Über die schleichende Deflationierung der Kultur – und wie man ihr begegnet

Unter dem Titel „Mut in der Kultur“ lud in diesen Tagen die Kulturpolitische Gesellschaft Oberösterreich zu ihrem Jahresempfang. Die Veranstalter*innen ließen sich dabei nicht von den verschärften Zugangsbeschränkungen einschüchtern, sondern entschlossen sich zu einem hybriden Format, bei dem persönliche Begegnungen zwischen SPÖ-Politiker*innen und Kunstschaffenden möglich sein sollten.

Am späteren Abend traten die Attwenger auf. Mit ihrer in die Jahre gekommenen Brachial-Folklore versinnbildlichten sie unversehens den Abgesang eines in die Jahre gekommen Kulturbetriebs, der mit der Pandemie an seine Grenzen gekommen scheint. Zynisch reagierten die beiden Musiker auf Zurufe der rund 30 im Central physisch anwesenden Zuhörer*innen: „Super Stimmung da!“, um dann ihr Programm abzuspulen, das vor zwanzig Jahren die Massen begeistert hat. Eindringlicher hätten sie mit ihrer Performance nicht deutlich machen können, dass das, was da zwischen Bühne und Zuschauer*innenraum abging, so keine Zukunft hat.

Der Kulturbetrieb zwischen Behauptung und Verzweiflung

Davor aber erzählte die Wiener Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler von ihren engagierten Bemühungen, in Wien den Kulturbetrieb zum Teil mit unkonventionellen Formaten wie den „Kultursommer“ zumal in Vorwahlzeiten am Laufen zu halten und darüber hinaus die Bedeutung von Kunst- und Kulturschaffenden für die Weiterentwicklung einer urbanen Gesellschaft zu beschwören. Ihr unbedingtes Eintreten für das „Weitermachen“ war beeindruckend, auch wenn manche ihrer Äußerungen wie „Kunst und Kultur sind überlebenswichtig, ohne sie wären wir nicht durch den Corona-Sommer gekommen“, waren zwar gut gemeint aber einem Realitycheck würden sie wohl nicht standhalte. Nach ihr zeichnete die Geschäftsführerin der IG Kultur Österreich Yvonne Gimpel ein mehr als düsteres Bild der aktuellen Situation. Sie berichtete von existentiellen Bedrohungen vor allem des Freien Sektors und sparte nicht mit Kritik über unzulängliche Hilfsmaßnahmen samt unklaren Vorgaben bei der Durchführung von Veranstaltungen. Landesrätin und SPÖ-Landesvorsitzender Brigitte Gersdorfer blieb es vorbehalten, für Motivation in schwieriger Zeit zu sorgen und einen Kunstpreis an die drei jungen oberösterreichischen Autor*innen Lucia Leidenfrost, Lydia Haider und Thomas Arzt zu vergeben, die sich mit kurzen Lesungen aus ihren aktuellen Arbeiten revanchierten.

Die Hoffnungen auf ein baldiges „Wieder“ – Aber die Probleme haben schon früher begonnen

Mein Part bei der Veranstaltung war es, über mögliche mittel- und langfristige Auswirkungen der Pandemie auf den Kulturbereich nachzudenken. Ausgangspunkt dafür war mir die nur zu gern gepflegte Hoffnung auf ein „wieder“, die suggerieren soll, früher oder später wieder zu Zuständen vor der Krise zurückkehren zu können. Gerade dieses „wieder“ ist aber möglicherweise der entscheidende Grund, warum der Kulturbereich in der gegenwärtigen Situation immer weiter an den Rand zu geraten droht, um dort erfahren zu müssen, wie unbedeutend er mittlerweile geworden ist.

Vieles spricht für die Vermutung, dass sich die Pandemie wie ein Brennglas über bereits lange zuvor entstandene Probleme legt, die von einer ignoranten Kulturpolitik der letzten Jahre auf die lange Bank geschoben wurde. Vor unseren Augen erleben wir das Drama, wie mit der Krise das beherrschende Geschäftsmodell nicht nur der großen kulturellen Leitbetriebe außer Kraft gesetzt wurde: Die zahlenden Nutzer*innen müssen draußen bleiben und sind damit zu einer unberechenbaren Größe geworden. Und so dämmert zumindest Teilen des Kulturbetriebs, dass sie sich bis zuletzt auf eine Geschäftspraxis des 19. Jahrhunderts verlassen haben, das sie ungeachtet der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung glaubten, für ewig gültig erklären zu können. Eine solche Starrheit wäre in allen anderen Geschäftsfeldern undenkbar – Aber ausgerechnet im Kulturbetrieb wollte man alternativlos weiter mit der – zugegeben prachtvoll ausgestatteten – Postkutsche befördert werden, um diese zur einzig adäquaten Beförderungsweise zu verklären.

