Und wenn ja, was bedeutet das für den Kulturbetrieb, für Kulturpolitik und für die Gesellschaft?
Kultureinrichtungen gehen neuerdings auf bislang abseitsstehende Zielgruppen zu und entwickeln Outdoor-Programme am Stadtrand. Ihre Absicht ist es, bei den lokalen Bewohner*innen Hemmschwellen abzubauen und sie für das eigene Programmangebot zu interessieren.
Im Rahmen dieser Bemühungen ist gern von „Partizipation“ die Rede. Keine Kunst- und Kulturvermittlungsinitiative, kein Programm der kulturellen Bildung, die nicht „kulturelle Partizipation“ verspricht.
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Was heißt denn überhaupt „Partizipation“?
Bei allen Versuchen, den Begriff der Partizipation auch nur halbwegs stringent zu fassen, stellt sich bald Ernüchterung ein. Es werden mittlerweile so viele Handlungsoptionen damit verbunden, dass wir mit seiner beliebigen Verwendung irgendwann aufgeben zu erfahren, was wirklich Sache ist. Also müssen wir uns damit anfreunden, dass seine Verwendung mehr über den*die Sprecher*in erzählt als über das, was konkret bezeichnet werden soll. Und so wird schon mal der Besuch klassischer Theater- oder Konzertveranstaltungen gleichermaßen unter Partizipation subsummiert wie die Involvierung in interventionistische Kunstformen oder die aktive Mitwirkung an gemeinsamen Aufführungspraxen. Die Einbeziehung in kulturpolitische Entscheidungsprozesse hingegen bleibt – mit wenigen Ausnahmen in der Diskussion rund um Cultural Governance – gern außerhalb der Vorstellungskraft.
Von jemandem etwas abbekommen, was man selbst nicht hat
Geht es nach einem umgangssprachlichen Verständnis dann bezeichnet „partizipieren“ vor allem den Versuch, von jemandem etwas abzubekommen, was man selbst nicht hat. So einfach, so klar. Das würde – übersetzt in die Sprache des Kulturbetriebs – bedeuten, dass Partizipation den Willen bezeichnet, sich von einer Kultur etwas anzueignen, das andere haben und man selbst nicht. Eine solche Sichtweise setzt freilich voraus, dass da eine Gruppe der Gesellschaft über Kultur verfügt, während alle anderen sich erst einmal der Mühe unterziehen müssen, an diese heranzukommen. Eine solche Verwendung des Begriffs bedingt zudem die Vorstellung eines statischen Kulturbegriffs, der in Gestalt eines ausgewählten Sets an mehr oder weniger manifesten symbolischen Ausdrucksformen von einer kleinen Gruppe okkupiert wird, während er für alle anderen unerreichbar bleibt.
Eine solche Vorstellung von Partizipation spiegelt sich in weiten Teilen des Kulturbetriebs wider. Dieser wird mit seinem immer gleichen Programmangebot ungebrochen von einem kleinen Teil der Gesellschaft als der ihre angesehen. Der größere Teil der Bevölkerung hingegen bleibt davon weitgehend unbetroffen und entscheidet sich nur selten dafür, auch etwas davon abbekommen zu wollen. Nur allzu selten versammeln sich Menschen außerhalb der Blase des Kulturbetriebs vor seinen Toren und begehren nach Einlass. Ihr innerer (und wohl auch äußerer) Antrieb, im Sinne der Kultureinrichtungen partizipieren zu wollen, ist – vorsichtig gesagt – enden wollend. Also macht sich mittlerweile eine Schar an Kunst- und Kulturvermittler*innen auf den Weg zu ihnen, um – siehe oben – all den Menschen am Stadtrand, die nicht von alleine in die heiligen Hallen der Kultur kommen wollen per Outreach ihr kulturelles Glück aufzuzwingen. Sie alle sind geprägt vom Impetus, die von ihnen verwaltete Kultur solle für alle gleichermaßen verfügbar sein bzw. alle sollen an ihr in gleicher Weise partizipieren können. Immerhin wurde rund um das traditionelle Kulturangebot zuletzt eine Vielfalt von Bildungs- und Vermittlungsinitiativen eingeführt. Sie erproben neue Möglichkeiten der Kommunikation bzw. Interaktion und hoffen damit auch Menschen erreichen, die von sich aus nie auf die Idee gekommen wären, die dort verhandelten kulturellen Praktiken hätten etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun.
