Von wegen Integration II: „Desintegriert Euch!“ oder Warum moderne Staatlichkeit den Primat der Integration durch die Anerkennung gesellschaftlicher Vielheit ersetzen sollte.

Es war der junge deutsche Politikwissenschafter Max Czollek, der mich auf eindrückliche Weise auf den Umstand aufmerksam gemacht hat, dass wir in Ansehung der historischen Gegebenheiten, die ich im letzten Blog angedeutet habe, den Begriff „Integration“ in pervertierter Form verwenden. In seiner polemischen Schrift „Desintegriert Euch!“ (https://www.perlentaucher.de/buch/max-czollek/desintegriert-euch.html) hinterfragt er aus vorrangig jüdischer Sicht eine Leitkultur-gestützte falsche Normalität, in der Phänomene wie AfD, Pegida oder NSU einen scheinbar gleichwertigen Platz einnehmen wie der Anspruch auf vielfältiges Zusammenleben. Ausgangspunkt ist ihm die Vorstellung eines „Gedächtnistheaters“, in dem jüdische „Andersartigkeit“ in einem politischen Setting aufgezwungener Normalität auf ein zunehmend stereotypes Holocaust-Gedenken reduziert wird, das die Radikalität und Einmaligkeit des damaligen Geschehens zu einem beliebigen Klischee verblassen lässt.

Wenn der Philosoph und ehemalige Rektor der Wiener Angewandten Rudolf Burger in seinen Überlegungen „Im Namen der Geschichte“ (https://www.perlentaucher.de/buch/rudolf-burger/im-namen-der-geschichte.html) dazu aufruft, Geschichte zu vergessen, um sie auf immer wieder neu zu schreiben, wendet sich Czollek gegen eine grassierende Geschichtsglitterung, wonach der Massenmord an jüdischen Mitbürger*innen als abgeschlossene Tatsache ohne weitergehende Konsequenzen für die Gegenwart zu betrachten wäre. In einer sehr freien Interpretation ortet Czollek eine unhintergehbare Beziehung zwischen den Auswirkungen, die die ideologischen Traditionen der FPÖ bis heute auf die gesamte österreichische Gesellschaft haben und eine Historisierung dessen, was diese Ideologie ganz konkret für Menschen bedeutet hat. Dieser Erwartung an historische Abgeschlossenheit führe zu einer Verharmlosung eines Geschehens ungeheuren Ausmaßes, hinter der die Brisanz der fatalen Behandlung von zugewiesener „Andersartigkeit“, wie sie im Holocaust zu ihrem äußersten Ende gekommen ist, zu verblassen droht.

Nach Czollek könne eine Gesellschaft mit einer solchen Geschichte staatlichen Terrors politisch nichts schlimmeres tun als sich vorschnell in eine neue „Normalität“ einzurichten. Auf einer solchen Basis würden Zuwander*innen historisch weitgehend unreflektiert die Einhaltung immer rigider definierter Integrationsstandards abverlangt werden, die die Mitglieder der Gesellschaft selbst, in die es sich zu integrieren gilt, in bestenfalls nur sehr unzulänglicher Weise einzulösen vermögen, wenn sie diese – siehe AfD oder FPÖ - nicht gleich selbst offensiv bekämpfen (Dass die größten politischen Nutznießer dieser Form der „Normalität“ ausgerechnet diejenigen sind, die drauf und dran sind, rechtsradikales Gedankengut ins Zentrum des politischen Geschehens zu tragen, kann anhand von Ausprüchen von Alexander Gauland, zur „NS-Zeit als bloßer Vogelschiss der Geschichte“ (https://www.zeit.de/news/2018-06/02/gauland-ns-zeit-nur-ein-vogelschiss-in-der-geschichte-180601-99-549766) unschwer verdeutlicht werden. In einer solchen Form der "Normalität" können alle aktuellen Erneuerungsversuche sozialer Ausgrenzung anhand rassistischer Zuschreibungen ein Bad in historischer Unschuld nehmen).