Und plötzlich – in keinen Notfallplänen antizipiert – erscheinen die Grundlagen dieses Geschäftsmodell von einem Tag zum anderen außer Kraft gesetzt: Während die Nachfrageseite zusammenbricht, versucht die Angebotsseite alles, um ihre Produktion – und sei es mit Einsatz zusätzlicher staatlicher Mittel – irgendwie fortsetzen zu können: ideale Voraussetzungen für eine Deflation, in der ein Überangebot mit Schleuderpreisen versucht, die Nachfrager*innen an der Stange zu halten, um dann feststellen zu müssen, dass immer mehr von ihnen mittlerweile ganz andere Sorgen haben.

Dazu kommt, dass das lange eingeübte Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage im Sinne seiner Entstehungszeit bestenfalls auf vordemokratische Zeiten verweist, in der einigen Wenigen ein aktiver Part auf der hellen Bühne und dem großen Rest ein passiver Part im Dunkel des Zuschauer*innenraums zugewiesen wurde. Uns so wird der Kulturbetrieb in diesen Tagen unsanft darauf gestoßen, dass die Menschen in allen anderen Bereichen bereits wesentlich weiter sind in ihren Partizipationsansprüchen.

Die Vorstellung eines „wieder“ als Bedrohungsszenario – Wollen wir wirklich, dass alles „wieder“ so wird wie es einmal war?

Angesichts der aktuellen disruptiven Verhältnisse kommen wir um die Frage nicht herum, ob wir wirklich wollen, dass alles wieder so wird, wie es war? Immerhin konnte bereits vor der Krise in keinem anderen Bereich der gesellschaftlichen Produktion ein derartiges Ausmaß an sozialer Ungleichheit studiert werden wie in unserem Metier. Andere Sektoren können hier fast idealtypisch studieren, wie soziale Ungleichheit am effizientesten organisiert werden kann. Nirgendwo sonst stehen einige wenige privilegierte Kulturschaffende so unvermittelt einem Heer an Prekären gegenüber wie in diesem Sektor. Mit der wachsenden Dominanz betriebswirtschaftlicher Erfordernisse in der Wettbewerbsgesellschaft haben sich diese Entwicklungen noch einmal beschleunigt: Mit Blick auf einige wenige Stars kann man da schon den Eindruck gewinnen „ The Winner takes it all“ während der große Rest bereits lange vor der Krise ums blanke Überleben kämpfen musste.

Diese gesellschaftliche Schieflage aber bezieht sich nicht nur auf die Produktionsseite. Auch auf Nachfrageseite konzentrierte sich der Betrieb – oft in schroffen Gegensatz zu so manchen Sonntagsreden – unverzagt auf ein spezifisches Bevölkerungssegment, das sich an den Idealen eines traditionellen Wohlstands-Bildungsbürgertums orientiert, das vom Selbstverständnis getragen ist, sich zur Repräsentation der ganzen Gesellschaft aufschwingen zu wollen. Kein Wunder also, dass sich im Vergleich dazu weite Teile der Bevölkerung vom bestehenden Angebot erst gar nicht angesprochen fühlen. Sie greifen mittlerweile auf unübersehbare Paletten an anderen Freizeitangeboten zurück.

Die Kulturpolitik der letzten Jahre hat auf diese Probleme keine hinreichenden Antworten gefunden. Ihre Vertreter*innen operieren weiterhin im Modus des Gewährens und schaffen damit ein Klima der Informalität, das eine professionelle Herangehensweise verunmöglicht (Ich stelle mir vor, wie etwa die STRABAG reagieren würde, böte ihr der Staat ein Drittel der für den Straßenbau notwendigen Mittel an, um dann auch noch hinzuzufügen – dieser sei doch so wichtig, dass den Mitarbeiter*innen zuzumuten sei, den Rest ihrerseits, und sei es in Selbstausbeutung, einzubringen).

Dazu kommt ein hohes Ausmaß an Personalisierung einer überkommenen Kulturpolitik, die sich vorrangig an starken Akteuren und deren Interessen orientiert und dazu führt, dass Figuren wie Stefan Pierer „hinaufgehen konnte, um es sich zu richten“.

Neben der strukturellen Ungleichheit, die diesen Sektor traditionell charakterisiert, gehört auch eine antiquierte Organisationsstruktur in vielen Kulturunternehmen, die mit ihren hierarchischen Strukturen autokratischen Machtansprüchen Tür und Tor öffnen, um so um Anforderungen moderner Compliance-Regeln einen weiten Bogen zu machen. Die Leidtragenden sind nur allzu oft Frauen, die nach wie vor eine institutionelle Diskriminierung erfahren und sich so am Rand der Institutionen wiederfinden.

