Übers Ausspucken und Erneuern in Zeiten der Pandemie

Gedanken bei der Relektüre des Buches „Der Kulturinfarkt– eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat und Kultursubvention“

2012 trat ein Quartett, bis dahin höchst ehrenwerte Vertreter des Kulturbetriebs, mit einer Polemik an die Öffentlichkeit, die ihr weiteres berufliches Leben mehr beeinflussen sollte als ihren Untersuchungsgegenstand. Als langjährig tätige Experten repräsentierten Dieter Haselbach, Pius Knüsel, Stephan Opitz und Armin Klein ebenso theoretische wie praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb. Irgendetwas muss damals ihr Fass zum Überlaufen gebracht haben: „So kann es nicht weitergehen!“ lautete ihre forsche Kampfansage an ein kulturelles Bewahrsystem, dem nach ihrer Einschätzung jegliche Innovationskraft abhandengekommen wäre. Verstärkt durch die Auswirkungen der Weltfinanzkrise 2008 auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse traten sie an, dem Kulturbetrieb aus einer Innensicht einen Spiegel vorzuhalten. Ihre grobe Anamnese lief auf den Befund hinaus, ein in die Jahre gekommenes, fettleibig um sich selbst kreisendes System ringe mit einem „Kulturinfarkt“, dem nur mit einer einschneidenden Diät beizukommen wäre. Also formulierten sie in provozierender Absicht unter dem Aufmacher „Die Hälfte?“ im deutschen Wochenmagazin „Der Spiegel“ ein Destillat ihres Buches mit dem Ziel, noch einmal eine breite kulturpolitische Diskussion.

Darf jemand, der im Glashaus sitzt, mit harter Münze werfen?

Wenn ihr zentraler Befund darauf hinausgelaufen war, der (öffentlich finanzierte) Kulturbetrieb wäre vor allem mit seiner eigenen Besitzstandswahrung beschäftigt, dann hatten die Autoren möglicherweise seine Widerstandsfähigkeit unterschätzt. Es muss auch sie überrascht haben, mit welcher Vehemenz ihre Vertreter*innen darauf reagieren würden, wenn ein paar „Kulturverräter“ den Status quo als ein tiefgehendes Krankheitsbild beschreiben und sich erdreisten, als Therapie u.a. eine Halbierung der öffentlichen Kulturförderung vorzuschlagen. Beginnend mit der Verdammung durch den Deutschen Kulturrat als zentraler Interessensvertretung, galten die vier Autoren in der Szene fortan als verfemt. Die Verteidigungsreihen wurden geschlossen, die Autoren bei Androhung des Jobverlustes zum Verstummen gebracht. Schon bald sprach niemand mehr vom „Kulturinfarkt“; der Versuch eines wohl zu selbstgefälligen Autorenteams, einen Akzent zur Erneuerung des Betriebs zu setzen, war nach hinten losgegangen. Da war der Vorwurf, die Autoren bedienten doch bloß populistische Ressentiments war noch das geringste Vergehen. So eruptiv das Buch seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, ausgestattet mit einer solchen Nachrede verschwand es nach einer kurzen und heftigen öffentlichen Kontroverse schon bald wieder in den Regalen einiger weniger Fachbibliotheken.

Acht Jahre später erlebt der Kulturbetrieb seine größte Krise seit 1945. Die Ursachen kommen diesmal nicht in Form einer polemischen Einschätzung aus den eigenen Reihen. Sie kommen von einer dramatischen Veränderung der äußeren Umstände, die von einem Tag auf den anderen ein überkommenes Geschäftsmodell zum Erliegen gebracht haben. Die Pandemie fordert vom Kulturbetrieb einen ganz besonderen Tribut. Da können Durchhalteparolen, wir würden alsbald wieder zu den alten Zuständen zurückkehren, noch so oft wiederholt werden; immer mehr Akteur*innen, vor allem aus dem Freien Bereich, wissen es angesichts ihrer existenziellen Bedrohungslage längst besser: Die Rahmenbedingungen, in dem der Kulturbetrieb tätig ist, sind drauf und dran, die betrieblichen Selbstverständnisse in seinen Grundfesten zu erschüttern. Die Ressourcen werden immer knapper; es gilt, sich auf neue Verhältnisse vorzubereiten. Klagen wie die des langjährigen Generaldirektors der Albertina Klaus Albrecht Schröder, der sich und seine bislang als krisenfest eingeschätzte Institution und mit ihr auch gleich weite Teile des Betriebs „im freien Fall“ sieht sind dafür die hässliche Begleitmusik.