Der Kanon als Ausschlussverfahren
Erschwert werden diese Bemühungen durch die unvermittelt anhaltende Kanonisierung bestimmter kultureller Ausdrucksformen, die mittlerweile an der Lebenspraxis der meisten Zeitgenoss*innen völlig vorbeigehen und sich damit als sakrosankte Artefakte jeglicher Partizipation entziehen. Ich gebe zu, dass ich die Aussagen mancher Regisseur*innen, ihre Interpretation kanonischer Werke erhellten in besonderer Weise die Probleme der Gegenwart, kaum mehr aushalten kann. Und doch werden sie von einer gesellschaftspolitisch trägen Kulturkritik weiterhin wie eine Priesterkaste verehrt und bleiben wohl gerade deswegen unerreichbar für alle, die nicht zum kleinen Kreis der Insider gehören (Nur so eine Zwischenfrage: Muss man wirklich Martin Kušejs Interpretation von Tosca kennen, um etwa die Abgründe menschlicher Beziehungen hier und heute zu erfahren? Also treiben sie weiterhin ihr selbstverliebtes Spiel, das sich – unterschiedlich je nach Genre – seine Unantastbarkeit bestätigt, um sich jeglicher partizipativen Bearbeitung zu verweigern.
Schon vergessen? Kultur bedeutet immer einen Herrschaftsanspruch
Diese Haltung gegenüber der Kultur wurde seit den 1970er Jahren als Herrschaftsanspruch des Bildungsbürger*innentums erkannt und in allen Details beschrieben. Und doch wirkt dieser bis heute in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Strukturen des Kulturbetriebs nach. Die Besucher*innen werden ungebrochen auf ihre Rolle als passive Konsument*innen reduziert, eine weitergehende Partizipationsabsicht wird gerne auf ein begleitendes Vermittlungsprogramm verwiesen, das als ein abgeleitetes Verfahren keinerlei Einfluss auf den eigentlichen künstlerischen Produktionsprozess haben darf.
Die Diskussion um einen „weiten Kulturbetriff“ haben die Vorstellung geschaffen, dass Kultur nicht nur durch das Programmangebot des etablierten Betriebs für eine kleine kundige Minderheit repräsentiert wird, sondern auch als ein offener, unabschließbarer Prozess verhandelt werden kann, an dem mehr als eine kleine Elite teilhaben, an ihren Hervorbringungen mitwirken und damit Kultur mitgestalten kann. Ein solcher bezieht sich auf die Vergemeinschaftung von im weitesten Sinne Gleichbetroffenen oder auch Gleichgesinnten, die sich Kultur nicht verordnen lassen wollen, sondern nach ihren eigenen kulturellen Ausdrucksformen suchen.
Seinen institutionellen Ausdruck fand ein solcher Kulturbetriff in der Institutionalisierung von Soziokultur, deren Akteur*innen in den 1970er Jahren aufgebrochen sind, um insbesondere die zu erreichen, die sich vom Kulturbetrieb ausgeschlossen sahen (und sich gar nicht vorstellen konnten, an seinem Angebot partizipieren zu können).
Diese Bemühungen konnten auch als ein kulturpolitischer Versuch verstanden werden, dem zunehmend apodiktisch vorgetragenen Individualisierungsanspruch neue Formen partizipativer Vergemeinschaftung entgegenzusetzen. Zumal für diejenigen, die es alleine nicht geschafft haben, den oktroyierten Leistungsanforderungen zu entsprechen, und sich trotzdem als ein Teil der Gesellschaft verstehen wollten.
