Solidarität – ein schwacher Begriff mit viel Potential

"Es geht nicht um unterschiedliche Auffassungen, wie man mit Migranten- und Flüchtlingsbewegungen umgehen soll. Es geht nicht darum, dass man »nicht alle aufnehmen« kann. Es geht schlicht um ein Mindestmaß an Zivilisiertheit: Wer gerade dabei ist, zu ertrinken, der ist weder Flüchtling noch Migrant, der ist weder Afrikaner noch Europäer, weder Muslim noch Christ, der ist ein Mensch, der gerade dabei ist, zu ertrinken, und man muss alles unternehmen, um ihn zu retten." (Michael Landau)

Ein Spaziergang durch die Salzburger Landschaft macht unmittelbar deutlich, welchen Zugewinn an Wohlstand viele Menschen in den letzten Jahren erfahren haben. Da reihen sich große schmucke Häuser aneinander; daneben erheben sich Kräne, um die nächsten Bauvorhaben zu realisieren. Das alles in einer rundum idyllischen Landschaft, in der nichts mehr vom entbehrungsreichen Kampf all der früheren Generationen erzählt, die gezwungen waren, der Natur mühsam ihre Lebensgrundlagen abzuringen.

Alles in bester Ordnung, könnte man meinen; den Menschen geht es so gut wie nie zuvor und sie können ihre – noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar – privilegierten Lebensverhältnisse, die sie sich geschaffen haben, in vollen Zügen genießen. Das tun sie aber nicht. Geht es nach dem aktuellen Wahlverhalten dieser neuen Wohlstandsgeneration, dann grassiert eine Angst, die vor einer diffusen Ahnung gespeist wird, der erreichte Wohlstand könnte schon bald wieder verloren gehen.

Dafür verantwortlich gemacht wird nicht die prekäre Logik einer Form des Wirtschaftens, die in der permanenten Verschärfung sozialer Ungleichheit ihre eigenen Grundlagen untergräbt. Verantwortlich gemacht werden die, die es nicht so weit gebracht haben und jetzt nach Österreich drängen. Unterstellt wird ihnen, sie würden sich all das nehmen wollen, was man sich selbst geschaffen hat: In der Rollenzuschreibung als Ausländer, Fremde, Flüchtlinge, Eindringlinge oder Feinde, werden sie nur zu rasch zu Gruppen zusammengefasst, gegen die man sich, wenn notwendig, mit allen gebotenen Mitteln zu Wehr zu setzen hat. Da spielt es keine Rolle, dass einzelne Vertreter*innen im oben geschilderten Ambiente physisch gar nicht in Erscheinung treten.

Was geschah eigentlich mit den Leistungsbereiten des 13. Jahrhunderts?

Es ist, als würde eine historische Ausnahmesituation individueller Wohlstandsgenerierung von einer wachsenden Verunsicherung begleitet, das alles würde so nicht ewig weitergehen (man stelle sich für einen Moment vor, Menschen hätten mit vergleichbarer Anstrengung versucht, in den Verhältnissen des 13. Jahrhunderts ihr Leben individuell zu verbessern). Wichtige Munition dafür bilden tägliche mediale Botschaften, die darauf hindeuten, das Kartenhaus „Wohlstand durch Leistung“ könnte schon bald zusammenfallen. Und was danach kommt, dafür fehlt jeglicher Plan – außer die Schimäre von den Schuldigen in Gestalt von Fremden, deren miserable Lebensverhältnisse die eigene Privilegierung nur zu deutlich vor Augen führt.

Beim Spaziergang durch dieses Wohlstandsterrain aus – übrigen zumeist völlig menschenleeren –herausgeputzten Häuserzeilen überkam mich die Frage, wo und zu welchem Anlass die Bewohner*innen noch etwas von der Idee der Solidarität erfahren. Ich nehme an, dass die Kirche als verbindliche moralische Instanz zuletzt beträchtlich an Einfluss verloren hat. Aber auch die traditionellen politischen Parteien haben ihre Ansprüche auf eine solidarische Vergemeinschaftung zunehmend aufgegeben und sind in unterschiedlicher Intensität auf den neoliberalen Zug der Individualisierung („Jeder ist seines Glückes eigener Schmied“) aufgesprungen. Darüber hinaus versuchen sie, auf dem Trend wachsender sozialer Polarisierung zu surfen, selbst dann, wenn sie dabei elementare ideologische Wertvorstellungen verraten (dies betrifft ebenso eine türkis eingefärbte Volkspartei, die selbst eingefleischte Konservative wie Christian Konrad fragen lässt, wo sie ihre christlich-sozialen Werte gelassen hätte wie eine Sozialdemokratie, in der selbst führende Vertreter immer wieder der Versuchung unterliegen, zugunsten des eigenen Machterhalts die FPÖ in der Migrationsfrage „überkickln“ zu müssen.