Die strukturelle Vernachlässigung des Publikums

Mein besonderer Kritikpunkt angesichts des aktuellen Nachfrage-Desasters aber gilt dem mangelnden Interesse an denen, für die der Kulturbetrieb vorgeblich seine Leistungen erbringt. In mannigfachen Krisensitzungen wird zurzeit ausschließlich mit Blick auf quantitative Aspekte darüber beraten, wie viele Menschen an Kulturveranstaltungen teilnehmen können bzw. wohin und mit welchen Abständen sie zum Sitzen kommen. Völlig ausgeklammert aber bleiben qualitative Fragen: Aber Zuhörer*innen und Zuschauer*innen sind keine bloß quantifizierbaren Gefäße, in die man kulturelle Inhalte hineinschüttet. Auch sie verfügen über Kompetenzen, Fähigkeiten, Erfahrungen, Erwartungen, Kommunikationsbedürfnisse oder Interessen; sie sind jedenfalls mehr als zahlende Köpfe, die mit wohlfeilen Marketingsprüchen abgespeist werden wollen.

Gerade in diesem Zusammenhang habe ich in den letzten Jahren eine handlungsleitende institutionelle Neugierde vermisst, die diejenigen, die Kultur machen in ein zeitgemäßes Verhältnis zu denen gestellt hätte, die mit dem Gemachten etwas anfangen sollen (eine solche verstärkte Publikumsorientierung führt übrigens nicht notwendiger Weise zu einer Einschränkung der „Freiheit der Kunst“ – aber sie positioniert Kunst neu als eine herausragende Form der Kommunikation, die beide Seiten gleichwertig in künstlerische Prozesse einbindet). Ausnahmen wie die jüngste Runde des Ars Electronica Festivals oder des gerade anlaufenden steirischen herbstes bestätigen die Regel.

Der Kulturbetrieb im Vergleich zu anderen Sektoren

Vielleicht macht es gerade hier in Linz Sinn, sich an die Entwicklungen der Verstaatlichten Industrie in den 1970er und 1980er Jahren zu erinnern. „Mir machen ein paar Millionen mehr Staatsschulden weniger Sorgen als ein paar tausend Arbeitslose“, meinte der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky; ein Slogan, der vom heutigen Finanzminister Norbert Blümel nach einer 180 Grad-Kehrtwende seiner Finanzpolitik zu „Koste es, was es wolle“ weiterentwickelt wurde. Als tragfähig haben sich die damaligen Staatsinterventionen auf längere Frist nicht erwiesen: Weite Teile der Unternehmungen waren gezwungen, sich einem schmerzhaften Restrukturierungsprozess zu unterwerfen; da ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Im Zentrum stand dabei die Neuverhandlung des Produzent*innen und Konsument*innen-Verhältnisses und damit das Ende aller Hoffnungen, nur genug in die Produktion zu investieren (und sei es, um Arbeitsplätze zu erhalten), dann würde sich die Nachfrage früher oder später von selbst einstellen.

Das dem nicht so ist, hat sich bis heute im Kulturbereich offenbar noch nicht durchgesprochen. Da überwiegt noch immer der Glaube, die Gesetze des Marktes mit Hilfe staatlicher Interventionen beliebig aushebeln zu können. Dies wurde selbst in den Ausführungen von Veronika Kaup-Hasler deutlich, die einmal mehr ein flammendes Plädoyer für die Anliegen der produzierenden Kulturschaffenden hielt, während das Publikum, für das das alles angeblich passiert (ohne hinlänglich zu berücksichtigen, dass hunderttausende davon gerade gezwungen sind, sich in zumindest ebenso prekären Verhältnissen wie weite Teile des Kulturbetriebs einfinden müssen), mit Allgemeinsätzen über die Bedeutung der Kultur abgespeist wird.

Demokratische Errungenschaften erfordern ein emanzipiertes Miteinander-in-Beziehung-Tretens aller Akteursgruppen auch im Kulturbereich

