Über eine völlig schiefe politische Optik - oder Warum jetzt der schlechteste Zeitpunkt für die Grünen ist, die Koalition zu verlassen

Die ÖVP, Kanzler Sebastian Kurz und immer mehr seiner engsten Vertrauten haben ein Problem. Und doch konzentriert sich das öffentliche Interesse zunehmend auf die Grünen, denen vorgeworfen wird, die Koalitionsdisziplin aufrecht zu erhalten.

Also fragt selbst eine der Grandes Dames des österreichischen Journalismus Susanne Scholl in die Facebook-Runde, wer ihr erklären kann, warum die Grünen an dieser Koalition festhalten? Zur Beantwortung könnte sie die Grünen selbst fragen. Sie könnte aber auch ihre politische Vernunft strapazieren. Und diese hat etwas mit Weiterdenken zu tun. Immerhin erzwingt ihre Frage eine nachvollziehbare Einschätzung darüber, was passieren wird, wenn die Grünen die Koalition aufkündigen.

Aber nochmals von Anfang: Die Grünen haben sich zum Jahreswechsel 2019/2020 mit guten Gründen dazu entschlossen, nach ihrem Hinauswurf aus dem Parlament und ohne Regierungserfahrung als Juniorpartner in eine Koalition mit der türkisen Kurz-ÖVP einzutreten. Einer ÖVP, die zuvor einer bislang für unmöglich gehaltenen Veränderung in Richtung einer Führer-Partei modernen Zuschnitts unterzogen wurde. Also solche hatte sie kein Problem, selbst mit rechtsradikalen Kräften der FPÖ in eine Koalition zu treten, die solange funktioniert, bis diese – bislang zum dritten Mal – an der Hypostasie ihres Vorsitzenden in Ibiza scheiterte.

Als es zu den Regierungsverhandlungen zwischen den Türkisen und den Grünen kam, wusste der kleine Regierungspartner um den bedrohlichen Charakter der ÖVP, noch dazu, als diese gar kein Hehl daraus machte, fortan als Nutznießer der implodierten FPÖ (samt ihrer rassistischen Einstellung gegenüber Migrant*innen und Flüchtlingen) auftreten zu wollen. Man einigte sich auf den Slogan: „Das Beste aus beiden Welten“ und versprach sich wechselseitige Nichteinmischung. Dass dabei der größere, noch dazu mit allen Wassern des Politikmanagements ausgestattete Partner besser aussteigen würde als eine Partei, die aus dem Nichts in die Regierungsverantwortung gehoben wurde, musstge den Grünen von Anfang an klar gewesen sein.

Dann kam die Pandemie und mit ihr der Kampf um mediale Aufmerksamkeit, den lange Zeit die Grünen mit ihrem Sozial- und Gesundheitsminister für sich entscheiden konnte. Kurz und Co musste da schon sein ganzes Arsenal aufbieten, um da noch in den Meinungsumfragen mithalten zu können. Die Erkenntnisse rund um den Ibiza-Untersuchungsausschuss taten ein Übriges, die türkisen Allmachtsphantasien zu irritieren. Immer größere Teile des türkisen Spitzenpersonals geriet in die Mühlen der Ausschussarbeit und- als Konsequenz davon – der Gerichte. Und siehe da: Das bislang perfekt funktionierende System der Message Control des großen Regierungspartners konnte den verheerenden Eindruck in der Öffentlichkeit nicht mehr zudecken, dass gegen ein Gutteil der Kurz-Entourage und nun auch gegen Kurz selbst Ermittlungen stattfinden und gerichtliche Anklagen drohen.

Sichtbar wird bei der Gelegenheit nicht nur Verletzlichkeit der zentralen Akteur*innen sondern auch ihre weitgehende Unfähigkeit, sich in einem kontroversen politischen Geschehen, das sie nicht zu dominieren vermögen, adäquat zu verhalten. Der Lack ist ab und die ganze Truppe sieht plötzlich ziemlich jenseitig aus. Analyse aus dem heutigen Standard: „Eine eingeschworene türkise Truppe hievt Günstlinge in hochdotierte Jobs, zimmert sich die Republik zurecht, demoliert den Rechtsstaat, schert sich nicht um Transparenz“.