Und so ist es alles andere als verwunderlich, wenn in einer jüngsten Umfrage des Wochenmagazins profil rund 67% der befragten Österreicher*innen meinen, der gesellschaftliche Zusammenhalt in Österreich sei gefährdet. (https://www.profil.at/oesterreich/umfrage-zusammenhalt-6191667).

Solidarität als Allerweltsbegriff

Die Indizien einer kollektiven Vereinzelung bedeuten nicht, dass der Begriff der Solidarität seine positive Aufladung verloren hätte. Solange man nicht genau sagen muss, was man darunter versteht, eignet er sich nach vor gut für Sonntagsreden. Es gibt wohl kaum jemand, der von sich sagen möchte, er oder sie lege Wert darauf, unsolidarisch zu handeln. Und doch: wäre da nicht Reihe von NGOs, die in Ausübung ganz praktischer Hilfeleistung für in Not geratene Menschen dem Begriff im wahrsten Sinn Leben einhauchen (und dabei zunehmend Kritik aus dem rechtspopulistischen Eck einstecken müssen), verschwimmt zunehmend der Inhalt dessen, was gemeint sein könnte.

In einem Klima zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung, dessen einzig verbleibender Klebstoff in einer nationalistischen Rhetorik besteht, spricht viel für die Vermutung, dass den europäischen Gesellschaften mit dem Verlust einer konkreten Ausgestaltung von Solidarität ein zentrales Bestimmungsstück abhanden zu kommen droht.

Doch zuerst die Frage, worüber wir eigentlich reden: Handelt es sich bei Solidarität um einen Moralbegriff, der sich in einer Linie mit Hilfsbereitschaft, Mitmenschlichkeit oder paternalistischer Barmherzigkeit begreift? Oder geht es um kluges politisches Handeln, für das ein egalitäres und auf wechselseitiges Miteinander die unabdingbar notwendige Voraussetzung bildet. Oder werden damit soziale Bindekräfte benannt, mit Hilfe derer vielfältige Interaktionsformen für eine gelingende Lebensführung realisiert werden können. Oder aber beschränkt sich Solidarität auf die Existenz von wirksamen Institutionen, die Menschen gegenüber den wachsenden Verlust- und Verunsicherungserfahrungen in einer komplex und unübersichtlich gewordenen Welt schützen sollen?

Bei der Auflistung der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten von Solidarität fällt auf, dass das Wort zu einem Allerweltsbegriff („Containerbegriff“) zu verkommen ist, in der jeder/jede alles Mögliche hineindeuten kann, ohne sagen zu müssen, um was es konkret geht. Hermann-Josef Große Kraft spricht in diesem Zusammenhang von einer „Untertheoretisierung“ eines großes Hoffnungs- und Sehnsuchtswortes, die der Beliebigkeit seiner Interpretation Tür und Tor öffnen würde.

In seiner großen Studie „Solidarität und Solidarismus“ (Hermann-Josef Große Kracht: Solidarität und Solidarismus (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4181-3/solidaritaet-und-solidarismus/) begibt sich Große Kraft auf eine historische Spurensuche und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Ihm zufolge steht am Beginn von elaborierten Solidaritätskonzepten nicht die Französische Revolution sondern ganz im Gegenteil die ins Abseits gedrängte katholische Reaktion, die in den 1820er Jahren dazu aufrief, sich mit den feudalen Unrechtsverhältnissen des ancien regime zu solidarisieren. Es würde dem göttlichen Bauplan der Gesellschaft zuwiderlaufen, die ständisch-ungleichen Verhältnisse mit revolutionären Mitteln verändern zu wollen. Statt gälte es, sich in die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse, weil gottgewollt zu fügen.