All denjenigen, die sich da noch einmal stark machen für die ungebrochene Fortsetzung der kulturellen Produktion würde ich an dieser Stelle gerne zurufen: Hallo, wir leben mit Unterbrechungen seit 100 Jahren in demokratischen (und ja auch in marktwirtschaftlichen) Verhältnissen. Und diese beschränken sich nicht darauf, einmal in vier Jahren einen Stimmzettel abzugeben, sondern beziehen sich in vielfältiger Weise auf die Art und Weise des Zusammenlebens und Miteinander-in-Beziehung-Tretens. Es wäre also höchste Zeit, würden sich damit verbundene Ansprüche auch in der Neuausrichtung der Beziehungen zwischen den Macher*innen und den Nutzer*innen im Kulturbetrieb wiederspiegeln. Seit Jahren verhandeln wir am Rand der Szene Modelle kultureller Teilhabe und damit der Mitwirkung, Mitbestimmung, Partizipation oder Interaktion. In den Führungsetagen weiter Teile sogenannter Kultureller Leitbetriebe kann man den Eindruck gewinnen, sie hätten von all dem noch nichts gehört. Ihr Beitrag erschöpfte sich bislang in der Akquisition von Drittmitteln abhängigen Vermittlungsbemühungen am Rand des Betriebs. In der Krise sind die davon als erste Betroffene zumeist schlechtbezahlte Frauen, die zur Kündigung anstehen.

Der Freie Sektor ist einst angetreten, diese Traditionen zu brechen, um Kultur lebensnäher bzw. menschennäher zu verhandeln. Er wusste sich damit zumindest indirekt im Einvernehmen mit diversen künstlerischen Avantgarden, die seit dem Beginn der 20. Jahrhunderts (nicht unzufällig zu einem Zeitpunkt, in dem erstmals demokratisches Zusammenleben erprobt wurde) versucht haben, Kunst und Leben in eine unmittelbare Beziehung zu setzen.

Im Zuge seiner marktwirtschaftlichen Zurichtung seit den 1980er Jahren sind viele seiner kultur-politischen Utopien verlorengegangen. In Anbetracht unzureichender kulturpolitischer Aufmerksamkeit war er schon aus Überlebensgründen gezwungen, sich ähnlich aufzustellen wie die Platzhirsche auf den Kulturmärkten, nur halt unter wesentlich schlechteren, weil staatlich diskriminierten Startbedingungen. Dementsprechend fanden sich auch in diesem Sektor diejenigen, die ursprünglich eingeladen waren, im Zusammenwirken mit Kulturschaffenden neue kultur-politische Projekte auf den Weg zu bringen, schon bald wieder auf die gewohnte „kostengünstigere“ Rolle als passive Konsument*innen zurückversetzt.

Zu dieser Unterbelichtung aller nicht unmittelbar an der Produktion Beteiligten gehört auch das Verschlafen der digitalen Revolution, die mittlerweile alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Menschen erfasst hat, nur nicht den Kulturbetrieb. Dementsprechend erwiesen sich hastigen Versuche angesichts der Krise, die bislang analog angebotenen Programme per Streaming in den virtuellen Raum zu verlagern, bis auf wenige Ausnahmen als Verzweiflungstaten. Sie führten bislang weder zu einer signifikanten Erhöhung der Einnahmen noch zu einer Ausweitung des Zuschauer*innenzuspruchs.

Ein letztes Beharren des Kulturbürgers auf seine Sonderstellung: Nur wenn ich mich so verhalte wie die Altvorderen des 19. Jahrhunderts erlebe ich „wahre“ Kultur

Mit dem Beharren auf einem baldigen „wieder“ kommt ein neuer Lackmustest zur Anwendung, der noch einmal die wahren Kulturinteressierten vom Rest der Welt zu unterscheiden versucht: Nur wer ein Konzert oder ein Theaterstück physisch in den dafür ursprünglich vorgesehenen Räumen wahrnimmt, zeigt die „wahre kulturelle Einstellung“. Und schon kann die Selektionsmaschine wieder angeworfen werden; alle, die sich diesen Ritualen nicht mehr unterwerfen wollen, können als Banausen abqualifiziert werden.

Geht es nach dem Verhalten junger Menschen, dann könnte die „Wahrheit“ aber auch ganz anders aussehen. Ob es uns passt oder nicht: Die meisten von ihnen haben die kategoriale Trennung zwischen real und virtuell längst für obsolet erklärt. Dazu gehört auch die selbstverständliche Nutzung interaktiver Kommunikations- und Interaktionsformen, die für ein älteres Kulturpublikum noch immer einen Affront gegen die „Aura der Kunst“ darstellen. Da lohnt ein Hinweis auf Peter Weibels Analyse, dass unser Verhalten immer Ergebnis kultureller Lernprozesse ist (und sich daher permanent verändert) und dass dieses in der Regel institutionell bestimmt wird).

Der Umstand, dass – jedenfalls nach meiner Wahrnehmung – die erste Premiere „Madame Butterfly“ der Wiener Staatsoper unter der Direktion Roščić über das Medium Fernsehen wesentlich eindrücklicher erfahren wurde als am Platz in der 38. Reihe links physisch im Haus am Ring.