„Das Bildnis des Dorian Gray“ lässt grüßen – Wir erleben gerade, wie es sich anfühlt, an der eigenen Selbstbezogenheit zugrunde zu gehen

Unter einem solchen Eindruck habe ich mir nochmals den „Kulturinfarkt“ vorgenommen und muss nach der Lektüre feststellen, dass viele der darin formulierten Einschätzungen – sieht man von der provozierenden These der Halbierung der öffentlichen Kulturbudgets ab – durchaus Anregungen für die Bewältigung für die heutige Krise enthalten, ja, dass wir uns vielleicht so manche dramatische Entwicklung erspart hätten, hätte der Kulturbetrieb dieses Angebot für eine Verbreiterung und Intensivierung des kulturpolitischen Diskurses nach 2012 nicht einfach unter den Teppich gekehrt.

Im ersten Teil weisen die Autoren nach, dass es vor allem seit den 1970er Jahren zu einer umfassenden Ausweitung der kulturellen Infrastruktur vor allem in Deutschland und der Schweiz (Österreich ist in Ermangelung eines hier ansässigen Fachautors nur indirekt Verhandlungsgegenstand) gekommen ist. Im Anspruch einer „Kultur für alle“ entstand so eine weitgehend unhinterfragte Wachstumslogik, wonach „Kultur“ per se als positiv anzusehen sei, „mehr Kultur“ nur umso besser. Von den Autoren auf den Punkt gebracht: „Kultur macht einfach rundherum glücklich“: Und so wurden wir in den letzten Jahren von einer affirmativen Rhetorik umnebelt, die mit Kultur alles zu versprechen wusste: „Sie macht unglückliche Individuen glücklich, glückliche intelligent. Sie macht Lehrer glücklich, weil sie einen fröhlicheren Unterricht verspricht und den Erwerb sozialer Kompetenzen fördert. Sie macht Politiker glücklich, weil sie gefahrlos Gutes tun können. Sie macht Wirtschaftsstatistiker glücklich, weil sie Wachstum verspricht….“ Die Auflistung der Versprechungen geht noch lange weiter und erklärt wohl, warum sich so viele, auf der richtigen Seite wähnende Kulturmenschen, damals so sehr auf den Schlips getreten fühlen mussten.

„Kulturnation“ – Das war einmal

Eine Etage ernsthafter verhandeln die Autoren einen politischen Begründungszusammenhang, der den unhinterfragten Ausbau der kulturellen Infrastruktur u.a. mit der Absicht, den Ansprüchen einer „Kulturnation“ gerecht zu werden, begründen; eine „Kulturhoheit“ der Länder sollte das für Mitteleuropa typische Naheverhältnis zwischen Staat und Kulturbetrieb legitimieren, ein daraus abgeleiteter „Kulturauftrag“ des Staates die dafür notwendigen staatlichen Maßnahmen gewährleisten. Dabei blieb freilich unberücksichtigt, dass dem Kulturbetrieb nach dem historischen politischen Zusammenbruch von 1945 in der Tat eine bedeutende Funktion zur Wiedergewinnung einer nach innen ebenso wie nach außen wirksamen nationalen Identitätsbildung zugekommen ist. Diese Aufgabe aber hatte sich spätestens in den 1970er Jahren erledigt, wenn große Mehrheiten die Zugehörigkeit zur deutschen oder österreichischen Nation in keiner Weise mehr anzweifelten und so im Konzert- oder Theatersaal nicht mehr zum „wahren“ Deutschen oder Österreicher erzogen werden wollten. Diese kontrafaktische Zuschreibung dient heute bestenfalls rechtspopulistischen Kräften, sich gegenüber Zuwander*innen als Verteidiger eines weitgehend inhaltsleer gewordenen „Deutschtums“ oder „Österreichtums“ zu profilieren.