Als womöglich einflussreicher sollten sich die Diskurse um die Solidarität - als einem „späten, spezifisch postliberalen Kind der europäischen Moderne“ - im Rahmen des aufkommenden industriellen Zeitalters erweisen. Als zentraler Ausgangspunkt sollte sich einerseits die systemische Produktion sozialer Ungleichheit, die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Ökonomie verbunden war und ist, erweisen. Sie schrie förmlich nach sozialen Ausgleichsverfahren, die nur in gemeinsamer Anstrengung der Benachteiligten implementiert werden konnten. Mit dem Wegfall einer gottgegebenen Ordnung stand andererseits das Verhältnis von Individuum, Staat und Gesellschaft auf neue Weise zur Disposition, wofür mit Konzepten von Auguste Compte und Émile Durkheim eine damals aufkommende Soziologie neue, auf Solidarität begründete Antworten zu finden suchte.

Der französische Solidarismus - Da haben Theoretiker schon viel weiter gedacht und sind doch heute weitgehend vergessen.

Im Mittelpunkt der Überlegungen von Große Kraft steht eine französische Sonderentwicklung in Form des „solidarisme“ (https://fr.wikipedia.org/wiki/Solidarisme). Es waren die Philosophen und Politiker wie Alfred Fouillée, Charles Gide und Léon Bourgeois (Minister mehrerer französischer Regierungen, Friedensnobelpreisträger 1920 und einer der Väter des Völkerbundes) die versucht haben, mit ihrem Konzept des Solidarismus einen „dritten Weg“ jenseits von Individualismus und Kollektivismus einzuschlagen. Zwischen unbeschränkter Freiheit kapitalistischen Wirtschaftens und der Unterordnung unter das Fantasma beliebiger Planbarkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens schufen sie die wesentlichen solidaritätstheoretischen Grundlagen moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Ihre zentralen Akteure scheinen heute weitgehend vergessen, obwohl ihren Überlegungen viel Anregungs- und Innovationspotential innewohnt, das bis heute uneingelöst geblieben ist. Und so müssen wir uns mit einer weitgehend entleerten Worthülse begnügen, die trotz vielfachen Missbrauches durch Gewaltregime und ihren Versuchen der Legitimation aller Arten von Menschenrechtsverletzungen, weitgehend unreflektiert ein Überleben in den europäischen Wortschätzen gefunden hat. Umso erstaunlicher, dass jüngst der französische Präsident Emanuel Macron in seinen aktuellen sozialpolitischen Überlegungen darauf nochmals Bezug auf dieses historische Phänomen genommen hat (http://www.lefigaro.fr/economie/le-scan-eco/explicateur/2018/06/13/29004-20180613ARTFIG00232-qu-est-ce-que-le-solidarisme-evoque-par-macron-dans-son-discours-social.php ).

Wenn Große Kraft auf „warme“ und „kalte“ Assoziationen zum Solidaritätsbegriff hinweist so verbindet er das spezifisch Warme mit einem Gefühl von Nähe und Gemeinschaft, von Mitgefühl für die Armen und Schwachen und einem dementsprechenden Zusammenhalt und so mit einer besonderen politisch-moralischen Aufladung weitgehend unübersetzbarer Wunschvorstellungen eines gelingenden Zusammenlebens. Diese Dimension konnte im Kontext der „Willkommenskultur“ gut ausgelebt werden.

Im Unterschied dazu ortet er im Solidarismus eine Hinwendung zu einer moral- und tugendfreien inhaltlichen Ausgestaltung von „Solidarität“, die sich im Rahmen „unerbittlich geltender Naturgesetze“ auf einen streng sozialwissenschaftlichen Begriff bringen lassen sollte. In den Augen ihrer Proponenten lag die besondere Bedeutung von Solidarität darin, ein ebenso unhintergehbares wie wissenschaftlich begründetes postliberales Komplement des kapitalistisch verfassten Industriesystems zu bilden, ohne das ein solches rasch zusammenbrechen würde. Dieser Anspruch findet sich in der rechtlichen Normierung des Wohlfahrtsstaates wieder.

Individuelle Entwicklung ist ohne Berücksichtigung seiner sozialen Verhältnisse nicht denkbar.