Über die sozio-demographische Blindheit des Kulturbetriebs

Vielleicht noch entscheidender für die aktuelle Defensive des Kulturbetriebs erweist sich heute die Missachtung demographischer Entwicklungen der letzten Jahre. Lange übertüncht werden konnte dies durch die Konzentration auf ein mittelständisches touristisches Publikum, das die Kassen klingeln ließ. Dieses ist von heute auf morgen weggebrochen und hat offensichtlich gemacht, dass die einheimische Bevölkerung heute völlig anders strukturiert ist als zur Entstehungszeit der meisten dieser Unternehmungen. Noch in den 1970er Jahren konnte eine fortschrittliche Kulturpolitik suggerieren, sie trage bei zur Schaffung einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky), in der ein für alle gleichermaßen verbindliches Set kultureller Ausdrucksformen das Zusammenleben bestimmen würde.

Spätestens mit dem Dominantwerden wirtschaftsliberaler Positionen auch in den Reihen der österreichischen Sozialdemokratie tendierte die Politik von der Integration hin zu Selektion. Den Anforderungen des verschärften Wettbewerbs gemäß sollte die gesellschaftliche Dynamik nicht von saturierten Gleichen angetrieben werden, sondern ganz im Gegenteil von Ungleichen, die untereinander in Konkurrenz stehen. Ab den 1990er Jahren wurden – unterstützt von der regierenden Sozialdemokratie – die politischen Weichen auf soziale Ungleichheit gestellt und damit Heterogenisierung der Arbeitsbeziehungen und der damit verbundenen Lebensentwürfe in Kauf genommen. In dem Maß, in dem vor allem der öffentlich-alimentierte (und damit von der Berücksichtigung der neuen gesellschaftlichen Realitäten befreite) Kulturbereich meinte, diese Entwicklungen negieren zu können, mutierte er unversehens noch einmal zu einer sozialen Selektionsmaschine, der den Anspruch auf kulturelle Vielfalt (nicht nur, aber auch im Kontext von Migration und Zuwanderung) immer weniger einzulösen vermochte. In seiner Nischenexistenz konnte er sich die längste Zeit darüber hinwegtäuschen, dass weite Teile der Bevölkerung mit seinem Angebot keinerlei Aufstiegsversprechen mehr verbinden und ihn deshalb für die eigene Lebensgestaltung als irrelevant einstufen.

Selbst auf die treuesten Afficinados (traditionell rund 5% der Bevölkerung) ist seither immer weniger Verlass (in dem Zusammenhang hat jüngst der Autor Paulus Hochgatterer darauf hingewiesen, dass lebenslange Zugehörigkeiten der Vergangenheit angehören: Wenn Menschen selbst ihre ganz grundsätzlichen Lebensbezüge wie Beruf, Lebenspartner oder Parteizugehörigkeit von ihren jeweiligen Kontexten abhängig machen ; warum soll das ausgerechnet im Bereich der Kultur ganz anders sein?

Das sind nur einige wenige Hinweise darauf, warum ein neues kulturbetriebliches Selbstverständnis überfällig ist. Wenn das nicht passiert, dann sollten wir uns nicht länger wundern, wenn sich der Kulturbetrieb angesichts der Krise (die nicht nur den Kulturbetrieb erfasst hat) auf Dauer irgendwo am Rand der Gesellschaft einzurichten hat, um sich dort am Ende der Anspruchsleiter öffentlicher Aufmerksamkeit wiederzufinden.

Im Moment ist die Kulturpolitik vollauf damit beschäftigt, Hilfsprogramme und diverse Überbrückungshilfen auf den Weg zu bringen, die einen halbwegs unbeschadeten Fortbestand des Betriebs sicherstellen sollen. Dazu gehören eben auch die Gespräche dominierenden Durchhalteparolen, die auf ein baldiges „wieder“ rekurrieren.

Hört endlich auf, über die „Kulturnation Österreich“ zu schwätzen – ihr betreibt das Geschäft der Reaktion

In diesem Zusammenhang möchte ich warnen, sich gerade aus fortschrittlicher Sicht nochmals allzu sehr auf Appelle an die „Kulturnation“ zu verlassen (wie das momentan in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist). All ihren Apologet*innen würde ich gerne noch einmal in Erinnerung rufen, dass dieses Konzept Ergebnis der Verweigerung politischer Mitbestimmung in der ausgehenden Monarchie war. Gerade weil das Bürgertum kein Zugang zu politischer Partizipation gewährt wurde, suchte sich dieses ein Ersatzfeld zumindest symbolischer Repräsentation. Sowohl nach dem Ersten als auch dem Zweiten Weltkrieg wiederum musste die „Kulturnation“ dazu herhalten, eine nationale Identität herzustellen, die aufgrund der verheerenden Vorgeschichten in Frage stand. Damit gelang es der Kulturpolitik, den Grundstein einer konservativen Grundstimmung in Österreich zu legen, die selbst in der glorreichen Phase sozialdemokratischer Aufbruchsstimmung in den 1970er Jahre nicht nachhaltig abgeschüttelt werden konnte. Heute braucht sich niemand mehr um die österreichische Nation Sorge machen, der Kulturbetrieb hat seine diesbezügliche Aufgabe erfüllt, den Rest erledigen die Populist*innen, die mit dem Kampf um die Aufrechterhaltung der „Kulturnation“ nochmals politisches Kapital schlagen wollen und doch nichts anderes im Sinn haben als die Gesellschaft zu spalten.