Dörfliche Heimat versus städtische Vielfalt

Ja, der Wunsch nach Zugehörigkeit in gemeinsamstiftender Abwehrhaltung „gegen die da draußen“ ist nachvollziehbar. Aus ihm speist sich u.a. die offenbar unversiegbare Wiederkehr um eine zeitgemäße Rekonstruktion eines von den Nazis nachhaltig desavouierten Heimatbegriffs, vor dem auch weltoffene Linke wie zuletzt Gerhard Zeiler in seiner „Anleitung zur Wundheilung der Sozialdemokratie“ (https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5516429/Essay-von-Gerhard-Zeiler_Elend-der-Sozialdemokratie_Anleitung-zur) nicht widerstehen können. Gerne vergessen wird in diesen nostalgischen Verklärungsversuchen, dass der Heimatbegriff an eine dörfliche Existenzweise und damit an eine weitgehende Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse inklusive ihrer rigiden Kontrolle gebunden ist (einer der Gründe, warum die Konservativen dort nach wie vor ihr zentrales Wähler*innen-Reservoir sehen).

Trotz dieser nostalgischen Eruptionen auch auf linker Seite kommen wir um den Umstand nicht herum, kommen wir um den Umstand nicht herum, dass der Siegeszug einer städtischen Lebensweise (zunehmend medial vermittelt bis in die letzten Täler) nicht aufzuhalten sein wird. Und immer mehr Menschen machen sich ganz konkret auf den Weg in die Städte, in der Hoffnung, damit ihre Lebensverhältnisse nachhaltig zum Besseren zu wenden. Sie treffen dort auf ganz unterschiedliche Szenen, deren dynamisches Mit-, Über- und Gegeneinander erst dem ganzen Reichtum des städtischen Lebens ausmachen. Dazu kommt eine (nur) dort mögliche Anonymität als Grundlage einer individuellen Lebensgestaltung, die sich zumindest ein Stück weit von den rigiden kulturellen Zwängen kleiner überschaubarer Gemeinschaften frei machen kann.

Jede Stadt lebt von ihren sozio-kulturellen Unterschieden

Zugleich kommen wir um den Befund nicht herum, dass auch in Städten immer wieder dörfliche Nostalgien aufkommen und unterschiedliche soziale Milieus auf immer neue Weise darauf bedacht sind, unter sich zu bleiben. Wenig spricht für die Annahme, dass traditionelle Hackler*innen aus Wien Favoriten mit oder ohne Migrationshintergrund zu den Stammgästen auf Partys neureicher Schnösel zählen. Und auch weiten Teilen etwa der chinesischen oder japanischen Communities begegnen Wiener*innen bestenfalls anlässlich ihres Besuches einschlägiger Gaststätten.

Wissenschaftlich aufbereitet wird diese vorwiegend städtische Ausdifferenzierung anhand regelmäßig erhobener Milieu-Studien (https://integral.co.at/images/sinusmilieus_gr.jpg), die auf immer wieder neue Weise ergeben, dass sich – vor allem an unterschiedlichem Konsumverhalten orientierte – soziale Gruppen zum Teil beträchtlich voneinander unterscheiden und einander bestenfalls punktuell überlappen. Darauf bezogene politische Forderungen, Obdachlose sollten sich gefälligst in das Milieu von Milliardären integrieren sind an mir vorbeigegangen.