Im Gegensatz zur, in der Französischen Revolution gefeierten „fraternité“, die Léon Bourgeois als Akt der Freiwilligkeit kläglich gescheitert sieht, setzte er auf das Prinzip einer „dette social“ (soziale Schuld) als notwendige Voraussetzung für klar definierbare Rechtsvorschriften zur Herstellung eines umfassenden sozialen Ausgleichs. Dazu definiert er jeden Menschen von Geburt an als „Schuldner der Gesellschaft“, ohne die er nicht einen Tag lang in der Lage wäre zu überleben:

„Jeder Mensch ist Nutznießer der Ergebnisse vergangener und gegenwärtiger Mühen der Menschheit. Ohne diese könne er seine Bedürfnisse nicht befriedigen und keine seine Fähigkeiten entfalten, ohne aus dem unermesslichen Reservoir der von der Menschheit zusammengetragenen Nützlichkeiten zu schöpfen“.

Um diese „Schuld“ abzutragen würden jedem Individuum Einschränkungen seiner Freiheiten abverlangt; Und zwar kompensatorisch zur jeweiligen sozialen Konstellation des einzelnen Individuums, die die einen aufgrund ihrer sozialen Ausstattung davon profitieren ließe während die anderen darunter zu leiden hätten.

Es gehört zu den unterschätzten Infamien der Ideologie einer „Konkurrenzgesellschaft“ (siehe dazu einen Betrag von Hartmut Rosa bereits aus 2006: Wettbewerb als Interaktionsmodus: Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft) mit ihren unentwegten Appellen an individuelle Selbstentfaltung, den Umstand sozialen Eingebettetseins mit allen daraus sich ergebenden Rechten und Pflichten ins Hintertreffen treten zu lassen. Immerhin könnte es sein, dass mit einem diesbezüglichen Wissen die neue Generation der Salzburger Hausbesitzer darauf gestoßen wäre, dass sich ihr wohlerworbener Wohlstand nicht ausschließlich individueller Leistung verdankt, sondern mindestens in gleicher Weise dem angesprochenen Reservoir geschuldet ist, an dem alle Menschen, freilich in sehr ungleicher Weise partizipieren (die Mär von der individuellen Leistung, die entscheidend sei für Art und Ausmaß individuellen Wohlstands ist zuletzt Nina Verheyen in ihrer Studie „Die Erfindung der Leistung“ auf den Grund gegangen (https://www.perlentaucher.de/buch/nina-verheyen/die-erfindung-der-leistung.html)). Diese Erkenntnis, richtig interpretiert, könnte in dem Maß zu einer Verringerung von Angst der neuen Wohlstandsbürger*innen führen in dem Maß die Einsicht steigt, im Kampf um Aufstieg ebenso wie gegen den potentiellen Niedergang nicht – wie ein hypertropher Individualismus suggeriert – ausschließlich auf sich allein gestellt zu sein.

Die Zufälligkeit der sozialen Zugehörigkeit oder Die Welt spielt Lotto mit uns.

Wenn stimmt, dass zu dieser „dette social“ auch gehört, dass die einen von der gesellschaftlich angehäuften „sozialen Ausstattung“ (le outillage social) profitieren während andere diese nicht oder nur sehr unzureichend zu nutzen vermögen, dann liegt die Frage der solidarischen Umverteilung auf der Hand. Immerhin kommen wir angesichts des Flüchtlingselends um die Einschätzung nicht herum, dass die Welt per se nicht gerecht ist sondern mit uns als völlig zufällig in dieses oder jenes soziale Milieu Hineingeborene Lotto spielt, dessen Ausgang wir individuell nur höchst unzureichend beeinflussen vermögen (Dass mit diesem Zufallsprinzip sehr unterschiedlich umgegangen werden kann, bewies zuletzt der Presse-Querschreiber Christian Ortner, der in einem Kommentar empfiehlt, auf Grund wachsender sozialer Heterogenität das System der repräsentativen Demokratie gleich ganz hinter sich zu lassen und stattdessen bei der Auswahl künftiger Generationen politischer Entscheidungsträger*innen einfach zu würfeln (https://diepresse.com/home/meinung/quergeschrieben/christianortner/5477990/Muss-Demokratie-durch-anderes-ersetzt-oder-nur-anders-werden)).

Auf der Suche nach einer neuen „sozialen Vernunft“, die Individualität und Soziabilität, personale Freiheit und soziale Verpflichtung in einem zeitgemäßen Konzept der Solidarität zu verbinden vermag ist zu berücksichtigen, dass sich die Väter des Solidarismus auf die Durchsetzung einer industriellen Produktionsweise beziehen konnten, die heute an ihr historisches Ende gerät. Die Frage ist, wie sich ursprünglich für das industrielle Zeitalter konzipierte Solidaritätsvorstellungen in eine gleichermaßen global und digital ausgerichteten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft hinüberretten und weiterentwickeln lässt, in der die Lebensverhältnisse zunehmend auseinander klaffen und neben traditionell Beschäftigten, Arbeitslosen und Beschäftigungslosen, Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen, neuen Selbstständigen, Anspruchnehmer*innen von Grundeinkommens und Besitzern ungeheurer Reichtümer die Szene bestimmen.