Entgegen denjenigen, die ein baldiges „Wieder“ herbeizureden versuchen, plädiere ich dafür, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Ähnliche Positionen kommen mittlerweile aus der Mitte des Betriebs. Jammern wird auf Dauer nicht ausreichen. Fast alles spricht dafür, dass wir auf längere Zeit mit diesem (oder einem kommenden) Virus werden leben lernen müssen – und das wird nachhaltige Auswirkungen auch auf den Kulturbereich haben.

Schon gibt es erste Versuche, den Kulturbetrieb neu zu denken, neue Settings und Formate zu erproben und dabei neue Beziehungen zwischen Kulturschaffenden und ihrem Publikum herzustellen. Selbst so renommierte Einrichtungen wie das styriarte-Festival oder das musikprotokoll sind zumindest in Teilbereichen dabei, sich neu aufzustellen. Aber wir stehen dabei noch ganz am Anfang.

Kooperation als entscheidende Fähigkeit zur Überwindung der aktuellen Krise

Wenn bislang der oft verzweifelte Versuch der individuellen Profilierung der Akteur*innen im Kulturbereich im Vordergrund gestanden ist, so scheint mir eine stärker auf Kooperation gerichtete Herangehensweise die derzeit einzig mögliche Vorwärtsstrategie. Dies betrifft die Überwindung bislang eherner Barrieren zwischen dem institutionellen und dem freien Bereich, das Zusammenfinden von Institutionen und Initiativen verschiedener künstlerischer Genres ebenso wie das Zusammenwirken des Kulturbereichs mit anderen gesellschaftlichen Sektoren, vor allem dem NPO-Bereich. Modelle des Peer-group-learnings bis hin zum temporären Austausch einzelner Fachkolleg*innen zwischen Belegschaften unterschiedlicher Unternehmensgruppen könnten dazu den Anfang machen.

Die Zukunft des Kulturbetriebs aus den Trümmern der (Lohn-)Arbeitsgesellschaft

Ein besonderes Anliegen ist mir im Zusammenhang mit dem gewachsenen Anspruch an Kooperation, das Verhältnis von Produzent*innen und Nutzer*innen neu zu denken. Dies scheint mir umso gebotener als die aktuelle Krise erwarten lässt, sodass mittelfristig hunderttausende Menschen ihre bislang sicher geglaubte Position in der Erwerbsarbeitsgesellschaft verlieren werden. Dazu kommen verschärfte Rationalisierungsstrategien, die die Industriellenvereinigung bereits jetzt von mehr als 800.000 Arbeitslosen (die Menschen in Kurzarbeit nicht mit einberechnet) sprechen lässt. Das aber bedeutet, dass immer mehr Menschen außerhalb des Kulturbereichs das Schicksal des Kulturprekariats teilen. Die einzig angemessene kurzfristige Antwort darauf erscheint mir der solidarische Zusammenschluss aller, die in der aktuellen Krise ins gesellschaftliche Out getrieben werden.

Mittelfristig aber könnte dies den Startschuss für ein breites öffentliches Gespräch um die Entwicklung neuer Wertvorstellungen und Sinnstiftungen im Rahmen einer “Tätigkeitsgesellschaft“ sein, die über die Ruinen der Arbeitsgesellschaft, wie wir sie kennen, hinausweist. Dazu aber ist der Kulturbetrieb gezwungen, sich aus seiner – wie sich in diesen Tagen schmerzhaft zeigt, immer weniger geschützten – Blase hinauszubewegen und in experimentellen Settings neue Allianzen zu erproben. Dies sollte umso besser gelingen, als immer mehr Beschäftigte im Kulturbereich selbst Leidtragende dieser Entwicklung sind, auch deshalb, weil bislang keine über die eigene Initiative hinausgehenden Koalitionen gesucht und so auch nicht gefunden wurden.