Wir leben also längst „Parallelgesellschaften“, die nicht nur ihre kulturellen Eigenarten als ein- ebenso wie ausschließende Erkennungsmerkmale kultivieren. Migrant*innen, die selbst wieder aus ganz unterschiedlichen Milieus stammen, haben auf diese Form der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nur einen recht bescheidenen Einfluss. Das aber bringt mich zur Vermutung, immer wieder neue aufgeladene Hoffnungen, den Popanz „Heimat“ mit Leben zu erfüllen, werden sich nicht erfüllen lassen. Sie tragen statt dessen bloß zu einem Integrationsparadox bei, das Aladin El-Mafaalani zuletzt klug analysiert hat (https://www.perlentaucher.de/buch/aladin-el-mafaalani/das-integrationsparadox.html)

Die Vielheit von Staatlichkeit oder die Säkularisierung der Kultur

Ja, Staaten fordern Loyalitäten, mehr, sie sind auf diese Loyalitäten existentiell angewiesen. Sie erzwingen von ihren Bürger*innen das Erbringen beträchtlicher Beiträge und stellen dafür mannigfache Dienstleistungen zur Verfügung. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Staatlichkeit ist rein zufällig. Niemand kann sich seinen Geburtsort aussuchen, selbst der Umstand, ob am Geburtsort das ius solis oder das ius sanguinis Anwendung findet, obliegt nicht der Entscheidungskompetenz des Hineingeborenen. Da diese Art der Zufälligkeit völlig unhintergehbar erscheint, spricht vieles dafür, sich von der kulturellen Überhöhung jeglicher Staatlichkeit zu verabschieden. Staaten sind immer ein Konglomerat von Menschen, die unterschiedlicher nicht gedacht werden können: Reiche finden sich da neben Armen; Wahrsager neben Lügnern, Lebenskünstler*innen neben Leistungswütigen, Rechtsgläubige neben Kriminellen, Alte neben Jungen, Gesunde neben Kranken; traditionsverbundene Rechtsradikale neben modernen Liberalen, Opportunist*innen neben Aufrührer*innen, Frauen neben Männern (und solchen weiterer Geschlechter) und dann auch noch ehemalige Migrant*innen neben heutigen (Wir vergessen nur zu gerne, dass, wenn schon nicht wir selbst, alle unsere Vorfahren Migrationserfahrungen gemacht haben). Sie alle wissen sich unter dem Dach einer für alle verbindlichen staatlichen Rechtsordnung, die ihnen formal gleiche Rechte zuspricht und gleiche Pflichten auferlegt.

Wie soll das gehen: Je mehr Waren und Dienstleistungen ortlos werden, desto mehr sollen Menschen an Orte gebunden werden?

Art und Ausmaß der aktuellen Globalisierung haben es mit sich gebracht, dass wir heute völlig selbstverständlich alle Waren und Dienstleistungen aus aller Herren und Frauen Länder nutzen. An dieser Form des Kosmopolitismus für Konsument*innen werden auch die immer brutaler ausgetragenen Handelskriege wenig ändern. Und sie werden nicht verhindern können, dass den Waren und Dienstleistungen Menschen folgen werden, deren gleichermaßen wachsende Mobilität von keiner noch so rigiden Grenzziehung aufgehalten werden kann.

Das Ergebnis ist eine radikale Vielfalt (nicht nur der Konsumgesellschaft sondern der Bürger*innengesellschaft), für die wir weniger Integrationsimperative als neue Formen der Konfliktaustragung brauchen, um das gedeihliche Zusammenleben zum Teil ganz unterschiedlicher Gruppen zu gewährleisten. Dies aber führt zu einer zwangsläufigen Neudefinition von Staatlichkeit, die sich nicht in erster Linie an der Einlösung von Integrationserfordernissen orientiert sondern an der Fähigkeit, mit wachsender Unterschiedlichkeit umzugehen.