Kultur als das Bessere der Gesellschaft – von wegen
Kultur wird gerne als das Bessere der Gesellschaft gesehen. Sei es, dass dort das Schöne, Wahre und Gute immer schon gegenwärtig ist, um sich als eine Anleitung zum richtigen Leben zu empfehlen. Dass diese Vorstellung von der kleinen Gruppe der „Kulturinhaber*innen“ nur zu gern für alle verbindlich gemacht wurde, ist aus ihrer Sicht nur zu verständlich. Bestätigt es doch ihre Vorrangstellung selbst dort, wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Vielen etwas ganz anderes versprechen.
Darin liegt in der gegenwärtig immer ungleicher werdenden Gesellschaft freilich ein gerütteltes Maß an Infamie. Immerhin suggeriert eine solche inhaltliche Aufladung, eine für alle gleichermaßen verbindliche Kultur (und der soziale Kontext ihrer Träger*innen) ließe sich von den politischen Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss abtrennen und als etwas präsentieren, das über die unterschiedlichen Interessenlagen alle Menschen gleichermaßen etwas angeht. Diese Vorstellung geistert bis heute in den Köpfen vieler Akteur*innen des Kulturbereichs herum, zuletzt in den „Gedanken“ des Tenors Rolando Villazon in OE1, wenn er „seiner“ Musik einmal mehr universellen Charakter zuspricht, der geeignet sei, alle sozialen Differenzen hinter sich zu lassen.
Es blieb den Pionieren der Cultural Studies bereits in den 1960er Jahren vorbehalten, darauf hingewiesen zu haben, dass dem nicht so ist, vielmehr dass jede kulturelle Äußerung ein getreues Abbild der bestehenden Herrschaftsverhältnisse darstellt und dementsprechend nicht neutral gelesen werden kann.
Der Anspruch einer „Kultur für alle“, wie er vom Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann seit Beginn der 1970er Jahre vorgetragen wurde, ist folglich nur im Zusammenhang mit der damaligen politischen Losung Willi Brandts „Mehr Demokratie wagen“ zu verstehen. Eines der zentralen Ziele in der Aufbruchsstimmung bestand darin, zur „Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers (beizutragen), der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten.“ Ein solcher politischer Emanzipationsanspruch sollte im Kulturbereich mit Hilfe einer „Demokratisierung der Kultur“ seine Entsprechung finden. Darauf begründete Partizipationsstrategien bezogen sich vor allem auf die Ausweitung des bestehenden Programmangebots und versuchten, auch bislang vernachlässigten sozialen Gruppen den Zugang zu ermöglichen. Darin drückte sich eine humanistische Tradition der Sozialdemokratie aus, die vom Glauben geprägt war, die Erfahrung mit dem klassisch-kanonisierten Kulturgut trüge per se zur Verbesserung des Menschen bei.
Von der integrativen Mittelstandsgesellschaft zur exklusiven Vielfaltsgesellschaft
Konzeptiv gerichtet war eine solche Kulturpolitik auf die sukzessive Schaffung einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky), deren Mitglieder sich in ihren Lebensweisen immer mehr annähern würden und damit auch von einer gemeinsamen Kultur repräsentiert werden könnten. Auf der Grundlage eines umfassenden Bildungsprogramms samt materieller Umverteilung würden sich früher oder später die Bürger*innen auf gleicher sozialer Augenhöhe begegnen und – wenn schon nicht am politischen so doch am kulturellen Leben – in gleicher Weise partizipieren.