Das hat freilich auch mit dem Verschlafen von Entwicklungen der Arbeitsgesellschaft nicht nur im Kulturbereich (aber dort ganz besonders) durch die „Partei der Arbeit“ samt der Gewerkschaftsbewegung zu tun: Nur so konnte es zu einem Überhandnehmen neuer, atypischer Beschäftigungsverhältnisse kommen, die im Kulturbereich zu einem permanenten Wechsel zwischen abhängiger und freier, projektbezogener Erwerbstätigkeit führen. Apropos: Dass die SPÖ anlässlich der Veröffentlichung der Studie zur sozialen Lage der Künstler*innen, die von einem medianen Jahreseinkommen aus künstlerischer Tätigkeit in der Höhe von 5.000.— spricht, halte ich nach wie vor für einen Skandal (und für einen der tieferen Gründe, warum sich mittlerweile so viele Kulturschaffende in kritischer Distanz zu SPÖ wissen).

Ja, der Freie Sektor ist heute nach Jahren der staatlichen Negierung (auch durch SPÖ-Kulturpolitiker*innen) heute müde und erschöpft. Und trotzdem könnten sich seine Akteur*innen gerade jetzt nochmals daran erinnern, dass am Beginn der Szene genau diese Absicht, die strikte Trennung zwischen (Lohn-)Arbeit und Freizeit zu überwinden, stand, um so einer sinnstiftenden Existenz eines „ganzen Menschen“ näher zu kommen. Im Zusammenwirken mit klugen Köpfen aus dem institutionellen Bereich, die wissen, dass es so nicht weiter gehen kann, könnten neue Umsetzungsformen erprobt werden. Wir brauchen sie wie einen Bissen Brot!

Kein Wunder also, dass in letzter Zeit die Forderung nach einem „voraussetzungslosen Grundeinkommen“ aus dem Kulturbereich immer lauter geworden ist. Als ein Zeichen der Solidarität kann dabei nicht genug hervorgehoben werden, dass sich – geht es jedenfalls nach dem Gros der Kulturschaffenden – dieses nicht nur auf sie beschränken soll, sondern als ein gesamtgesellschaftlicher Anspruch formuliert ist. Wenn diesbezügliche Modelle anderswo bereits erfolgreich getestet worden sind so lassen sich dennoch sowohl positive als auch negative sozialpolitische Konsequenzen benennen. Umso wichtiger wäre gerade jetzt ein breiter öffentlicher Diskurs dazu.

Wir müssen wieder mehr über Kulturpolitik nachdenken und reden! – Wir brauchen dafür verlässliche Grundlagen – Und wir müssen Neues in der Praxis erproben

Wenig sprich in diesen turbulenten Zeiten dafür, ein, alle Probleme lösende kulturpolitische Antwort zu nennen: Sehr wohl aber kann man Anleihen bei bereits vor vielen Jahren durchgeführte Programme nehmen, dessen prominentestes wahrscheinlich das „Federal Arts Program“ im Rahmen des Dew Deal von Franklin D. Roosevelt ist (Der deutsche Kurator und Gallerieleiter Hans Ulrich Obrist hat versucht, dieses in Form eines „New New Deal“ auf die aktuelle Situation anzuwenden).

Alles, was man zumindest generalisierend einschätzen kann, deutet darauf hin, dass es neben den Hilfsprogrammen einer neuen Qualität des öffentlichen kulturpolitischen Gespräches bedarf. Dazu gehört auch die Bereitstellung verlässlicher Daten durch eine fundierte Kulturpolitikforschung, die mithelfen kann, im Sinne einer mehr evidenzbasierten Policy die grassierende Informalität und Personalisierung zumindest zu relativieren. Vielleicht am wichtigsten aber ist die Eröffnung diverser Experimentierfelder durch die staatliche Kulturpolitik, in denen neue Settings und Formate weitgehend voraussetzungslos erprobt werden können (Das Programm „dive in“ der Deutschen Bundeskulturstiftung ist dafür ein gutes Beispiel).

Ins Fürchten gehen – Auf dass das Fürchten vergeht

Dem Kulturbetrieb aber empfehle ich – Krise hin oder her – einen mutigeren Blick in die Zukunft (Ein Blick auf die sieben Säulen zur Reorganisierung eines stärker publikumsbezogenen Kulturbetriebes von Michael McIntyre könnten hilfreich sein). Jede Art der Zukunftsorientierung aber funktioniert nur in einer selbstbestimmten Haltung, mit der sich die Akteur*innen nicht auf ein Warten auf ein „wieder“ beschränken, sondern sich als umfassend Lernende begreifen und ihre Neugierde auf ein „noch-nicht“ als zentrale Ressource ihres Handelns richten, auch wenn auf dem Weg der permanenten Veränderung Gefahren drohen. In diesem Zusammenhang habe ich zuletzt wieder die Autobiographie von Marina Abramovic mit dem beziehungsvollen Titel „Durch Mauern gehen“ zur Hand genommen, die es sich als ihr künstlerisches Prinzip auf immer wieder neue Weise vorgenommen hat, nicht das zu wiederholen, was wir schon kennen, sondern sich in Situationen begeben, die wir noch nicht kennen, die uns fürchten machen, um so auf diese Weise erst neue Erfahrungen zu ermöglichen. Ihr Rat an den Kulturbetrieb ist ihr Leitspruch: „Erst wenn wir durch das Fürchten hindurchgehen, können wir dieses überwinden und zu uns kommen!“

