jedenfalls noch in Europa), dass sie nicht vor nationalen Grenzen Halt und grenzüberschreitende Kommunikationen möglich machen, wie sie noch in den 1970er Jahren mit ihren konsistenten Weltbildern völlig undenkbar erschienen. Die nationalen Grenzen haben in diesem Zeitraum auch physisch nicht verhindern können, dass sich die Zusammensetzung der nationalen Gesellschaften beträchtlich verändert hat. Konnten die hunderttausenden Gastarbeiter*innen, die seit den 1970er Jahren ihren Weg nach Österreich fanden, von den damals herrschenden Eliten noch als ein öffentlich ignorierbares Randphänomen gesehen werden, so wurde spätestens seit den 1990er Jahren immer deutlicher, dass auch Österreich in eine historische Phase der Diversität eintritt und damit für viele Bürger*innen das hegemoniale Selbstverständnis der österreichischen Nachkriegsgesellschaft weitgehend unverständlich bleiben muss. Stattdessen durchziehen seither die österreichische Gesellschaft ganz unterschiedliche Weltsichten samt dazugehöriger Handlungsanleitungen, die sich – über die geltende Rechtsordnung hinaus – nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

Über den Verlust des Eindeutigen und seine verunsichernde Wirkung auf die Menschen

Spätestens die Auswirkungen der Pandemie haben gezeigt, dass nicht nur Österreich vor einer alle gesellschaftlichen Stützen betreffenden Verunsicherung stehen: Staat, Parteien, Kirchen, der Kultur- und der Wissenschaftsbetrieb haben viel von ihrer Autorität verloren. An ihre Stelle ist eine tiefsitzende Verunsicherung getreten, die sich einerseits aus der wachsenden und irgendwann nicht mehr aushaltbaren Komplexität der Lebenswelten und andererseits aus dem gebrochenen Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Leistung und dem damit verbundenen Zusammenbruch des solidarischen Zusammenhalts speist. Der deutsche Soziologe Armin Nassehi spricht in seiner jüngsten Publikation „Unbehagen“ von einer „überforderten Gesellschaft“.

In der dominant gewordenen Erfolgsgesellschaft, in der jede*r zumindest für eine Viertelstunde Berühmtheit erlangen kann (Andy Warhol) sind die traditionellen soziale Hierarchien prekär geworden und haben zu einem weitgehenden Zusammenbruch eines überkommenen Standesbewusstseins geführt; immer größere Teile der Bevölkerung fallen gleich ganz aus der öffentlichen Wahrnehmung heraus. Um diesem unkontrollierten Auseinanderdriften wirksam zu begegnen, haben die überkommenen hegemonialen Instanzen bislang keine überzeugenden Alternativen zu entwickeln vermocht. Stattdessen haben die bisherigen Versuche, diesen Verzerrungs- und Auflösungserscheinungen zu begegnen, die seit den 1980er Jahren wachsenden Krisenerscheinungen weiter verschärft.

Rechtspopulistische Bewegungen als vordergründige Gewinner

Als die großen Gewinner dieser tiefen Verunsicherung gehen bisher rechtspopulistische Bewegungen hervor. Ihre Strategien reichen mittlerweile bis tief in das Establishment. Der Versuch von Sebastian Kurz, für sein türkises Projekt in weiten Teilen die FPÖ-Agenda zur Stimmenmaximierung zu übernehmen, ist dafür das jüngste Beispiel. Sie legen es darauf an, den Menschen zu suggerieren, noch einmal eine alte soziale Ordnung in ihr Recht setzen zu können. Dazu wird u.a. ein essentialistischer Kanon einer einzig wahren nationalen Kultur gegen alles Fremde ins Feld geführt, auch wenn ihre Vertreter*innen nicht sagen können, wie diese inhaltlich ausgestaltet werden soll.

Radikalere Versionen richten sich nicht nur gegen liberale Weltsichten. Sie stellen auch gleich die demokratische Verfasstheit als Mittel des kollektiven Interessensausgleichs in Frage. Stattdessen wagen sie sich von Vorstellungen der „illiberalen Demokratie“ (Viktor Orban) auf immer autoritäreres Terrain vor, um den Menschen ihre Version von Sicherheit mit Hilfe eines starken Führers zu vermitteln. Dies gelingt umso mehr, als weltweit die Attraktivität autoritärer Herrschaftsformen zunimmt und die Europäische Union bislang keine wirkungsvollen Mittel gefunden hat, in ihren Mitgliedsstaaten die Überzeugungskraft zugunsten der Wirksamkeit demokratischer Errungenschaften zu festigen.