Kurzer Sidestep: Ausgehend von dieser unvergleichlichen Erfolgsgeschichte der nationalen Kulturpolitiken in den ersten Nachkriegsjahren spricht heute fast alles dafür, ähnliche Anstrengungen zur Konsolidierung des europäischen Projekts zu versuchen. Dazu aber wäre es notwendig, kulturpolitische Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene zu verlagern, eine Forderung, die wesentlich zur Vergemeinschaftung der europäischen Gesellschaft beitragen würde und von deren Umsetzung wir doch weiter denn je entfernt sind.

Über eine „Kultur für alle“, die nur von wenigen genutzt wird

Mit dem ungeregelten, um nicht zu sagen wildwüchsigen Ausbau der kulturellen Infrastruktur entstünden nach Haselbach & Co zumindest mehrere Problemlagen: Da ist zum einen der Umstand, dass das daraus resultierende gewachsene Angebot weiterhin nur sehr selektiv wahrgenommen wird. Damit verweist der „Kulturinfarkt“ auf einen Aspekt des Kulturbetriebs, der gerne unterbelichtet bleibt: Er besteht darin, dass seine Ausgestaltung nicht nur integrative, sondern auch segregierende Wirkung zu entfalten vermag. Das gilt umso mehr in Zeiten wachsender sozialer Polarisierung, von der mittlerweile auch die europäischen Gesellschaften voll erfasst sind. Kulturpolitik aber scheint bislang auf diesem Auge weitestgehend blind; ihre Maßnahmen privilegieren nach wie vor die ohnehin Privilegierten, während sie die wachsende Zahl der Diskriminierten ihrem unglücklichen Schicksal überlässt. Die Rhetorik, die unter Beibehaltung der dominierenden Organisationsformen davon berichtet, sich in besonderer Weise um „sozial Benachteiligte“ oder „bildungsferne Schichten“ bemühen zu wollen, führt ungewollt eher zu stigmatisierenden als zu partizipativen Effekten.

Der Hype um die „Kulturgesellschaft“ und die Zunahme irrationaler Tendenzen. Gibt es da einen Zusammenhang?

Eine besonders tiefgehend negative Auswirkung sehen die Autoren ausgerechnet für das Standing von Wissenschaft in der Gesellschaft: Mit der Hypostasierung von Kultur mutiere der Staat zum Treiber einer unwissenschaftlichen Weltsicht: Die Folge ist die Verengung von Weltsicht auf ästhetisch-vermittelte Geschmacksfragen, die sich als solche intersubjektiver Bewertung verweigern. Zusammen mit der Logik der Konkurrenzgesellschaft, die Individualisierung zur einzig erfolgsversprechenden Handlungsanleitung erhebt, erweise sich der Hype um Kultur als ein herausragendes Desintegrationsmittel. Die umfassende Ästhetisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse verunmögliche einen kulturszenen-übergreifenden Common Sense. Das Ergebnis wäre eine allgemeine Wissenschaftsverachtung, die privaten Weltsichten inklusive der Kultivierung von Verschwörungstheorien aller Art Tür und Tor öffnen würde (Der Umstand, dass sich der Kulturbetrieb bislang in besonderer Weise seiner wissenschaftlichen Beforschung verweigert wie die zunehmende Einsicht, dass sich die brennenden Probleme der Gegenwart, allen voran die aktuelle Gesundheitskrise nicht durch Kultur, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft werden lösen lassen).

