„Wann der Hergod ned wü, nutzt des gar nix“ – Der Tod als unterschätzter kultureller Wert fürs Leben

„Der Tod muss abgeschafft werden. Diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.“ (Bazon Brock)

In der Sendung „Gedanken“ hat die langjährige Präsidentin der Salzburger Festspiele Helga Rabl-Stadler einmal mehr den Mythos des Jedermann als Herzstück des von ihr verantworteten Großereignisses hingewiesen. Zuerst würden die Zuseher*innen mehr weniger gelangweilt die Sitzreihen vor der „schönsten Freiluftbühne der Welt“ bevölkern. Mit dem Beginn des Spiels vom Sterben eines reichen Mannes aber würden sie sich in eine „Begeisterungsgemeinschaft“ verwandeln, die einmalig in der Welt sei.

Man kann sich diesem Phänomen politisch nähern. Das hat zuletzt noch einmal der Salzburger Kulturjournalist Anton Thuswaldner in seiner Analyse „Wehe dem, der „Gotts Gesetze nit erkennen mag“ versucht. Er erkennt im Jedermann das zentrale „Propagandastück des österreichischen Konservativismus“. Interessant ist die auf Thuswalders Auslassungen folgenden Diskussionen, in denen einer der ehemaligen Jedermann-Darsteller Peter Simonischek Thuswaldner als „Klugscheisser“ meint, vorführen zu können, in dem er ihm die überwältigend-unmittelbare Erfahrung eines Theaterereignisses wie dem Jedermann entgegenhält. Dass das Publikum von einem erzreaktionären Inhalt überwältigen lassen soll, ist ihm freilich keine Erwähnung wert. Gottseidank ist da noch Franz Schuh, der das Hochamt des Jedermann als jedes Jahr erneuerte Erinnerung an eine bessere, weil katholisch-konservativ verfasste Vergangenheit erkennt, in der ein spezifisch österreichischer Antiintellektualismus seine Legitimation erfährt.

Rabl-Stadlers Gedanken zur Einzigartigkeit des Gesamtunternehmens der Salzburger Festspiele sind wohl der beredtste Ausdruck für den unbedingten Willen zur Aufrechterhaltung des Mythos eines bedingungslosen höheren Waltens. In seiner Bestätigung der bestehenden, im letzten auf Gott gegründeten Herrschaftsverhältnisse ist dieses Kulturereignis in der Tat „systemrelevant “. In der Person Rabl-Stadlers hat sich hierfür eine fast schon idealtypische Repräsentationsfigur gefunden, die die Abwertung möglicher Konkurrenten (sie spricht von anderen Sommer-Events als „Festchen zur Belebung des Fremdenverkehrs“) mit dem Anspruch der Frauenemanzipation („Ich bin für die Quote“) zu verbinden weiß. Das alles freilich unter dem Dach eines „Friedensprojektes“, in dem – bei aller Aufmüpfigkeit des/der einen oder anderen teilnehmenden Künstlers*in – Idealisierung und Harmonisierung mit offenbar Gott gewollter Ungleichheit und Ungerechtigkeit regieren.

Lassen sich aus dem Jedermann persönliche Lehren ziehen?

Weil jeden Sommer aufs Neue den zahlreich auf den Salzburger Domplatz strömenden Besucher*innen suggeriert wird, das auf der Bühne Dargebotene hätte Bedeutung für ihr eigenes Leben (und Sterben), will auch ich versuchen, einen persönlichen Bezug herzustellen: Nein, nicht indem ich mich auf meine alten Tag in die Lehren eines ästhetischen Konservativismus füge, sondern indem ich mich für einen Moment auf mein eigenes Altern und Sterben einlasse. Immerhin wird hier eine umfassende Abrechnung mit dem eigenen Selbst vorgeführt, auch wenn diese nun hier als Warnung vor der Hybris, sich gegen die Gott gegebenen Verhältnisse zu stellen, in eine eindeutige Richtung gelenkt werden will.

