Über meinen Vater Joschy Wimmer – die Karriere eines Musikers im 20. Jahrhundert

Es muss irgendwann in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen sein, als sich die Eltern meines Vaters in Wien getroffen haben. Meine Großmutter hatte es aus dem damals noch ungarischen Oggau nach Wien verschlagen; mein Großvater kam aus dem oberösterreichischen Geinberg einem Umweg über Salzburg. Beide kamen aus bescheidensten Verhältnissen. Meine Großmutter war noch ein halbes Kind, das zu Hause nicht mehr durchgefüttert werden konnte und sich also nun in der großen Stadt als Perlmuttbläserin verdingen sollte; mein Großvater hingegen fand auf seiner Walz eine Beschäftigung als Geselle beim Tapezierer Großmann. In Wien trafen sie sich als Bettgeher*innen: als arme Zuwander*innen konnten sie sich einen eigenen Wohnraum nicht leisten und mussten ihr Bett mit fremden Menschen teilen.

Irgendwann aber muss es doch geklappt haben, das junge Paar fand eine Wohnung in der Wehlistrasse im Zweiten Bezirk. Ganz wollten oder konnten sie ihre kleinbäuerliche Herkunft nicht ablegen, gerne erzählten sie von ihren Hühnern, die unter Tags auf der benachbarten Wiese verbrachten und abends den Weg allein in die Wohnung im ersten Stock fanden. Mein Vater kam als Erstgeborener 1910 auf die Welt. Die Großeltern berichteten von einem klugen Jungen, der sich schnell etwas merken konnte. Während sich seine um ein paar Jahre jüngere Schwester laut abmühte, für die Schule ein Gedicht zu lernen, konnte er es bereits fehlerfrei aufsagen. Sie hingegen verfügte über ein großes Zeichentalent, Glasmalereien von Vögeln schmückten ein Leben lang die Wohnung der Großeltern.

Mein Vater besuchte die Bürgerschule, in der damals die Kinder auf kaufmännische und handwerkliche Berufe vorbereitet wurden. Bereits zum Schulabschluss äußerte mein Vater ein klares berufliches Ziel: Er wollte unbedingt Musiker werden. Mein Großvater muss ihm trotz der beschränkten Verhältnisse Geigenunterricht ermöglicht haben. Aber wer ihm diesen Floh inmitten bitterer Armut ins Ohr geflüstert hat, einen solch anrüchigen Beruf zu wählen, hab‘ ich nicht herausgefunden. Die Unsicherheit des eigenen Werdegangs ließ meinen Großvater darauf bestehen, dass mein Vater zumindest für den Beginn „etwas Ordentliches“ lernen sollte. Widerwillig trat er eine kaufmännische Lehre bei den Garvens Pumpenwerken an. Nach der Familienlegende soll es mein Vater dort aber überhaupt nicht ausgehalten haben. Immer wieder erzählten die Großeltern davon, dass der junge Lehrling schon bald völlig abgemagert und krank geworden wäre. Also fügte sich sein Vater schließlich, wenn auch widerwillig in den Berufswunsch seines Sohnes.

Im erhalten gebliebenen Berufsalbum meines Vaters findet sich ganz am Anfang ein Foto von 1925, das ihn als Mitglied eines Schülerorchesters bei einer Aufführung „vor BM Seitz“ zeigt. Schon bald musizierte er in rasch wechselnden Besetzungen im Musikverein Donaustadt, im Lehrlingsheim Fischau, in der Conditorei Werzer, im Strandkaffee Pörtschach oder in der Tanzschule Aworsky. Ein Foto von 1928 zeigt ihn bereits auch als Trompeter in Nowozansky’s Band – neben dem Geigenspiel hatte er sich in dieser Zeit offensichtlich mit Hilfe von gelegentlichen Besuchen bei Privatlehrer*innen auch das Trompeten- und Akkordeonspiel beigebracht.

Fast alle Details, wie er zu diesen frühen Auftritten gekommen ist, liegen im Dunklen und doch lässt sich rekonstruieren, dass es damals einen großen Bedarf an Musiker*innen gegeben hat. In jeder Tanzschule, in jedem Kaffeehaus, das auf sich hielt, in jedem Hotel gab es Live-Musik und mein Vater fand sich mit seinen Instrumenten rasch in die Szene ein. Obwohl für die Aufnahmen gestellt, lassen die Fotos doch erahnen, dass das Musizieren mit der Picadilly Band meinem Vater großen Spaß gemacht hat; da will einer die Leute ohne Wenn und Aber unterhalten und kann sich dabei auf seine musikalischen Fähigkeiten verlassen.