In Erinnerung an die Solidaritätsvorstellungen der katholischen nachrevolutionären Reaktion ist die Wahrscheinlichkeit, dass freiwillige „Charity“-Events der kleinen Gruppe der Reichen und Wohlhabenden, die darauf hinauslaufen, die bestehenden sozialen Unterschiede zur Schaffung sozialer Distinktionsgewinne zu vertiefen, das von den Solidaristen ursprünglich eingeforderte Recht auf umfassende soziale Teilhabe nicht ersetzen werden können. Eher schon werden sich die Bedürftigen von heute selbst auf die Suche nach neuen Solidargemeinschaften machen müssen. Zusammenschlüsse von sozial Benachteiligten waren immer schon die Voraussetzung dafür, umgemeinsam erkannte Interessen in einem solidarischen Gefüge zu artikulieren und institutionell durchzusetzen.

National sticht sozial – auf immer neue Weise. Aber wie lange noch?

Diese Suche wird nicht nur auf Grund wachsender Segmentierung erschwert. Neue Problemlagen zeigen sich auch anhand der Auswirkungen einer Globalisierung, die nicht nur beim Geld-, Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht mehr vor nationalen Grenzen Halt macht sondern uns das Schicksal von Menschen auf der ganzen Welt so nahe bringt, dass wir uns der Anerkennung ihres Einschlusses in die eine Menschheit und ihrem Recht auf gegenseitigen Respekt und Anerkennung (im Bezug auf die Anerkennung gemeinsamer Technologiestandards, wo immer die Produkte herkommen tun wir das längst) immer schwerer verschließen können.

Wenn schon vor mehr als hundert Jahren der Ruf eines unterdrückten Proletariats „Hoch die internationale Solidarität!“ erschallte, so verwies das auf ganz bestimmte soziale Loyalitäten, bereits damals weit über die nationalen Grenzen hinweg. Diesbezüglichen Hoffnungen transnationaler Solidarisierung auf der Basis spezifischer sozialer Interessenslagen im internationalen Klassenkampf wurde immer wieder mit nationalstaatlichen bzw. nationalistischen Konzepten zur gewaltsamen Eliminierung von sozialen Widersprüchen erfolgreich Einhalt geboten (siehe dazu Otto Bauers wegweisender Schrift „Über die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie aus 1907 (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bauer/1907/nationalitaet/index.html).

Das gilt bis heute, wenn Nationalstaaten ungebrochen als erste Adresse für wohlfahrtstaatliche Umverteilung gelten (siehe dazu den Sozialforscher Wolfang Streeck in einem Beitrag zu Angela Merkels Migrationspolitik in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/regierungsstil-merkels-neue-kleider-14212048.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0) und sich bis dato keine überzeugende Alternative, etwa in Form einer Sozialunion Europa anbietet (Zur zumindest symbolischen Erinnerung an diesbezügliche Ansprüche plant der Autor Robert Menasse mit einer Reihe von Gesinnungsfreunden im November die Ausrufung einer Europäischen Republik: https://diepresse.com/home/presseamsonntag/1379843/Manifest-fuer-die-Begruendung-einer-Europaeischen-Republik)

Mit wem können, wollen bzw. müssen wir also in Zukunft solidarisch sein, um sowohl unseren individuellen Ambitionen als auch den sich aus der „dette sociale“ ergebenden Verpflichtungen an der Gesellschaft in zeitgemäßer Weise nachkommen zu können? Welche Loyalitäten zählen mehr, die mit den „eigenen Leuten“, die zu Hause etwas zu verlieren haben oder mit den „Fremden“, wo immer sie herkommen, die unsere Solidarität am dringendsten brauchen? Fragen, anhand derer heute Politik gemacht wird (in dem Zusammenhang ist es fast schon erstaunlich, dass im Vorschlag zu einem neuen Parteiprogramm der SPÖ dem Thema „solidarische Welt“ großer Raum eingeräumt wird: (https://zukunftsprogramm.at/sites/zukunftsprogramm.at/files/programmentwurf_2018-08-07). Dass die eigenen Parteifreunde den Vorsitzenden damit auch gleich wieder desavouieren, erscheint schon als solches ziemlich unsolidarisch und erzählt über die mittlerweile ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Solidarität selbst innerhalb von Parteigrenzen (https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5478062/Kritik-an-BundesSPOe_Wir-duerfen-keine-gruenlinke-FundiPolitik)).