Die Wanderung der Kulturbewegung von links nach rechts

Aber auch die linke Seite vermag der Versuchung zur Vertiefung gesellschaftlicher Gräben immer weniger zu widerstehen. Der Versuch diverser Identitätsbewegungen, Solidargemeinschaften gegen den großen Rest der Gesellschaft zu organisieren macht deutlich, dass sich die Vorstellung einer alternativen Kultur aus den 1970er Jahren nachgerade in ihr Gegenteil verkehrt hat. Ging es damals darum, sich der eigenen sozialen Position bewusst zu werden, um von dort an einer gemeinsamen Emanzipationsgeschichte mitzuwirken., so erschöpfen sich die politischen Intentionen heute zunehmend darin, das Eigene gegen das Andere zu verteidigen. Dabei schlägt die eigene Betroffenheit den Kampf um soziale Enthierarchisierung. Und der Anspruch, nicht dem Mainstream angehören zu wollen, wird zur einzig verbleibenden politischen Haltung.

Dass sich eine solche Verteidigungshaltung weitgehend mit den Absichten rechter identitärer Bewegungen trifft, liegt auf der Hand. Immerhin hat das Aufkommen dieser neuen sozialen Bewegungen zu einer Neuauflage eines postkolonialen Diskurses geführt, der die Frage der individuellen und kollektiven Diskriminierung innerhalb und außerhalb der nationalen und europäischen Grenzen noch einmal ins Zentrum rückt.

Wie sehr sich in diesem Zusammenhang die politischen Positionen verschoben haben, hat zuletzt eine Studie von Oliver Nachtwey und Nadine Frei ergeben, die sich mit den „Quellen des Querdenkertums beschäftigt. Die Autor*innen machen deutlich, dass viele der aktuellen Mitstreiter*innen aus den alternativen Milieus der 1970er und 1980er Jahre stammen, die sich damals für ein freies und selbstbestimmtes Leben eingesetzt haben. Ihre negative Einstellung gegenüber dem herrschenden Mainstream ist offenbar bis heute so stark geblieben, dass sie bereit sind, ihre mühsam errungene Individualität gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch gegen die Einsicht solidarischen Handelns in der pandemischen Ausnahmesituation zu verteidigen trachten.

Bildungspolitiker*innen aufgepasst: „Wir zerlegen gerade die Grundlage der Gesellschaft“ (Hopmann)

Auch die Bildungspolitik reagiert – wenn auch destruktiv – auf die grassierende Verunsicherung indem sie zu den alten Formen der für alle verbindlichen Wissensvermittlung inklusive begleitender Testeuphorie zurückkehrt. Der Erziehungswissenschaftler Stefan Hopmann warnt in einem Beitrag „Wir zerlegen gerade die Grundlage der Gesellschaft“ in diesem Zusammenhang davor, mit einer solchen Rückwendung die Grundlagen der Vergemeinschaft noch weiter zu untergraben.

In all diese Auflösungserscheinungen samt ihren zum Teil gefährlichen, zum Teil hilflosen Gegenreaktionen platzt aktuell die nunmehr bereits zwei Jahre währende Pandemie als die wahrscheinlich größte gesellschaftliche Herausforderung nach dem 2. Weltkrieg. Zu ihrer Bekämpfung soll ein über Jahrzehnte geschwächter Staat (Wolfgang Schüssels Pamphlet: „Mehr privat, weniger Staat“ stammt aus 1983!) noch einmal mit all seiner verbliebenen Macht das Ruder in die Hand nehmen und muss dafür massiv in die Freiheitskräfte der Menschen eingreifen.

Geht es nach obigen Überlegungen dann erscheint der Umstand, dass sich das dagegen Aufbegehren aus den verschiedensten Ecken manifestiert, nur zu logisch. Die frustrierten Skeptiker*innen, bei denen sich ein langjähriger Hass gegen Politik, Wissenschaft, auch der Medizin, den Medien, gegen Bildungseinrichtungen, die sie als gegen sie gerichtet empfinden, auch gegen die Arroganz des Kulturbetriebs aufgestaut hat, finden endlich ein Ventil und schließen sich zu einer, wenn auch unheiligen Allianz zusammen, um ihren Widerstand gegen das Establishment, das ihnen noch einmal sagen will, wie es geht zu artikulieren.

Für einen Staat, der sich nochmals auf seine Stärke besinnt

Die einzige sinnvolle Strategie staatlicher Akteur*innen wäre es, sich gerade jetzt nochmals ihrer Stärke zu besinnen und die sich daraus ergebende Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Ihre zentrale Aufgabe besteht heute darin, gegen alle Tendenzen der weiteren Fragmentierung noch einmal Gemeinsamkeit und Verbindlichkeit herzustellen. Und damit der grassierenden Polarisierung entgegenzuwirken. Der überraschend bestellte Bundeskanzler Alexander Schallenberg hat – offenbar seinem aristokratischen Dünkel folgend – mit dem Vertiefen der Gräben das genauer Gegenteil versucht und damit seine Unfähigkeit zur Politikgestaltung unter Beweis gestellt. Sein ebenso überraschender Nachfolger Karl Nehammer hat bei seiner Amtseinführung schon verbindlichere Töne angeschlagen, in der Hoffnung, damit möglichst viele Bürger*innen in ein gemeinsames Boot holen zu können. Er wäre gut beraten, noch einmal Hans Rauschers Kommentar „So hat man das damals gemacht“ nachzulesen, in dem dieser davon berichtet, wie es der Bundesregierung in den frühen 1990er Jahren gelungen ist, die skeptische Haltung der Bürger*innen gegenüber dem EU-Beitritt mit Hilfe einer professionellen Kampagne und großem persönlichem Einsatz umzudrehen.