Schon bald ist er auch außerhalb Österreichs unterwegs. Bereits mit 21 musizierte er in Tripolis. Casablanca, Bagdad, Ankara sind weitere nachvollziehbare Stationen, an denen er jeweils mit unterschiedlichen Unterhaltungsorchestern gastierte. Die Bildbelege deuten darauf hin, dass es damals einen vielfältigen musikalischen Tournee-Betrieb rund um das Mittelmeer gegeben hat. Er bot selbst ganz jungen und unerfahrenen Musikern regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten in Hotels, Bars, bei Bällen aber auch bei politischen Events. Und die Chance, die Enge Österreichs der Zwischenkriegszeit hinter sich zu lassen und die große weite Welt kennen zu lernen. Gerne berichtete mein Vater von einem Staatsempfang bei Mustafa Kemal Atatürk, wo er Zeuge des strikten Modernisierungskurses des türkischen Republikgründers geworden sei: Allen Gästen, die mit einem Gesichtsschleier oder mit Fez erschienen sind, habe der Gastgeber diese religiösen Accessoires brüsk einfach heruntergerissen.

Die wenigen Bilder aus dieser Zeit erzählen von ungetrübter Lebensfreude. Mein Vater verhält sich wie ein Tourist, er besucht örtliche Sehenswürdigkeiten, verkleidet sich in der Landestracht und genießt das Leben und ist mit unterschiedlichen Freund*innen unterwegs. Dazwischen schreibt er lange Briefe an seine Mutter. Als Engelbert Dollfuß ermordet wird, spricht sich das auch in der Levante herum. Das Mitleid, das er zu diesem Anlass für seine Mutter als einer tief katholischen Frau aufbringt, füllt mehrere Seiten. Sein Vater hingegen muss mit einem kleinen P.S. auskommen.

Zu Kriegsbeginn gastiert mein Vater im Libanon. Voll Stolz berichtete er immer wieder von einem gelungenen Coup, mit dem er sich einer Rückholaktion der Nazis entzogen hätte. Als das letzte deutsche Schiff die verbliebenen Staatsangehörigen „heim ins Reich“ bringen sollte, habe mein Vater eine tätliche Auseinandersetzung mit einem Taxi-Fahrer fingiert, sodass er das Schiff nicht rechtzeitig erreichen konnte. Stattdessen wurde er von England interniert, seine Aufgabe im Internierungslager war es, mehrmals am Tag den Zapfenstreich zu blasen. Dass er damals bereits zum ersten Mal verheiratet war, erfuhr ich nur ganz nebenbei.

Im Jahr 1941 kam mein Vater nach Österreich zurück. Ich kann nicht nachvollziehen, ob er das freiwillig tat oder dazu gezwungen wurde; unklar ist auch, warum er seine damalige Frau Magda nicht mitgenommen hat und warum er schon bald nach seiner Rückkunft eine Scheidung über die Distanz erwirkte. Wesentlich gesprächiger war er über den Umstand, dass es schon bald zu einer Anhörung in der Gestapo-Zentrale am Wiener Morzin-Platz kam. Befragt, warum er nicht rechtzeitig in seine Heimat zurückgekommen wäre, erzählte er die Geschichte mit dem Taxifahrer so, dass er es sich als Arier einfach nicht gefallen lassen konnte, sich von einem Einheimischen beschimpfen zu lassen. Offenbar glaubten ihm die Verhörspezialisten und er konnte das ehemalige Hotel Metropol als freier Mann verlassen. Dass es dabei einen Deal gegeben hat, wonach sich mein Vater verpflichten musste, sich von seiner jüdischen Ehefrau zu trennen, kann ich nicht völlig ausschließen.

