Der Kulturbetrieb leidet an Publikumsschwund: Kann es sein, dass er uns nichts mehr zu sagen hat?
In diesen Tagen wird viel über das Ausbleiben des Publikums bei Kulturveranstaltungen gerätselt. Die Begründungen reichen von anhaltender Ansteckungsgefahr über digitale Alternativen bis zu finanziellen Sorgen angesichts der aktuellen Teuerung. Diese Erklärungsversuche verfehlen eine tieferreichende Erklärung für das nachlassende Interesse, die das Kulturangebot selbst betrifft.
Der deutsche Soziologe Philipp Staab kommt in der Studie "Anpassung - Leitmotiv der nächsten Gesellschaft" zu dem Schluss, dass sich in den krisengebeutelten modernen Gesellschaften die Vorstellung von "Fortschritt" weitgehend verflüchtigt hat. Vor allem junge Menschen sind nicht mehr damit beschäftigt, eine "bessere Welt" zu verwirklichen, sondern damit, ihre allgegenwärtigen Zukunftsängste zu managen. Statt "Selbstentfaltung" heißt ihr Leitmotiv nun "Selbsterhaltung".
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Sie treibt nicht mehr das Gestalten ihrer Lebensumstände um, sondern die kollektive Einsicht, dass die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaften in der aktuellen Verfassung wesentlich geringer ist, als noch ihre Elterngeneration angenommen hat. Statt zunehmend illusionär erscheinende Zukunftspläne zu schmieden, sind sie gezwungen, mit all den Krisenerscheinungen von Pandemie, Klimawandel, Neoautoritarismus, Jobunsicherheit, Auseinanderbrechen der Gesellschaften und jetzt auch noch Krieg "irgendwie" zurandezukommen. All das verlangt laut Staab uns allen (den Jungen ganz besonders) umfassende Anpassungsleistungen ab.
In einem solchen Ambiente sich vertiefender Verunsicherung lernt die nachwachsende Generation vor allem eines: weiterzuwurschteln. Die einzige positive, weil entlastende Konsequenz liegt im Wegbrechen eines (zuletzt zunehmend leer gewordenen) ideologischen Anspruchs auf Selbstverwirklichung (samt Verweisen auf Leistungsbereitschaft, Kreativität, Innovationsfähigkeit und wie die permanenten Stress verursachenden Slogans einer Überforderungsgesellschaft alle heißen): "Wer nicht mehr glaubt, das meiste für sich und seine Umgebung herausholen zu müssen, der glaubt auch nicht mehr an die Zurufe, es dauernd zu müssen."
Kollektive Desillusionierung
Eine solche kollektive Desillusionierung hat gravierende Auswirkungen auch auf das kulturelle Selbstverständnis. Und damit auch auf das Angebot des Kulturbetriebs. Immerhin verstanden sich dessen Vertreterinnen und Vertreter die längste Zeit gern als eine Speerspitze des Fortschrittsgedankens, der da gerade zu Grabe getragen wird. Mit seiner Hilfe galt es im Selbstverständnis aller Beteiligten, Möglichkeitsräume zu eröffnen, auf spielerische Weise Zukunftsentwürfe zu verhandeln und dabei dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten, in dem es die Probleme seiner Zeit erkennen, aushalten und bearbeiten sollte.
Dieses Bedürfnis, sich in einem staatlich alimentierten Schutz- und Experimentierraum für eine bessere Zukunft zu bewegen, mag für unmittelbar im Kulturbetrieb Involvierte schon aus Gründen des Selbsterhalts weiterhin bestehen. Umso schwerwiegender ist die Einsicht, dass das für immer mehr Menschen außerhalb des Kulturbetriebs nicht mehr der Fall ist. In der erschöpfenden Anstrengung, mit den Zumutungen des Lebens zurechtzukommen, ist deren Bedarf gesunken, sich in traditionellen Settings der Repräsentation erklären zu lassen, dass es gravierende Probleme in der Welt gibt, und von den künstlerischen Hochsitzen aus beauftragt zu werden, sich damit auseinanderzusetzen. Dass das Leben zunehmend schwierig geworden ist, wissen sie im Versuch der Bewältigung ihres Alltags selbst nur zu gut.
Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts sahen es als ihre Bestimmung, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu schließen und damit relevant für ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu sein. Jetzt ist die den Künsten innewohnende Unvorhersehbarkeit, Widersprüchlichkeit und Prekarität bei den Menschen angekommen: Was auf der Bühne passiert, ist für sie kein Spiel mehr, es ist ihre Realität geworden. Und bedarf so keiner künstlerischen Überhöhung mehr. Kunst und Leben sind - freilich anders als konzipiert - in diesen Tagen zur Deckung gekommen.
Keine Neuaufstellung
Mit dieser unerwarteten Engführung kommen wir um die Frage nicht mehr herum, was der Kulturbetrieb den Menschen noch zu sagen hat (was sie nicht ohnehin schon wissen). Einzelne Kommentatoren raten zu mehr "Unterhaltung", in der Hoffnung, damit das Publikum zumindest kurzzeitig von seinen Sorgen und Existenzängsten ablenken zu können. Andere machen einfach weiter wie bisher, in der Hoffnung, damit zumindest ihrem Stammpublikum wieder eine außerhalb des Kulturbetriebs längst zu Ende gegangene "Normalität" bieten zu können.
Gemeinsam ist ihnen, sich von den allen anderen abgeforderten Anpassungsleistungen ausgenommen zu wähnen: Weite Teile des Kulturbetriebs weigern sich weiterhin standhaft, sich zugunsten einer breiten Öffentlichkeit neu aufzustellen und ihren Publika Mitsprache oder gar Mitbeteiligung zuzusprechen. Mit ihrer mangelnden Flexibilität verweisen sie auf den eigentlichen Grund des aktuellen Schwunds an Publikum. Dieses erwartet sich als passiv gehaltene Rezipientinnen und Rezipienten vom Kulturbetrieb nichts mehr, was nicht schon längst im eigenen Alltag angekommen ist. Also werden einzelne Akteursgruppen noch eine Weile um sich selbst kreisen, in der vagen Hoffnung, dass ihnen irgendwann ein neues (kultur-)politisches Projekt neuen Schwung zu verleihen vermag. Andere werden aufgeben und sich anderen Aufgaben zuwenden.
Eine von einem erneuerten Kulturbetrieb ausgehende Aufbruchsstimmung, die wir alle notwendiger denn je hätten, ist angewiesen auf die Wiederaneignung des Fortschrittsgedankens.
Gelingen wird sie nur im Zusammenwirken unterschiedlicher sozialer Gruppen in einer dafür geeigneten Öffentlichkeit. Der Kulturbetrieb wäre hierfür ein herausragender Ort, um in der Weiterentwicklung eines zeitgemäßen, Gemeinschaft in der Vielfaltsgesellschaft stiftenden Kulturbegriffs noch einmal glaubwürdig auf eine bessere Zukunft zu verweisen. Als zunehmend an den gesellschaftlichen Rand gerückte Erinnerung einer staatlich privilegierten Minderheit an eine vermeintlich bessere Vergangenheit hingegen gilt auch für ihn bestenfalls: weiterwurschteln.
Ursprünglich erschienen als Gastkommentar in der Wiener Zeitung vom 9. November 2022