Es ist anders gekommen. Wir wissen heute, dass spätestens mit dem Beginn der 1980er Jahre der weitere Verlauf der Gesellschaft im Zeichen des Neoliberalismus in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hat. Hilmar Hoffmann mag bereits eine Ahnung davon gehabt haben, wenn er sich Ende der 1970er Jahre neben der „Demokratisierung der Kultur“ auch für eine „demokratische Kultur“ ausgesprochen hat. Ganz offensichtlich war er sich spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so sicher, ob sich alle Bürger*innen unter ein gemeinsames Dach staatlich verordneter Kultur würden versammeln lassen. Zu lautstark meldeten sich schon damals jede Menge an subkulturellen und alternativen Initiativen, die in gleicher Weise am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollten. Sie versprachen sich davon die Aufwertung bislang diskriminierter alternativer kultureller Ausdrucksformen, die sich vor allem an diejenigen richteten, die sich vom traditionellen Kulturbetrieb nicht vertreten fühlten, ja diesen als Agentur der bestehenden Herrschaftsstrukturen ablehnten.
Aber schon bald wurde klar, dass es dabei nicht nur um ein kleines Segment von Oppositionellen handelte, die seitens des Staates nicht dauerhaft vernachlässigt werden wollten. Stattdessen erwiesen sie sich, just zu dem Zeitpunkt, da die Sozialwissenschaften das Ende der Klassengesellschaft verkündeten als ein avantgardistischer Ausdruck einer neuen Formierung der gesamten Gesellschaft. Diese zeigt sich seither im Rahmen der Konkurrenzgesellschaft in einem immer weiter um sich greifenden sozialen Ausdifferenzierungsprozess, der auch im Kulturbereich seine Widerspiegelung findet.
Im Ergebnis werden heute alle als ewig angelegten kulturellen Hierarchien in Frage gestellt. Mit seiner Zerstörungswut hat der Neoliberalismus mittlerweile fast alle kulturell überformten ständischen Strukturen zerstört. An ihre Stelle getreten ist eine große Vielfalt kultureller Szenen, nebeneinander, übereinander, einander konkurrierend, einander ergänzend, die insgesamt ein weitgehend unüberschaubares, sich rasch wandelndes Bild ergeben, das als solches von staatlicher Kulturpolitik schon lange nicht mehr in seiner Gesamtheit erfahren werden konnte (Dass im Zuge der Pandemie plötzlich Anspruchsgruppen auftauchten, die bislang kulturpolitisch überhaupt nicht wahrgenommen worden waren, machte diese lange ignorierte staatliche Engsicht überdeutlich). Dass alle diese kulturellen Szenen eine jeweils eigene soziale Basis haben, zeigt sich spätestens dort, wo sich Menschen ein einheitliches kulturelles Verhalten nicht mehr aufzwingen lassen und stattdessen am Angebotsmarkt mehr oder weniger souverän entscheiden, wo ihr sozialer Hintergrund am besten kulturell abgebildet erscheint.
„Culture is a sort of constant battle-field“ (Hall) – Kultur kann ohne seine gesellschaftspolitischen Implikationen nicht gelesen werden
Wenn aber kulturelle Prozesse nicht ohne ihre (gesellschafts-)politischen Implikationen gelesen werden können, dann müssen wir uns wohl von der naiven Vorstellung verabschieden, an jeder kulturellen Ausdrucksform könnten alle in gleicher Weise partizipieren, um so die Verhältnisse insgesamt zum Besseren zu wenden. Stattdessen müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass Partizipation auch im Kulturbereich immer auch mit der Artikulation und Durchsetzung von Interessen verbunden ist und somit Konflikt bedeutet.
„Culture is a sort of constant battle-field” meinte bereits Stuart Hall in den 1970er Jahren. Und doch sollte es bis in diese Tage dauern, dass sich eine politikwissenschaftliches Erkenntnisinteresse im Rahmen des Projektes „Agonart“ systematisch der Konflikthaftigkeit des Kulturbetriebs annehmen sollte. Diese „Verspätung“ verweist einerseits auf den hegemonialen Charakter eines staatlichen Kulturbetriebs, der es bislang verstanden hat, sich den großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu stellen und Position zu beziehen. Sie löst aber auch Erstaunen aus, wenn sich der Kulturbetrieb immer wieder als experimentelles Spielfeld möglicher Zukunftsszenarien empfiehlt, sich selbst aber in keiner Weise kritisch hinterfragt.