Da muss ja nicht gleich Gevatter Tod in schaurig-schöner Kostümierung an mich herantreten. Fakt ist, dass ich schon eine ganze Weile gelebt habe und nichts dafürspricht, dass dies ewig so weiter gehen wird. Also komme ich nicht umhin, das erwartbare Ende, das auch an meine Türe klopft, hereinzulassen und mich mit ihm an einen Tisch zu setzen, um zu überlegen, wie es auf eine noch unbestimmte Zeit weitergehen könnte.

Immer öfter ertappe ich mich bei der Verwendung des kleinen Wörtchens „noch“. Offenbar wächst das Bedürfnis, mir zu versichern, dass Befähigungen, die ich im Laufe meines Lebens erworben habe, „noch“ eine Zeitlang wirksam sein könnten. So scheint mein Bewusstsein „noch“ recht in Takt, auch wenn ich die Angst, den Vorgaben meines Großvaters und meines Vaters, die beide ihr Leben innzunehmender geistiger Umnachtung zu Ende gebracht haben, folgen zu müssen, nicht ganz wegleugnen kann (dass mein Vater Musiker war, hat ihm dieses Schicksal nicht erspart). Deutlicher zeigen sich die Wirkungen in der physischen Verfasstheit. Der Körper macht immer deutlicher auf sich aufmerksam; er fügt sich nicht mehr automatisch meinem jeweiligen Wollen. Stattdessen will er auf neue Weise ernst genommen werden und verlangt jeder Bewegung eine bewusste Entscheidung ab.

Altern dürfen in einer privilegierten historischen Phase

Bei allen weiteren Beschränkungen, auf die ich mich wohl einzurichten habe (bzw. in denen ich bereits mittendrin stecke) komme ich um die Erkenntnis nicht herum, dass ich insgesamt ein sehr privilegiertes Leben geführt habe. Ich bin schon jetzt wesentlich älter geworden als die meisten meiner Vorfahr*innen, noch dazu in einer Weltgegend, die in meiner Lebensspanne von Krieg und anderem Unbill weitgehend verschont geblieben ist. Ich muss mir in Bezug auf meine Lebensgrundlagen keine Sorgen um meine verbleibende Existenz machen – und auch die zu erwartenden Auswirkungen der Klimaveränderungen werde ich wohl nicht mehr erleben.

Meinem unmittelbaren Lebenswillen zufolge könnte mein Leben „ewig“ so weiter gehen. Und in der Tat wurde wahrscheinlich nicht nur im Silicon Valley noch nie so viel Forschung zugunsten der Verlängerung des Lebens einiger Privilegierter betrieben als in dieser historischen Phase (da wird wohl wesentlich mehr Aufwand betrieben als zugunsten der Vermeidung des lebensverkürzenden Elends eines nach wie vor beträchtlichen Teils der Weltbevölkerung). Meine Vermutung geht dahin, dass die meisten dieser alternden Visionäre einfach noch nicht verstanden haben, dass das menschliche Leben unabdingbar mit einem Anfang – und einem Ende verbunden ist, ja, dass das Leben als solches ohne den Tod als wesentliches Bestimmungsstück überhaupt nicht erfahrbar macht.

Über die uns eingeschriebene Frustration – Wir sind und bleiben endlich

Damit „holt“ mich der Tod nicht erst überraschend am Ende eines Lebens, das Jedermann auf den Bühnenbrettern verwirkt. Er ist immer schon mit mir, in mir, vom Anfang an und ermöglicht mir als eine Rahmung überhaupt erst – als endliches Wesen – mich in einer unendlichen Welt zurecht zu finden. Hans Blumenberg hat in „Lebenszeit und Weltzeit“ über diesen Widerspruch als ein Konstitutiv für die Zivilisation der Moderne nachgedacht, dem ich nicht zu entgehen vermag. Als physisches Wesen bin ich mit einem beschränkten und damit beschränkenden Sinnesapparat ausgestattet, der es mir zwar möglich macht, zu leben, aber sich dabei gleich die ganze Welt untertan zu machen, um so den Tod aus der Welt zu schaffen – wie uns das die Religion suggeriert -, gehört nicht zu seinen Funktionen. Also muss ich als eine der großen Frustrationen menschlichen Bewusstseins anerkennen, dass meine Lebenszeit das, was wir als Weltzeit nur erahnen können, biologisch übersteigt.