Schon wenige Tage nach dem Verhör habe ihn ein Anruf einer Berliner Agentur erreicht: Er solle sofort eine kleine Band zur Truppenbetreuung unmittelbar hinter dem nord-östlichen Frontverlauf zusammen zu stellen – als ging er auf Wehrmachtstournee nach „Russland“ und die Baltischen Staaten. Was sie gespielt haben? Geht es nach den Aufnahmen, dann war es weniger sein Trompetenspiel als der Tanz spärlich bekleideter Sängerinnen, die bei den Soldaten Begeisterungsstürme hervorriefen. Dazwischen gastiert er aber auch in Wiener Bars wie der „Femina-Bar“ und im „Wintergarten“ – wären da nicht Konzerte bei „Kriegsverwundeten in der Rothschild-Villa“ könnte man den Eindruck gewinnen, der Wiener Unterhaltungsbetrieb ginge auch noch in den entscheidenden Kriegsjahren seinen gewohnten Gang.

Fotos, die er in den Einsatzgebieten gemacht hat, zeigen ihn in der schon gewohnten Unbekümmertheit. Wie schon zuvor fotografiert er lustige Situationen mit den Kollegen, beschreibt die Qualitäten seiner Sängerinnen („gute ungarische Sängerin“) und widmet sich den örtlichen Sehenswürdigkeiten. Die Zerstörung ganzer Städte findet in den Bildern keinerlei Niederschlag; es scheint, als würde er – zum Unterschied zu seinen Eltern, deren Wohnung 1944 in Wien völlig ausgebombt wird und die im Keller ihres Gartenhauses Schutz vor feindlichen Fliegerangriffen suchen – völlig in seinem musikalischen Kosmos aufgehen.

Und auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geht das musikalische Leben scheinbar nahtlos weiter. Er wurde Ensemble-Mitglied des Wiener Tanzorchester von Horst Winter (Kleiner Bär mit großen Ohren), beteiligte sich an Plattenaufnahmen, spielte in den Rundfunkorchestern und vor Besatzungssoldaten. Schon bald aber stellte er seine eigenen Bands zusammen und übernahm mit ihnen Engagements in diversen Hotels und Bars. Und er heiratete wieder, diesmal meine blutjunge Mutter.

Als ich 1950 geboren wurde, wohnten wir in der Brudermanngasse in Hütteldorf. Gerne erzählte mein Vater, er sei gegen halb zehn Uhr abends auf der Bühne davon informiert worden, dass gerade sein Sohn auf die Welt gekommen wäre. Als Reaktion auf seinen Schrei: „I hob an Buam“ habe die Kapelle spontan einen Tusch intoniert. In meinen ersten Lebensjahren waren meine Großeltern offenbar sehr präsent. Immer wieder kam die Rede auf den sozialen Aufstieg meines Vaters: Als nunmehr bekannte Größe des kleinen Wiener Unterhaltungsbetriebs lud er gerne Freunde, lieber noch Freundinnen zu sich nach Hause ein. Sie sahen in Joschy Wimmer eine wichtige Persönlichkeit, die mit dem Who is Who des Nachkriegswiens auf Du und Du war und wohl auch gute Beziehungen mit den Vertretern der Besatzungsmacht pflegte. Und dann ertönte aus dem Flug der Ruf seiner Mutter: „Peeepi“ und machte klar, aus welch einfachen Verhältnissen er sich hochgearbeitet hatte.

Auch die Schwester meines Vaters verbrachte die Kriegszeit in einem libanesischen Internierungslager. Sie war dort mit einem Trompeter verheiratet, der sich auf Grund seiner jüdischen Herkunft von den Nazis bedroht sah. Geht es nach den Erzählungen meiner Tante, dann hat mein Vater mitgeholfen, ihrem Mann noch rechtzeitig vor dem offiziellen Machtantritt Hitlers in Österreich ein Engagement im Libanon zu verschaffen, um ihn so vor den Nazi-Schergen zu bewahren. Beide kehrten erst in den frühen 1950er Jahren aus ihrer Internierung im Libanon zurück.

Schon bald übersiedelte die junge Familie in die Nikolsdorfergasse in Wien Margarethen. Gefühlt war mein Vater nur selten zu Hause: Er pendelte Tag und Nacht zwischen seinen zahlreichen Engagements; der wieder in Gang kommende Unterhaltungsbetrieb brauchte ihn. Mit den hart erarbeiteten Einnahmen konnte sich mein Vater einen Roller leisten. Und niemand fand etwas dran, dass ich als kleiner Junge (natürlich ohne Helm) zwischen seinen Beinen mitfahren durfte. Mit dem Roller und seiner Trompete auf dem Gepäcksträger fuhr er täglich die Höhenstrasse hinauf auf den Cobenzl, wo er im damals sehr angesagten Tanzcafé allabendlich musizierte.