Der oben angeführte Autor Max Czollek bring es auf den Punkt, wenn er noch einmal auf die Rede von den „Deutschen“ und den „Juden“ im herrschenden Normalitätsdiskurs verweist. Immerhin werden da noch einmal Gegensätze konstruiert, wo es für alle „Deutschen“ und natürlich auch „Österreicher*innen“ im höchsten Maße anstünde - spätestens seit den spezifisch deutschen Vernichtungsstrategien des NS-Terrorregimes gegenüber den jüdischen Landsleuten - sich jeder Form der kulturell konnotierten Zuschreibung von ausschließender Andersartigkeit zu widersetzen. (Als solche erinnern seine Ausführungen unschwer an die immer wieder provokativ gestellt und doch mehr als dumme Frage, ob „der Islam“ zu Deutschland“ oder zu „Österreich“ gehören würden: Mehr jedenfalls als diejenigen, die sich für die Durchsetzung einer homogenen „Leitkultur“ aussprechen, wollte man ebenso pauschal antworten).

Es sind die Realitäten von Vielheit, die es für uns alle (und nicht nur für die Zuwanderer*innen) gilt, in unser Weltbild zu integrieren.

Das, was das Zusammenleben in einen modernen Staat auszeichnet, ist nicht die Fähigkeit, noch einmal den Anschein kultureller Homogenität zu erwecken. Es ist die Fähigkeit seiner Bürger*innen, die Realitäten mannigfacher Unterschiedlichkeit nicht nur zur Kenntnis zu nehmen sondern auch in ihre konkreten Lebensumstände zu integrieren. Als Maßstab hierfür dienen nicht die staatliche Privilegierung bestimmter kultureller Ausdrucksformen, deren Träger*innen sich gegen alle anderen, als „kulturfremd“ Apostrophierten zu erheben suchen, sondern geltende zivilisatorische Errungenschaften, die im Anspruch universeller Gültigkeit jegliche kulturelle Besonderheiten hinter sich lassen.

Diese mögen sich auch künftig in selbstbestimmten privaten Gruppenbildungen realisieren, während sich der Staat darauf konzentriert, hinreichende Lebensgrundlagen für alle Bürger*innen sicher zu stellen: Bildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung und funktionierende Sicherheitskräfte im Dienst aller Menschen, wenn es darum geht, rechtsstaatliche Abweichungen zu sanktionieren.

Allen anderen, die sich mit ihrer mehr als 70jährigen verhängnisvollen Tradition noch einmal gegen die Herrschaft der Vielheit wenden sollte endlich die Integration verweigert und ihnen der Weg in die Desintegration gewiesen werden.

…dass jeder, einfach auf der Grundlage seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, mit gleichem universellen Recht gehen kann, woher er oder sie will.

Weil es so gut dazu passt zitiere ich zum Abschluss Gedanken zur gerade entstehenden „Ethik des Passanten“ eines der führenden afrikanischen Philosophen Achille Mbembe, der zuletzt die Flüchtlingskriese zu einem universellen Krisensymptom erklärt hat (http://www.spiegel.de/kultur/literatur/achille-mbembe-europa-ist-kein-vorbild-mehr-a-1118198.html ) wie sie in Die Zeit Nr 44/2018 veröffentlicht wurden:

„Ich denke über zweierlei nach: Bewegung und Begrenzung. Wer oder was kann sich in der heutigen Welt bewegen?...Menschen reisen, sie ziehen vorbei, ziehen um, wandern aus, sie fliehen, sie kommen und gehen – und sie vergehen. Sie sind vergänglich. Jede und jeder auf der Erde…Ich sehe uns Menschen als Passanten, wir leben in Passagen.

Ich habe dabei auch ein politisches Ziel vor Augen: eine Welt, in der nicht nur wenige, sondern wir all uns frei bewegen können und die fortbesteht…. Kant meinte in seiner Philosophie der Gastlichkeit, dass die Erde allen Menschen gleichermaßen gehört und dass jeder, einfach auf der Grundlage seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, mit gleichem universellem Recht gehen kann, woher er oder sie will. Eine Erde mit ungleicher Bewegungsfreiheit ihrer Bürger ist seit Kant meines Erachtens nicht denkbar. Auf diesen Ideen beruhen nicht nur eine gute Einwanderungspolitik, sondern auch der Schutz, den wir Flüchtlingen gewähren.“

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