Geht es nach den führenden Exponent*innen eines agonistischen Politikverständnisses (Chantal Mouffe, Ernesto Laclau etc.), dann zeichnet sich dieses durch die Akzeptanz unterschiedlicher und im Kern unvereinbarer Interessenslagen aus, auf deren Basis es gilt, in immer neuen Verfahrensschritten Kompromisse herzustellen. Diesen Ansatz gilt es, gerade in Bezug auf Partizipationserwartungen auf den Kulturbereich anzuwenden.
Und was wäre, wagte die Kunst- und Kulturverwaltung einen Schritt aus ihrem Elfenbeinturm
Die Verweigerung, dem Umstand kontroversieller Zugänge auch in der Kulturpolitik Rechnung zu tragen, lässt sich in der Organisation der Kunst- und Kulturverwaltung sehr anschaulich nachvollziehen. Ihre Entscheidungsinstanzen bestehen im Wesentlichen aus einem kleinen Kreis von Insider*innen, die für sich beanspruchen, für ein künstlerisches Qualitätsverständnis der Gesamtbevölkerung zu stehen. Zu ihrem Selbstverständnis gehört auch, die Tradition ungleicher Verteilung unkritisch fortzusetzen und alle Versuche, diesbezügliche Strukturen zu verändern mit dem Argument, nur ja keine Neiddebatte entfachen zu wollen, nieder zu schlagen zu versuchen (Ein solcher Strukturkonservativismus führt unter anderem zu einem völligen Irrationalismus staatlichen Handelns, wenn der Film als das Medium des 20. Jahrhunderts nach wie vor mit einem Bruchteil der Mittel für den, auf den Kulturvorstellungen des 18. Und 19. Jahrhunderts errichteten Theater- und Konzertbetriebs auskommen muss. Aber auch die Fortschreibung vieler anderer Positionen lassen sich nur aus der Trägheit des Systems (und damit dem Unwillen zur Konfliktaustragung) heraus erklären (vgl. Kunst- und Kulturbericht aus 2020, Seite 19) Dazu gehört auch, dass die Soziokultur 50 Jahre nach ihrer Einführung in Gestalt vielfältiger freier Szenen nach wie vor ein Schattendasein führt, ohne dass sich im herrschenden Regime signifikante Änderungen in Bezug auf die völlig ungleichen Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen abzeichnen würden.
Da sind sie wieder die Gralshüter*innen eines über den gesellschaftlichen Konfliktlinien erhabenen Kunst- und Kulturbegriffs, deren Exponent*innen meinen, ihre Prioritäten objektivieren und damit für alle verbindlich machen zu können. Alle, die nicht ihr (künstlerisches) Werteverständnis teilen, sollten möglichst außen vor bleiben und damit von der Weiterentwicklung des Kulturbetriebs und seiner inneren und äußeren Verkehrsformen ausgeschlossen bleiben.