Alle paar Wochen wechselten die Bands, die mein Vater aus einem großen Reservoir an guten Musikern zusammenstellte, ihre Engagements. Sie spielten in der Eve-Bar, der Casanova-Bar, im Kursalon im Stadtpark oder im Parkhotel Hietzing, wo ich ihn als kleiner Bub einmal bei einem Fünf-Uhr-Tee bei der Arbeit beobachten konnte. Mein Vater war damit ein fixes Mitglied einer dichten Live-Musik-Szene, die sich an den Jazz-Standards der amerikanischen Besatzer orientierte. Die Musik hingegen, die Horst Winter und seine Apologeten spielten, hatte für ihn den Geschmack des Überkommenen. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass Horst Winter mit „Joseph! Joseph! als Sie will nicht Blumen und nicht Schokolade“ bei den Nazis bereits 1943 in Ungnade gefallen war. Als ich ihm einmal eine besondere Freude machen wollte und ihm zu Weihnachten eine Horst-Winter-LP schenkte, wies er diese angeekelt von sich.

Mir erzählte mein Vater nie Details von seiner nächtlichen Tätigkeit. Ich kann also nicht beurteilen, ob ihm das „Anspielen“ wirklich Spaß gemacht hat, um den zahlungskräftigen Gästen mit seiner Geige musikalische Träume ins Ohr zu flüstern (Die Belegfotos mit diversen Direktoren mitsamt ihren Gelegenheitsbekanntschaften machen einen Gutteil der Sammlung aus). Jedenfalls hat er seinen Status sehr genossen. Er war sichtlich stolz, dass man ihn auf Grund seines Äußeren immer wieder als Herr Graf titulierte. Vielleicht ein Hauptgrund, warum er sich im Unterschied zu vielen seiner Kollegen seinen Erfolg nicht herbeitrinken musste; ihm genügten bis zu 80 filterlose Zigaretten, um über die Nacht zu kommen. Seine Wichtigkeit wollte er seiner Familie präsentieren. Ich erinnere mich an den Besuch eines Peter Alexander-Film. Wir warteten gebannt auf die Szene, in der die Band meines Vaters die Hauptfigur begleitete: 30 Sekunden Filmpräsenz für die Ewigkeit.

Mein Vater brachte gerne Witze nach Hause, die ihm die Kolleg*innen und die Gäste erzählten und die er sich in Stichworten auf einem Zettel in seiner Brieftasche notierte. Die meisten von ihnen waren damals sehr en vogue bei Graf Bobby und Graf Rudi Witze. Aber dann kamen schon die berüchtigten Judenwitze, die in der Unbedarftheit, wie sie erzählt wurden, auf eine weitgehende politische Bewusstlosigkeit der meisten in der Umgebung meines Vaters, inklusive ihm selbst schließen ließen.

Seine Vergangenheit als Buchhaltungslehrling legte er nie ab: Akribisch notierte er die allabendlichen Trinkgelder. Zeugnisse in kleiner und doch gut leserlicher Schrift finden sich ausgerechnet in den Fotoalben, in denen er ansonsten Künstler -Fotos von sich und seinen Kolleg*innen sammelte. Der Schmattes fiel umso üppiger aus, je mehr er den Musik-Wünschen der Gäste entsprechen konnte. Und ganz offensichtlich hatte er es drauf, die Menschen für sich und seine Musik einzunehmen.

Dabei verhehlte mein Vater nie, dass das, was er machte, für ihn harte Arbeit war. Stolz wies er darauf hin, dass er 363 Tage im Jahr (mit Ausnahme von Heiliger Abend und Karfreitag) mit seinen Bands unter Vertrag war, dazu kamen Schallplatten- und gelegentlich auch Filmaufnahmen sowie der Unterricht von Schülern zuhause. Vielleicht war es genau dieses Arbeitsethos, das ihn dazu brachte, sich nach seiner Pensionierung völlig aus dem Musikgeschäft zurückzuziehen, ja gleich keinerlei Interesse an den musikalischen Entwicklungen mehr zu zeigen.