„Solidarität“ als Thema der kulturellen Bildung

Weit entfernt, dafür handlungsleitende Antworten bieten zu können, fallen mir zwei Bedingungsstücke für eine neue Durchdringung der Gesellschaften mit solidarischem Gedankengut ein. Das eine besteht, das Prinzip der Solidarität als einer genuin kulturellen Leistung wieder stärker ins öffentliche Interesse zu rücken. Wir müssen in der Öffentlichkeit einfach wieder mehr über unterschiedliche Konzepte von Solidarität, ihren Umsetzungsformen und den damit verbundenen Konsequenzen reden. Kapitalismus immanente Individualisierungsstrategien, die zur Zeit unser Handeln bestimmen, haben es an sich, „idiotes“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Idiotes) zu produzieren, die sich im Glauben wiegen, keinerlei Verantwortung für das soziale Gefüge, in dem sie eingebettet sind, übernehmen zu müssen.

Daraus ergibt sich für mich eine zentrale Aufgabenstellung künftiger kultureller Bildung, das Bemühen um kreative Selbstverwirklichung an die jeweiligen sozialen Bedingungen zu knüpfen. Dies scheint mir die Voraussetzung, um mit durchaus ästhetischen Mitteln einer weiteren sozialen Verdummung entgegen zu wirken. Wir hätten es dann mit einer besonderen Qualität von kultureller Bildung zu tun, die bereit ist, sich mit den kulturellen Grundwerten einer Gesellschaft zu beschäftigen. Als solche knüpft sie die individuelle Entwicklung des Lernenden an ihren jeweiligen sozialen Kontext, um so die jungen Menschen – zusammen mit gleich- bzw. ähnlich gesinnten bzw. Betroffenen -

gerade in dem sozialen Feld handlungsfähig zu machen, in dem über ihr Schicksal entschieden wird.

tunaolger/pixabay

Solidarität bedeutet (wieder) kämpfen zu lernen.

Das andere Bestimmungsstück besteht in der Vermutung, dass Solidarität nicht umsonst zu haben ist. Jede Version der Geschichtsinterpreation erzählt uns, dass „Solidarität immer ein Ergebnis von Kämpfen“ war (http://www.sueddeutsche.de/politik/ungleichheit-solidaritaet-war-immer-das-ergebnis-von-kaempfen-1.3962607), die erst ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen lassen.

Diesen kämpferischen Gestus orte ich in Zeiten wachsender Verunsicherung nicht bei denen, die Beistand in besonderer Weise brauchen, sondern bei denen, die glauben, als isolierte Individuen nur mehr verlieren zu können. Einen Ausdruck der Solidarität kann ich darin nicht erkennen, wohl eher den einer Entsolidarisierung (https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-beklagt-entsolidarisierung-in-der-gesellschaft.1008.de.html?dram:article_id=164306) als einer negativen Begleiterscheinung einer schleichenden Refeudalisierung von Ökonomie (siehe dazu: Sighard Neckel; Refeudalisierung der Ökonomie (http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp10-6.pdf).

Diese Form der Entsolidarisierung ist auch das Ergebnis der angesprochenen theoretischen Unterbestimmtheit dessen, worum es bei Solidarität geht. Offenbar ist es den herrschenden politischen Kräften der Nachkriegszeit gelungen, die Theorieansätze der Solidarismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ins kollektive Vergessen zu drängen. Sie doch wären sie wichtige Anknüpfungspunkte dafür, die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften des industriellen Zeitalters für die globalisierten und digitalisierten Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts weiter zu entwickeln.

Weil das bisher nicht geschehen ist,macht es wenig Sinn, den Begriff der Solidarität in eine konzeptionelle Beziehung zu setzen mit den aktuellen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen. Flüchtlinge und Migranten vertreten fürs Erste auch keine spezifischen Interessen außer denen, als Menschen behandelt zu werden.

Dazu braucht es aber – wie Landau meint – gar keine Solidarität; es genügt Zivilisiertheit. Alles andere ist Barbarei.

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