Auf der Suche nach einem konfliktorientieren Verständnis von Partizipation
Der Architekt Markus Miessen spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Albtraum Partizipation“ und geriert sich zum Verteidiger einer kulturellen Elite, die aufgrund ihrer Stellung und ihres Wissensvorsprung prädestiniert sei, kulturelle Entscheidungen im Namen des großen Rests zu treffen. Er fürchtet eine „liquid democracy“, angestoßen durch Initiativen wie Occupy Wallstreet, Fridays for Future und anderer basisdemokratischer Initiativen, die dazu angetan wären, das bewährte System der repräsentativen Demokratie zu unterlaufen. Und zwar auch bzw. gerade im Kulturbereich. Dabei fürchtet Miessen nichts so sehr wie die Infragestellung des bewährten Berufsbild des*der Künstlers*in, selbst wenn diese in den letzten hundert Jahren im Rahmen diverser Avantgarden Vorstellungen eines exklusiven Kunstbegriffs ad absurdum geführt und sich als Exponent*innen prozesshafter, auf Interaktion und damit Partizipation im Sinne von aktiver Mitwirkung gerichteter künstlerischer Verfahren geoutet haben. Und doch kommt Miessen nicht um den Umstand herum, dass das kulturelle Selbstverständnis der Menschen mehr denn je von (sozialen) Konflikten geprägt ist, bei denen die Vielen nicht dauerhaft von den Wenigen diskriminiert werden können.
Wir alle stehen heute vor der Tatsache, dass Partizipation zur entscheidenden Triebkraft in den Sozialen Medien mutiert ist. Die wenigsten Nutzer*innen begnügen sich in ihrem Umgang damit, ein vorgegebenes Programmangebot passiv zu konsumieren. Alle wollen teilhaben, mitwirken, mitgestalten, und eine wesentliche Attraktion des Mediums besteht darin, genau das zu ermöglichen. Mit – angesichts fehlender politischer Steuerung – mit ungewissem Ausgang auf das öffentliche Bewusstsein.
Und doch wird ein solch interaktive Verhalten früher oder später auch auf den Kulturbetrieb übergreifen und die traditionellen Formen der passiven Konsumption ablösen. Gerade unter dem Eindruck eines geänderten Publikumsverhaltens in und – hoffentlich bald – nach der Pandemie entsteht gerade eine Vielzahl von Experimentierräumen, in denen das Verhältnis von Produzent*innen und Nutzer*innen neu verhandelt wird.
Gebt den Nutzer*innen eine Stimme bei der Ausgestaltung von Kulturpolitik – jetzt!
Vielleicht aber noch weitreichender sind die oft noch recht vagen Versuche, auch nicht unmittelbar im Kulturbetrieb involvierte Menschen nicht nur im künstlerischen Handeln einzubeziehen, sondern ihnen auch eine mitwirkende Funktion bei künftigen kulturpolitischen Schwerpunktsetzungen zuzusprechen. Dies umso mehr, als sich mittlerweile gezeigt hat, dass die bewährten exkludierenden Verfahren staatlicher Kulturverwaltung spätestens mit den Auswirkungen der Pandemie an ihre Grenzen gekommen sind. Anhand diverser auch öffentlich ausgetragener Kontroversen (eine davon führte schon bald zum erzwungenen Rücktritt von Staatssekretärin Lunacek) stellte sich schon bald heraus, dass die Entscheidungsträger*innen über die Entwicklungen in den kulturellen Feldern einfach zu wenig wussten und auf Erfahrungen derer, die sie bisher meinte, ausschließen zu können, in besonderer Weise angewiesen. Zumindest einigen dämmerte spätesten jetzt, dass nur auf eine partizipative Weise Themen und Inhalte aufgegriffen werden können, die im Zuge bewährter administrativer Verfahren systematische ausgeklammert bleiben.