Obwohl er gut im Geschäft war, suchte er doch auch die Anerkennung, die über den Tag hinaus reichen sollte. In seiner Verlassenschaft fand ich u.a. eine Trompetenschule, mit der er angehenden Trompeter*innen Unterricht erteilte (u.a. einen jungen Mann mit Hasenscharte, den er in meiner Anwesenheit schon Mal zur Verzweiflung bringen konnte). Die Anerkennung der damaligen Hohepriester des klassischen Musikbetriebs blieb ihm jedoch versagt. Damals tobte an der Wiener Musikakademie noch ein heftiger Abwehrkampf gegen alles Moderne, was nach Amerika roch (es sollte Jahre später seinem Kollegen Erich Kleinschuster vorbehalten bleiben, 1969 als Lehrer am Konservatorium Wien und 1981 eine erste Professur für Improvisation und Posaune an der Musikhochschule Graz anzutreten). Diese Form der Missachtung hat ihn geschmerzt. Gute Beziehungen pflegte er hingegen mit der Gewerkschaft „Kunst, Medien und Freie Berufe“. Die Zeitschrift „Tribüne“ lag bei uns zu Hause herum (seinen guten Kontakten verdanken wir zumindest einen Aufenthalt am Klopeiner See in einer ganz modernen Feriensiedlung).

Das gute Gedächtnis, das meinen Vater bereits in frühen Jahren ausgezeichnet hat, muss ihn sehr getragen haben. In meiner Erinnerung habe ich ihn nur selten beim Üben erlebt. Als Kapellmeister erhielt er laufend Zusendungen von neuen Nummern von Verlagen, die er in sein Repertoire aufnehmen sollte. Dank dieser permanenten Aktualisierung eignete er sich ohne viel Aufhebens ein umfassendes Repertoire an; die Gäste konnten vorschlagen, was sie wollten, er war in der Lage, all ihren Wünschen zu entsprechen.

Musikalisch war es sein Anspruch, einfach gute Unterhaltungsmusik zu machen. Auffallend im Nachhinein ist für mich, dass er sich kaum für neuere internationale Entwicklungen, vor allem in der Jazz-Szene interessierte, mit denen sich einige seiner Kolleg*innen wie Fatty George, Hans Koller, später Jo Zawinul einen internationalen Namen machten. Und die neuen Stars der aufkommenden Jugendbewegung, angefangen von Elvis Presley bis zu den Beatles oder den Stones, gingen an ihm spurlos vorüber. Immerhin berichtete er stolz, dass Friedrich Gulda nach einem Auftritt im Konzerthaus noch zu ihm in die Bar gekommen wäre, um sich in einer gemeinsamen Jam-Session freizuspielen.

Umso eindeutiger grenzte sich mein Vater von jeder Art von zickiger oder untamiger – wie er es nannte – Schlagermusik ab. Auch gegenüber Volksmusik war er reserviert. Ich erinnere mich an einen Besuch bei Salzburger Verwandten. Nach der Begrüßung betrat mein Vater als Erster das Wohnzimmer. Während wir noch im Vorzimmer warteten, machte er sofort wieder kehrt und stürmte mit einem Lachanfall heraus. Drinnen saß eine Gruppe von Frauen, alle im Dirndl und mit aufgesteckten Haaren, die Blockflöte in der Hand, nicht wissend, was ihnen gerade geschah.

Das muss wohl die Zeit gewesen, als mir mein Vater eine Trompete in die Hand drückte, auf der ich alsbald die C-Dur-Tonleiter spielen konnte. Das hat ihn sehr gefreut und doch hat er mir das Instrument schon bald wieder weggenommen, weil er körperliche Schäden bei seinem noch nicht ausgewachsenen Sohn befürchtete. Später – als mir mein Vater private Klavierstunden verpasste –versuchte ich mich möglichst vom Stil meines Vaters abzugrenzen und mich auf klassische Musik zu versteifen. Ein pubertärer Reflex, den ich bis heute bedaure, zumal ich von ihm viel hätte lernen können.