Statt aber die Kritik an der türkisen Kurz-ÖVP weiter zuzuspitzen verlagert sich die Diskussion zunehmend auf das Verhalten der Grünen, denen vorgeworfen wird, mit einem weiteren Zuschauen ihre (und damit die ihrer Wähler*innen) moralischen Werte zu verraten. Dass diese Kritik vor allem von denen besonders heftig vorgebracht wird, die noch vor eineinhalb Jahren dem Sog von Kurz messianischem Gestus unterlegen sind, um sich jetzt am Ersatz-Objekt Grüne zu rächen sei hier nur am Rande erwähnt.

Die Grünen haben bislang nicht offen erkennen lassen, dass sie daran denken, die Koalition ausgerechnet jetzt zu verlassen. Immerhin können sie damit spekulieren, den Moment der besonderen Schwäche der türkisen ÖVP zu nutzen, um ihr weitere Kompromisse zur Erfüllung der eigenen Agenda abzuringen. Es gibt aber auch eine über Partei-Interessen hinausgehende Dimension, die über das vorzeitige Ende des Untersuchungsausschusses weit hinausgehen würde. Sie besteht schlicht in der Beantwortung der Frage, was nach dem Ausscheiden der Grünen aus der Koalition mit Österreich als Ganzes passiert. Neuwahlen? Mit welchem Ergebnis?

Die Türkisen haben in den letzten Jahren einen großen Verschleiß ihrer Regierungspartner bewirkt. Im ersten Aufstiegsfuror musste der langjährige Koalitionspartner SPÖ als dauerhaft regierungsunfähig desavouiert werden. Danach verunmöglichte die FPÖ mit ihrem irrlichternden Vorsitzenden den Fortbestand der Koalition. Und jetzt erklären die Grünen die ÖVP für regierungsunfähig. Was bleibt da an Optionen in einem Land, in dem politische Mehrheiten traditionell rechts zu finden sind?

Zwei Szenarien tun sich auf, und beide sind nicht sehr vielversprechend. Da ist zum einen das Modell Israel, in dem ein interimistisch agierender Ministerpräsident Netanjahu, der ungeachtet von vier Wahlen seit Jahren an den Mehrheitsverhältnissen vorbeiregiert, um sich so mehreren gerichtlichen Anklagen zu entziehen. Kurz, der traditionell ein gutes Verhältnis mit Netanjahu pflegt, könnte sich von diesem vieles Abschauen beim Ausschalten des Parlaments und bei seinem provisorischen Weiterregieren darauf verweisen, dass er ja ohnehin bereit wäre, mögliche Koalitionen einzugehen. Aber leider fänden sich dafür keine Partner.

Das andere Modell ist noch etwas bedrohlicher: Es läuft darauf hinaus, dass das Kurz-Regime, einmal in Bedrängnis gebracht, zu immer radikaleren Mitteln greifen könnte, um an der Macht zu bleiben. Schon jetzt präsentieren sich Blümel und Kurz als Opfer eines rabiaten Parlaments, um zu versuchen, mit einer Charmeoffensive die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Dass sie aber auch ganz anders können, zeigen die Versuche, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zu beschädigen und damit pauschal die Glaubwürdigkeit der unabhängigen Justiz zu unterminieren.

Im Bestreben, das beschädigte Allmachtsverlangen zu stillen könnte ein Blick nach Ungarn und nach anderen – durchaus im Trend liegenden - illiberalen Demokratien verführerisch sein. Bei den türkisen Scharfmachern könnte sich die Analyse breit machen: Wir haben alle Koalitionspartner ausprobiert. Es ist leider nicht gegangen. Also müssen wir jetzt andere, und sei stärker autoritär getriebene Maßnahmen des Machterhaltes versuchen (historischen Erinnerungen könnten uns sicher machen, dass es sich dabei nicht bloß um das Phantasma einiger Spinner handelt.)

Vom moralischen Hochstand aus den Grünen Verhaltensregeln zuzurufen ist einfach und befriedigt doch nur ein Unterhaltungsbedürfnis, das danach schreit, die nächste Runde im Kampf um das goldene Kurz-Kalb einläuten zu können. Angesichts dieser Optionen läuft mein Plädoyer darauf hinaus, gerade jetzt die Grünen nicht zum Austritt aufzufordern sondern sie bei ihrem Verbleib mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen. Sie sind die einzig verbleibende Kraft an den Schalthebeln der Macht, um sie gegen die Umtriebe von Kurz und seine Bagage zu nutzen.

Heulen und Zähneknirschen können wir später.

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