Eine neue kulturpolitische Strategie ohne Einbeziehung der Nutzer*innen – Was für eine Hybris
Spätestens mit der Erkenntnis, dass sich das kulturelle Verhalten des Publikums in der Pandemie nachhaltig verändert hat, sollte allen kulturpolitischen Akteur*innen klar sein, dass sich Partizipation nicht auf die Erweiterung des Programmangebotes traditioneller Kultureinrichtungen am Stadtrand wird beschränken können. Im Rahmen ihrer strategischen Neuausrichtung werden wir um eine Aufwertung derer, für die das Programmangebot erstellt wird nicht herumkommen. Dafür muss freilich noch ein weiter Weg zurückgelegt werden. Noch finden es weite Teile des Kulturbetriebs als selbstverständlich, dass bei der aktuellen Strategieentwicklung für Kunst und Kultur die zuständige Staatssekretärin Andrea Mayer zwar verspricht, mit der „gesamten Branche“ ins Gespräch kommen zu wollen, die Nutzer*innen aber einmal mehr strukturell ausgeschlossen bleiben. Offensichtlich bleibt ihnen verborgen, dass sie damit in der breiten Öffentlichkeit den katastrophalen Eindruck erwecken, hier wolle sich eine kleine Schar von Produzent*innen mit der Politik ausmachen, wie sich ihre Arbeitsbedingungen (vor allem die Förderstrukturen) künftig gestalten sollen, und weiterhin kein Problem darin sehen, den großen Rest der Bevölkerung mit ihren Interessen, Forderungen und Erwartungen an den Kulturbetrieb negieren zu können.
Es ist, als ob demokratische Standards den Kulturbetrieb, der sich als ein Teil permanent konfligierender Verhältnisse weiß, noch nicht erreicht hätten. Geht es nach den jüngsten Erfahrungen, dann existiert offenbar noch nicht einmal ein politisches Bewusstsein dafür, dass eine solche Haltung notwendig zum Vorwurf des Elitismus führen muss. Mehr, dass sich die Akteur*innen, die wie eine Monstranz die Behauptung vor sich hertragen, für alle da sein zu wollen, mit einer solch ausgrenzenden Haltung gesellschaftlich – gerade in einer Zeit wachsender Konflikte – immer weiter an den Rand stellen.
Produzent*innen und Nutzer*innen: Für eine paritätische Zusammensetzung von Jurys und Beiräten
Um diesem Trend etwas entgegenzuhalten, schlage ich vor, bei den nächsten Schritten der kulturpolitischen Strategieentwicklung neben den Produzent*innen die Nutzer*innen gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Als Repräsentant*innen der Gesamtgesellschaft soll ihnen die Gelegenheit gegeben werden, sich bei der Weiterentwicklung des Kulturbetriebs aktiv einzubringen und damit die künftigen kulturpolitischen Schwerpunkte mitzugestalten. Der gerade erst installierte Klimarat könnte bei der Installierung eines Kulturrates der Bürger und Bürgerinnen dafür ein Wegweiser sein.
Und weil wir gerade dabei sind: Die seit den 1970er Jahren eingeführten Jurys und Beiräte, die mit ihren spezifischen künstlerischen Qualitätsvorstellungen die (Kultur-)Politik bei der Fördervergabe beraten, sollten in gleicher Weise aufgewertet und damit auf ein demokratisches Niveau gehoben werden. Per Los sollen ganz normale Bürger*innen neben den Expert*innen an den diesbezüglichen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Neuzusammensetzung das Konfliktbewusstsein nachhaltig beleben würde und wir spannende Diskussionen erleben könnten, die bei entsprechender medialer Begleitung den Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft schlagartig zu erhöhen vermögen.
Nein, nicht alles wird sofort gelingen. In diesen neuen Experimentierräumen ist manches Scheitern vorhersehbar. Allzu vorschnelle Hoffnungen werden nicht aufgehen. Aber gesellschaftliches Lernen im Kulturbereich wird möglich und damit Kulturpolitik zumindest mittelfristig wieder zu dem, wofür sie angetreten ist, als Gesellschaftspolitik.
Wir kommen um die Installierung solch neuer, auf (politische) Partizipation gerichtete Entscheidungsformate nicht herum, wenn wir sicherstellen wollen, dass Kunst eine neue Verankerung in der Gesellschaft findet. Mit der Eröffnung neuer Mitwirkungsmöglichkeiten entscheiden schlicht darüber, ob Kunst noch einmal Relevanz in der Gesellschaft findet – oder eben nicht.
Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.
Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.
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