Das war zu der Zeit, als sich meine Eltern trennten; also machte sich mein Vater noch einmal auf die Suche nach einer guten Mutter für seinen Sohn. Schließlich wurde er fündig und ich erhielt eine um zehn Jahre jüngere Schwester. Und nahm schon bald so etwas wie eine Vaterrolle ein: Er selbst war einfach kaum präsent, auch dann nicht, als sie mit nur wenigen Wochen sterbenskrank im Spital lag. Er konnte oder wollte mit seinen vielfältigen Verpflichtungen im Ausland nicht vertragsbrüchig werden; dazu kam sein doch recht konservatives Familienbild, wonach sich die Mutter ja ohnehin um die Kinder kümmern würde. Einmal durften wir ihm etwa nach Riccione nachreisen, wo er in einem Hübner‘schen Hotel gastierte und wir einen Badeurlaub genießen konnten. Von einem Engagement aus Düsseldorf brachte mir mein Vater ein besonderes Geschenk mit: Einen Chemie-Baukasten, der zumindest meine schulische Laufbahn nachhaltig verändern sollte. Ein Jahr später fand ich mich als Schüler an der Höheren Lehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie in der Wiener Rosensteingasse wieder.

Beim Säubern einer Ritze in einem Fauteuil verletzte sich mein Vater an einer Fingersehne. Das war das Ende seiner Tätigkeit als Geiger. Schon zuvor war ihm auch die Kraft ausgegangen, jeden Abend die Trompete zu blasen. Um bis zum regulären Pensionsantrittsalter über die Runden zu kommen, nahm mein Vater Service-Jobs an der Finnischen und später der Pakistanischen Botschaft an. Aus dieser Zeit stammen die einzigen Bezüge zu möglichen politischen Einstellungen, wenn er stolz erzählte, dass er bei einem Empfang in der Finnischen Botschaft unerwartet in die Nähe Bruno Kreiskys geraten sei (das Belegphot wurde stolz herumgereicht). Für seinen Sohn holte er dann doch noch den Geigenkasten hervor: als junger Organist und Chorleiter lud ich ihn das eine oder andere Mal ein, bei einer Sonntagsmesse mitzuspielen. Er sagte ohne Zögern zu und gab mir die Gelegenheit, meinen Vater zu dirigieren.

Aber seine musikalische Karriere war noch nicht ganz vorbei: In dieser letzten Phase wurde das Akkordeon zu seinem hauptsächlichen Instrument. Zusammen mit einem Partner wurde er zum Heurigenmusikanten, der an den Wochenenden die Gäste in den Lokalen in Stammersdorf und Strebersdorf unterhielt.

Mit 65 aber war Schluss. Mein Vater legte von einem Tag zum anderen seine Instrumente weg: „Ich habe in meinem Leben genug gearbeitet!“, meinte er. Was er aber beibehielt, das war das Klavierüben. Dafür zog er aus seinem übervollen, akribisch nach dem Alphabet geordneten Notenkasten eine Nummer nach der anderen heraus, stellte den Wecker auf 10 Minuten und übte das Stück so lange, bis er es einmal fehlerfrei spielen konnte. Egal wie schnell oder langsam, es musste einfach notenrichtig sein. Als enervierter Zuhörer wunderte mich diese systematische Missachtung seiner Musikalität sehr. Immerhin sah ich in meinem Vater einen Musikanten durch und durch und jetzt sollte ich ihn bei einer dilettantischen Praxis beobachten, die meiner Vorstellung von ihm als Musiker so gar nicht entsprach. Nur manchmal befreite er sich von seiner trägen Übungsliteratur und improvisierte einfach drauf los. Da war er nochmals ganz der Alte, der Musiker Joschy Wimmer. Lebendiger zeigte er sich schon beim Canasta-Spielen: die gewonnenen Einsätze sparte er, um eines Tages seiner Frau die Schönheit des Libanon, vor allem Beiruts zeigen zu können. Dazu ist es nicht mehr gekommen.

Mein Vater verfügte sein Arbeitsleben lang über ein umfassendes Repertoire. Schon das Vorsingen einer Melodie reichte ihm, um daraus die fertige Nummer zu machen. Von Noten habe ich ihn nie ernsthaft spielen sehen. Diese herausragende Fähigkeit verhinderte jedoch nicht, dass sich schon bald nach Pensionsantritt erste Anzeichen von Demenz zeigten. Es folgte ein ganzes Lebensjahrzehnt, in dem er immer weniger von der Welt wahrzunehmen vermochte und er am Ende in den Status eines bewusstlosen Kleinkindes zurückfiel. Von Musik war da nicht mehr die Rede.

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