Dieser erscheint in diesen Tag umso plausibler, wenn wir uns vergegenwärtigen, in welchen Schizophrenien wir uns befinden, in denen uns einerseits suggeriert wird, mit immer neuen Sicherheitsmaßnahmen jegliche Gefährdung eliminieren zu können und die uns anderseits vorführen, wie immer mehr Menschen – wie in diesen Tagen in Moria – existentiellen Gefährdungen ausgesetzt sind.

Ich hoffe, dass klar geworden ist, dass dieser Beitrag ein Plädoyer dafür darstellt, Neuland zu betreten, gerade jetzt den Anspruch der Zukunftsgestaltung zu erneuern, Experimente zu wagen und so an der Wiedererfindung der Zukunft mitzuwirken, in der wir dem Leben wieder das Unvorhersehbare abzugewinnen vermögen.

Wir brauchen endlich wieder eine Politik, die sich mit überzeugenden Zukunftsperspektiven profiliert

Eine solche „nach vorne offene“ Haltung des Kulturbetriebs hat auch etwas mit dem Zustand der politischen Interessensvertretungen zu tun. Ja, es stimmt schon, viele Kulturschaffende rümpfen gerne die Nase über die Niederungen einer Politik, die sich in den letzten Jahren ignorant gegenüber ihren Aktivitäten gezeigt hat. Aber auch sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Kulturbetrieb nicht im politikfreien Raum stattfindet und seine Akteur*innen sich nicht beliebig von gesellschaftspolitischen Entwicklungen abzuschotten vermögen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass bleibende Innovationsschübe des Sektors immer wieder einhergegangen sind mit Allianzen mit fortschrittlichen Kräften, die sich mit der Aufrechterhaltung des Status quo nicht zufrieden geben wollten.

Das aber bedeutet umgekehrt, dass der Kulturbetrieb auf die Formulierung politisch vermittelter Perspektiven angewiesen ist. Daher repräsentiert die aktuelle Krise des Kulturbetriebs auch ein Versagen – zumal fortschrittlicher – Politik, wenn es darum geht, überzeugende Zukunftsentwürfe zu entwickeln, um so ein Stück des Weges mit dem Kulturbetrieb zu gehen (auch wenn Populist*innen in diesem Zusammenhang gerne von „Staatskünstlern“ sprechen, sind solche, durchaus wechselseitige Kritik einschließende Allianzen nicht auf eine Instrumentalisierung des Kulturbetriebs inklusive seiner Autonomieansprüche durch die Politik hinausgelaufen, sehr wohl aber auf Auseinandersetzungen auf Augenhöhe, aus der beide Seiten bereichert herausgegangen sind).

Dies erscheint umso wichtiger, als der Kulturbetrieb auf sich allein gestellt zu einem Konservativismus neigt, der in der Vergangenheitsorientierung der österreichischen Kulturgeschichte seine tiefste, weil nicht mehr in Worte fassbare Verankerung findet. In der Verwaltung des kulturellen Erbes, da kennen wir uns aus, da kann nichts passieren. Und landen doch unversehens in einem Museum wieder, das eine Geschichte erzählt, die es freilich so nie gegeben hat.

Schließlich beschäftigen wir uns mit Kultur – Also streichen wir „wieder“ aus unserem Vokabular

Meine abschließende Empfehlung an den Kulturbetrieb, das Wort „wieder“ zu streichen. Wir bekämen dann wieder eine Ahnung davon, warum es den Sektor der Kultur, der über seine Bestandsinteressen hinausweist, in einer Phase eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses braucht. Was es braucht ist ein kulturell begründetes Zukunftsszenario, an dessen Ausgestaltung es sich lohnt, gemeinschaftlich zu arbeiten und an dem wir uns zu orientieren vermögen. Nostalgisch in einer vermeintlich besseren Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, herumstochern, das ist keine Kunst.

Positiver Nebeneffekt: Attwenger bräuchten dann auch nicht mehr ihren Song „Wama Liaba“ aus den 1990er Jahren endlos zu wiederholen.

ninocare/pixabay https://pixabay.com/de/photos/bücher-tür-eingang-kultur-1655783/

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