Die Hauptkritikpunkte an den Thesen des „Kulturinfarkt“ aber betreffen die Infragestellung der segensreichen Wirkung öffentlicher Förderung als Mittel zur Marktkorrektur. Ganz offensichtlich möchten sie möglichst holzschnittartig eine Gegenposition zum herrschenden und handlungsleitenden Vorurteil „Förderung befreie die Kunst, der Markt versklave sie“ herstellen. Ihre Argumentation läuft – und das war wohl der besondere, als unsolidarisch empfundene Affront gegenüber allen Förderungsempfänger*innen – darauf hinaus, dass staatliche Förderung nicht nur Vorteile bringen, sondern auch Nachteile. Vor allem würde diese Form der Alimentierung die systemimmanenten Beharrungskräfte stärken und die notwendige Weiterentwicklung behindern. Die Gefahr einer inhaltlichen Einflussnahme, gegen die die Szene die Monstranz der Autonomie errichtet hat, stelle dabei das geringere Problem dar.

Die fatalen Auswirkungen einer angebotsorientierten Kulturpolitik

Die Autoren kritisieren dabei vor allem eine scheinbar unkorrigierbare und doch falsche kulturpolitische Prioritätensetzung, die auf eine einseitige Angebotsorientierung hinausläuft. Diese würde durch die bestehende Förderstruktur begünstigt und verhindere notwendige Anpassungen an ein geändertes Nutzer*innen-Verhalten. In der Weigerung, die (potentielle) Nachfrager*innen-Seite stärker in den kulturpolitischen Blick zu nehmen, würden diese auf einen dynamisch sich weiter entwickelnden Kulturmarkt verweisen. Der geförderte Kulturbetrieb hingegen könne sich dank marktunabhängiger Einnahmequellen auf den Erhalt überkommener Strukturen setzen, um sich blind zu stellen gegenüber den neu entstandenen Kommunikations- und Interaktionserwartungen der Nutzer*innen.

Man könnte diesem Befund entgegenhalten, dass sich – jedenfalls in Österreich – auch die hochsubventionierten Einrichtungen in den letzten Jahren in Ermangelung zielgerichteter kulturpolitischer Vorgaben den Markt zum Maß aller Dinge erklärt hätten. Bei der Berücksichtigung der Nachfrage aber haben sie sich – etwa im Sektor des boomenden internationalen Kulturtourismus – diejenigen Filetstücke herausgesucht, die ihren gestiegenen Einnahmeerwartungen am besten entsprochen hätten. Allen anderen hätten sie zudem einen Bedeutungsverlust signalisiert, wenn seither immer weiter steigende Produktionskosten trotz verschärfter Konkurrenzbedingungen am Markt im Zuge von Sonderprogrammen (vor allem im Bereich der Bildung und Vermittlung) mit immer günstigeren Preisen verknüpft werden.

Trotz angebotsorientierter Schlagseite könnten gerade produktionsseitig die Effekte nicht verheerender sein. Immerhin treibe eine solche Privilegierung alle anderen Marktakteuren, die mit wenig oder gar keiner öffentlichen Finanzierung auskommen müssen, in einen ungleichen Konkurrenzkampf, den sie – bis auf wenige Nischen – nur verlieren können. Der gegenwärtige vielfach beschädigte Zustand des Freien Bereichs in Österreich ist dafür mehr als ein beredeter Ausdruck für die dadurch zumindest ein Kauf genommene Verungleichung nicht trotz, sondern durch staatliche Interventionen.

Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie gilt es, das Verhältnis zwischen Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neue ausbalancierte Grundlage zu stellen

Mit der Pandemie erscheint diese Logik fürs Erste auf den Kopf gestellt: Das Publikum ist von einem zum anderen Tag weggebrochen, damit ein Geschäftsmodell an sein Ende gekommen. Die kulturpolitischen Konsequenzen suggerieren mit jedem Tag deutlicher, dass ein „more of the same“ die Lage nur verschlechtert, wenn es nicht gelingt, das Verhältnis von Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neue ausbalancierte Grundlage zu stellen.