Bei aller Grandiosität der Welt, von der ich in meiner Neugierde einen winzigen Ausschnitt zu erfahren vermag, wird mir die eigene Beschränktheit nur umso mehr bewusst. Ich kann sie immer wieder neu versuchen auszureizen, Grenzen zu überschreiten, Neuland zu betreten. Und doch begleitet mich dabei auf unrettbare Weise das Wissen um ein Jenseits meines Vermögens und damit ein Ende, dem ich nicht entgehe.

Diese Grenzen der Erkenntnis über die Welt, in der ich lebe, machen mich nicht nur äußerlich meiner Endlichkeit bewusst. Geht es nach Sigmund Freud, dann sind diese auch in meinem Inneren angelegt, wenn mein unbedingter Lebenswillen von einem ebenso mächtigen Todestrieb begleitet wird. Dieser lässt mich schon einmal fragen: Wie lange willst Du denn eigentlich leben? Wann ist es genug? Und wann fühlst Du Dich in der Lage zu akzeptieren, dass am Ende immer der Todestrieb gewinnt, der zuvor keine Gelegenheit ausgelassen hat, Deinen Lebenswillen auf die Probe zu stellen. Wohl einer der Gründe, warum im Alter die Müdigkeit zunimmt und irgendwann die Oberhand gewinnt.

Die Familie, die Kultur als Vermeidungsstrategie, der eigenen Sterblichkeit ins Auge zu schauen

Freilich ist dieser Wille zur eigenen Destruktion unterschiedlich stark ausgeprägt. Menschen, die in beglückenden Verhältnissen aufgewachsen sind, werden sich später leichter tun, diesen Kampf nicht alleine auszutragen. Sie können im Versuch, der Endlichkeit ihres Lebens einen Sinn abzuringen zumindest partiell aufgehen: in der Familie, im Freundeskreis, in der Gruppe, in der Kultur, die sie umgeben. Diese Gemeinschaften können zumindest ein Stück weit die existentiellen Widersprüche vergessen machen, denen jedoch kein Mensch – spätestens am Ende seines persönlichen Lebens – entkommt, wenn der Tod die einzig verbleibende Synthese bildet. Spätestens dann kommen wir nicht umhin, uns mit unserer eigenen Endlichkeit zu konfrontieren – und, so würde ich es zumindest für mich wünschen – in diese Form der Endgültigkeit einzuwilligen.

Persönlich war es mir nicht gegeben, mich solchen Gemeinschaften ganz zu überlassen. Zu groß die subkutan oktroyierten Kräfte, die die Auflehnung gegen versichernde Gegebenheiten zu einem Lebensmotiv gemacht haben. Und auch der Herrgott mit seinem Versprechen, für mich bei entsprechendem Wohlverhalten einen ewigen Platz im Himmel bereitzuhalten, hat mich nicht zu trösten vermocht. Zu groß das Misstrauen, fremdbestimmt zu werden und mich ihnen unkritisch auf der Suche nach einem Platz in der Welt zu überlassen. Also musste ich einen eigenen Weg finden, die angedeuteten Widersprüche jeden Tag aufs Neue in meine Lebenspraxis zu integrieren, etwas, was manchmal besser ging und manchmal weniger gut.