Nicht erst die Entwicklung seit den 1970er Jahren zeigt, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft in zentralen gesellschaftlichen Fragen immer Widerstand gegeben hat. Und dass es immer schon die Aufgabe des Staates war, sein staatliches Gewaltmonopol dort einzusetzen, wo dieser Widerstand die demokratischen Errungenschaften bedrohende Züge angenommen hat.

Auch wenn die Bekämpfung der Pandemie im Moment alles andere überstrahlt, so lässt sich das wachsende Heer derer, die mittlerweile fast täglich gegen die Maßnahmen der Regierung demonstrieren, in zwei Richtungen lesen. Als Rückfall in kollektiven Irrationalismus einerseits und als aktuelle Bestandserhebung eines gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses, der gerade in Krisenzeiten seltsame Blüten schafft, andererseits.

Und so stehen wir zum einen auf den Ruinen eines aus den Fugen geratenen kapitalistischen Wirtschaftsmodells, das in den letzten Jahren beträchtliche Emanzipationspotentiale freigesetzt hat. Es hat aber zum anderen ein Ausmaß an Kollateralschäden, etwa in Form von wachsendem Irrationalismus hervorgebracht, gegen deren Bekämpfung sich ehemals dominanten Agenturen der ideologischen Herrschaftssicherung als zunehmend machtlos erweisen. Das Ergebnis zeigt sich in wachsenden Spannungsverhältnissen, die sich über alle gesellschaftlichen Bereiche und damit von Klimakrise bis zu sozialer Ungleichheit erstrecken. Dahinter lässt sich nur mehr schwer der Befund verbergen, dass die Zeit, in der einige wenige Instanzen über die Hegemonie verfügten, um ihre Weltsicht alternativlos durchzusetzen, jedenfalls fürs Erste vorbei ist.

Die Welt besteht nicht nur aus Querdenker*innen

Wenn die negativen Konsequenzen im Phänomen der Querdenker*innen zurzeit das Gespräch bestimmen, so geraten alle anderen Initiativen nur zu rasch aus dem Blick, die gegen alle Verunsicherung eine neue politische Agenda formuliert haben. Ihre Themen reichen von der Wahrung der Menschenrechte, Antirassismus, Postkolonialismus, Klimawandel und Umweltschutz, Ressourcenschonung, Bildung bis zur Erprobung neuer Modelle der Gemeinwirtschaft. Damit schaffen sie Perspektiven für die Zukunft, die sich aus solidarischem Denken und Handeln ergeben. Sie weisen auf den Weg in eine neue Phase der Politisierung, die sich nicht in den traditionellen Formen repräsentativer Demokratie erschöpft.

Geht es nach den Erwartungen vieler junger Menschen, dann stehen wir heute vor der Aufgabe, Politik neu zu denken und in zum Teil ganz neue Verfahren zu gießen. Das Erproben von Mitbestimmungsmodellen, von Bürger*innenbeteiligung, einer Installierung von neuen Governance-Strukturen oder Bürger*innenräten stehen für diesen durchaus optimistisch machenden Trend.

Voraussetzung dafür ist freilich die Wiederherstellung von Öffentlichkeit bzw. von öffentlichen Räumen, wo Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe aufeinander treten, sich austauschen, verhandeln und zu Kompromissen kommen. Dem Kulturbetrieb könnte nach seiner Transformation zu einer bürger*innennahen Einrichtung eine wichtige Aufgabe zukommen.

In Zeiten der Pandemie sehen wir vor allem die Zentrifugalkräfte am Werk, die mindestens ebenso wirksamen Zentripetalkräfte werden unterschätzt. Und doch sind sie es, die entscheidend sein werden bei der Deutungshoheit für ein besseres Morgen. Eine solche, so lernen wir aus der Geschichte des Emanzipationsprozesses der letzten 50 Jahre will nicht mehr als sakrosankt vorgegeben werden. In einer streitbaren Zivilgesellschaft muss diese von uns allen in einem emanzipierten Zeitalter täglich neu erkämpft werden.

klimkin/pixabay https://pixabay.com/de/photos/blume-leben-gelbe-blume-riss-w%c3%bcste-887443/

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