Bei der Einschätzung positiver ebenso wie negativer Effekte der staatlichen Privilegierung ausgewählter Marktakteure verhandeln die Autoren auch den Aspekt der meritorischen Güter: Volkswirtschaftlich handelt es sich dabei um die Produktion gesellschaftlich wünschenswerter Güter, für die keine ausreichende Nachfrage herrscht. Um diese auszugleichen, übernimmt der Staat im Zuge seines „Kulturauftrags“ zumindest einen Teil der Produktionskosten und sorgt für hinreichende Distributionsmaßnahmen. Dass er sich dabei vor allem auf diejenigen stützt, die er aus seiner Sicht am leichtesten zu erreichen kann, ein liberales und wohlhabendes Bildungsbürgertum, ist ein weiterer Grund, warum sich der Kulturbetrieb in Zeiten wachsender Polarisierung sehr zur Freude der Rechtspopulist*innen immer mehr vom großen, mittlerweile vielfach ausdifferenzierten Rest der Gesellschaft entfremdet.

Damit aber fördert der Staat in der aktuellen Situation meritorische Güter, die nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung ankommen. Alle anderen, obwohl ihr sozialer Status oft wesentlich schlechter ist als der in erster Linie Begünstigten, sind mit ihren kulturellen Vorlieben ganz ohne staatliche Beihilfen auf einen Markt verwiesen, dessen Akteure sich darin zu überbieten versuchen, den kulturellen Erwartungen der potentiellen Nachfrager*innen zu entsprechen. Und wir haben es einerseits mit einem wohlhabenden gesetzten Ehepaar zu tun, dessen Opernbesuch bei den Salzburger Festspielen hoch subventioniert wird, während der Lehrling für den Besuch seiner Lieblingsband volle Länge bezahlen muss. Das versteht in einer Gesellschaft, die nach den langen Jahren einer „Kultur für, mit und von allen“ angeblich keine kulturellen Hierarchien mehr kennt, keiner mehr – außer ein paar Begünstigte.

Könnte es sein, dass der Gegensatz zwischen künstlerischer Qualität und Publikumsgeschmack selbst als Teil der umfassenden Verteidigungsstrategie eines der Gesellschaft zunehmend entfremdeten Kulturbetriebs künstlich herbeigeredet wird?

Ganz offensichtlich sind in unser aller Köpfe noch kategoriale Trennlinien eingegraben, die etwa der E-Kultur einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert zuschreiben als der U-Kultur. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhänge auf Gedankenkonstrukte der Frankfurter Schule hin, die just 1945 Adorno und Horkheimer in ihrer legendären Schrift „minima moralia“ die Gefahr einer Überfremdung durch ein amerikanische Unterhaltungsangebot (Kinofilm, Jazz, Comics, brrrrr!) höher eingeschätzt haben als das Fortwirken nationalsozialistischen Gedankenguts. Also halten die Repräsentant*innen der staatlichen Verwaltungen bis heute an der Illusion eines wünschenswerten Kulturbegriffs fest, der sich als experimentell, widerständig und kritisch den Marktkräften verweigert und daher der staatlichen Alimentation bedarf. Dass das nur einige wenige Spezialist*innen interessiert, liegt dann in der Natur der Sache. Alles andere wären in dieser Logik falsche Anbiederungsversuche, die es drauf anlegen würden, einem ignoranten Publikum nach dem Mund reden zu wollen. Und damit auch gleich jegliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu ersticken.

Spätestens mit der digitalen Revolution spricht vieles dafür, dass es sich beim Beharren auf diese kategorialen Trennung in einer kulturell enthierarchisiserten gesellschaftlichen Verfassung um eine billige Vermeidungsstrategie handelt, wo es doch darum geht, die Nutzer*innen sowohl in ihren Unterhaltungsbedürfnissen, darüber hinaus aber auch in ihrer Kritik- und Veränderungswilligkeit ernst zu nehmen. Wenn die neuen digitalen Kulturräume etwas deutlich machen, dann ein geändertes kulturelles Verhalten, mit dem neue Interaktions- und Ko-Kreationsformen zur Selbstverständlichkeit geworden sind und daher auch für den traditionellen Kulturbetrieb eingefordert werden. Entsprechend spricht vieles dafür, dass eine Neubewertung der Bedeutung der Nutzer*innen nicht notwendig zu einer weiteren Nivellierung führen muss; stattdessen könnte gerade der Bedeutungszuwachs der Nachfragerseite zu einer Neubelebung des Kulturbetriebs führen, der in diesen Tagen jede Orientierung verloren hat, wie es weiter gehen könnte.

Dafür müsste man freilich Kritikern wie Haselbach & Co nicht einmal mehr der Mund verbieten und sie totschweigen. Statt ausschließlich auf weitere staatliche Hilfsprogramme zur Stärkung der Angebotsseite zu hoffe, müssten gerade jetzt „die Fetzen fliegen“ im Bemühen, neue Konzepte für die Weiterentwicklung des Kulturbetriebs zu verhandeln. Dabei könnten wir erstaunt feststellen, dass längst eine neue Generation an Kunst- und Kulturschaffenden entstanden ist, die schon lange nicht darauf wartet, dass der Staat sie wahrnimmt, sondern das gestalterische Heft selbst in die Hand nimmt und sich in Aufmüpfigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen übt.

Eine neue Kunst- und Kulturstrategie tut not

Wir erleben gerade das Ende eines Verwaltungshandelns einer Kulturpolitik, die die Aufrechterhaltung des Status quo zum Maß aller Dinge erklärt hat. Noch nie waren konzeptionelle Neubegründungen so sehr gefragt wir heute. Im aktuellen Programm der österreichischen Bundesregierung ist die Erarbeitung einer neuen Kunst- und Kulturstrategie vorgesehen. Passiert ist bisher nichts. Manches könnte man sich im Empfehlungsteil des „Kulturinfarkts“ abschauen. Die Autoren selbst haben mit der Forderung nach einer aus ihrer Sicht wünschenswerten Halbierung der öffentlichen Förderung jede weitere Diskussion abgewürgt. Ihre starken Sprüche konnten als Alibi dafür herhalten, schon damals über die zunehmende Dringlichkeit einer Neuausrichtung entlang nachvollziehbarer inhaltlicher Schwerpunktsetzungen erst nachdenken zu müssen.

Aber wann, wenn nicht jetzt wollen wir endlich hinschauen, dass wesentliche Teile der staatlichen Förderung auf einige wenige Institutionen verteilt werden, während der überwiegende Teile der Szene ohne jegliche Angabe sachlicher Argumente (außer, dass diese Praxis einfach historisch gewachsen sei) mit immer bescheideneren Tranchen zurande kommen muss? Mit dem Argument, nur ja keinen Neid zwischen den Szenen zu schüren, wurde dieser Skandal einer ungleichen Behandlung die längste Zeit zum Tabu erklärt. Die junge Generation hat – soweit ich das verfolge – als eine Folge davon ihren Glauben an ein staatliches Interesse an ihren künstlerischen Vorhaben längst verloren. Kein Wunder also: Der Generationenkonflikt hat auch das Metier der Kultur in vollem Ausmaß erreicht.

Es spricht also manches dafür, die mit dem „Kulturinfakt“ auf die Tagesordnung gebrachte Frage nach der Relevanz des Kulturbetriebs für die gesamte Gesellschaft wieder aufzunehmen und damit Kulturpolitik auf neue, gut begründbare Grundlagen zu stellen.

Es gilt, Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen

Die Autoren sprechen auch im deutschsprachigen Raum erstmals von der Notwendigkeit, nachvollziehbare öffentliche Ziele zu formulieren, die die Fortsetzung einer Privilegierung ausgewählter Kulturangebote für eine zunehmend heterogene Bevölkerung verständlich, vielleicht sogar notwendig machen (Die Aufrechterhaltung der Kulturnation gehört sicher nicht dazu). Anhand inhaltlicher Vorgaben sollten sich Kultureinrichtungen – wie das in anderen Ländern längst üblich ist – alle paar Jahre einer umfassenden Evaluierung stellen, um nachzuweisen, dass die vereinbarten kulturpolitischen Ziele in der jeweiligen Förderperiode auch erreicht worden sind. Darüber hinaus sollte Kulturpolitik Motivation bieten, um zusammen mit den Nutzer*innen neue Settings und Formate zu erproben. Damit würde es möglich, die ganze Palette kultureller Produktion, Vermittlung und Distribution anhand von relevanten Praxiserfahrungen neu zu verhandeln und auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen. Dazu sprechen sich die Autoren für eine Stärkung der Laienkultur aus und skizzieren die Umrisse einer interkulturell ausgerichteten Kulturellen Bildung (das schließt die Fähigkeit mit ein, „Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen und damit verbundenen Enttäuschungen“ ebenso mit ein wie das Anerkenntnis, dass die Lösung der großen gesellschaftlichen Problem zuallererst einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen und kulturelle Selbstinszenierung dafür keinerlei wirksamen Ersatz zu bieten vermag).

Eine stärkere Einbeziehung in der Verfolgung gesellschaftlicher Strategien hätte nach ihnen auch Auswirkungen auf Kunstausbildungseinrichtungen, die sich von „Kapellen zur Anbetung staatlicher Garantien“ zu Produktionszentren weiterentwickeln würden. Also Orte, in denen im Verbund mit relevanten Marktakteuren wie Filmemachern, Galerien, Museen, Verlagen, Konzert- und Theaterveranstaltern sowie Medienbetreibern die von den Studierenden gestalteten Produkte einem laufenden Wirklichkeitstest unterworfen werden.

Der Kulturbetrieb auf dem Weg in die Normalität – Involvierung, Kollision, Konflikt, Kooperation und Partizipation als die neuen handlungsleitenden Begriffe

Es ist wohltuend, die Autoren bei der Skizzierung eines Entwicklungsweg für den Kulturbetrieb in Richtung mehr Normalität zu begleiten: Dabei könnte sich Kulturpolitik von ihrem hohen Ross einer gesellschaftlichen Erziehungsanstalt zurückziehen und sich folglich von der Verkündigung moralischer Urteile verabschieden: Kulturpolitik als Medium glaubwürdiger Zukunftsgestaltung „ ist weder auf einen idealen Endzustand ausgerichtet, noch kann sie sich nicht mehr als Advokatin einer bestimmten Ästhetik gerieren. Sie mutiert wie alle anderen Politikfelder zu einem dynamischen Regelsystem, das auf Widersprüchen baut, statt sie zu vermeiden. Sie will nicht die Zähmung optimieren, sondern die Kollision“.

Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie sieht sich der Kulturbetrieb dem Verdacht ausgesetzt, in einem (öffentlich geförderten) Glassturz seine Distanz zu den Niedrigkeiten des übrigen Weltgeschehens möglichst ungestört zelebrieren zu wollen. Der Umgang mit den Autoren des „Kulturinfarkts“ hat den Beweis erbracht, wie gut er es versteht, diesbezügliche Kritiken zugunsten eines bedingungslosen „Weiter wie bisher“ einfach auszuspucken. Jetzt aber ist alles anders: Der Druck kommt von außen. Und er ist so stark, dass bei Ausbleiben jedes Erneuerungswillen es diesmal der große Rest der Gesellschaft sein könnte, der diese Spuckfunktion übernimmt.

Vor acht Jahren haben ein paar Reformer aus den eigenen Reihen eine paradoxe Intervention gesetzt. Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Es könnte sein, dass ein ignoranter Kulturbetrieb mit dem Beharren auf Realitätsverweigerung gerade dabei ist, einen noch einen höheren zu zahlen.

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