Dazu gehört auch das Akzeptieren, dass das Leben eine Aufeinanderfolge von Abschieden darstellt. In dieser ist das Sterben nur ein letztes Abschiednehmen, dem schon viele vorangegangen sind. Viele davon hatten durchaus auch schöne Aspekte: Der Abschluss der Schulzeit oder das selbständig Werden von Kindern machen traurig, weil etwas in unserem Leben unwiderruflich zu Ende gegangen ist; es eröffnet aber auch neue Freiheiten, die dem Leben einen Sinn geben. Das Leben als Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen eben. Bleibt, auch dem letzten Abschied etwas Tröstliches abzugewinnen.

„Das Alter ist nichts für Feiglinge“

Es gehört zu den großen zivilisatorischen Fortschritten, dass immer mehr Menschen, jedenfalls solche, die wie ich in privilegierten Umständen leben durften, immer älter werden. Dies stellt nicht nur die nationalen Sozialversicherungssysteme vor große Herausforderungen, sondern es entsteht auch ein neuer Verantwortungszusammenhang bei den Nutznießer*innen selbst. Vielen Zwängen enthoben sind sie nochmals frei, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sie haben dabei die Wahl, sich entweder auf dem Erreichten auszuruhen und dieses mit aller verbleibenden Kraft gegen eine nachdrängende Jugend zu verteidigen oder diese neue Freiheit noch einmal zu nutzen, und das zu machen, was sie immer schon machen wollten. Aus eigener Anschauung kann ich da nur berichten, dass der Kontakt mit jungen Menschen dabei sehr hilfreich sein kann. Die eigene Neugier auch im Alter wertzuschätzen, sich also „nichts (mehr) zu scheißen“, um sich so selbst und ihre Umgebung noch einmal auf neue Weise zu erfahren, das könnte eine gute Losung sein. Damit eine Art „Gegenprogramm“ zum Jedermann in die Welt zu setzen, der dazu steht, sein Leben bis zu seinem Ende selbst in der Hand zu halten. In der nicht der Herrgott, sondern die Menschen selbst zu Entscheider*innen des eigenen Handelns werden und gerade angesichts des nahenden Endes persönlich und in ihrem sozialen Umfeld noch einmal das tun, was sie für gut und richtig ansehen. Dann wäre der Tod vielleicht sogar die beste Voraussetzung, sich eine Haltung gegenüber der Welt zu bewahren und sich nicht einer jenseitigen Macht zu überantworten.

Der Tod als kultureller Gegenstand

Es gehört zu den Besonderheiten der aktuellen historischen Phase, ein auch nur halbwegs aufrechtes Verhältnis zum eigenen Sterben zu pflegen. Wir werden zwar ununterbrochen medial mit gewaltsamem Sterben anderer konfrontiert, wenn es aber um die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit geht, dann blühen die Vermeidungsstrategien wie nie zuvor (wohl einer der Hauptgründe, warum die aktuelle Pandemie, in der der uns allen der Tod näher rückt und ein derartiges Ausmaß an kollektiver Verunsicherung auslöst). Der Tod findet überwiegend medial statt (wer wollte noch die Ermordungen zählen, die in all den auf uns hereinprasselnden Krimis ästhetisch überformt verübt werden), als konkretes Ereignis in unserem Alltag stellt er mehr denn je ein Tabu dar und soll – wohl auch um die Leistungsbereitschaft jeder/jedes einzelnen intakt zu halten – möglichst nicht in Erscheinung treten.

Das aber erscheint mir mit ein spezifisches kulturelles Defizit zu sein, das nachhaltig nachteilige Wirkungen, etwa bei der individuellen Suche nach dem Sinn eines erfüllten und doch zeitlich begrenzten Lebens heraufbeschwört. Das ist einer der Gründe, warum ich überzeugt bin, dass man mit der Beschäftigung mit dem Tod nicht früh genug beginnen kann. Als essentieller Teil des Lebens fordert der Tod als zentrale Kategorie des kulturellen Selbstverständnisses sein Recht auch im Kanon der Kulturellen Bildung. Langjährig wirksame Projekte wie „Philosophieren mit Kindern“ oder „Philosophie-Werkstätten“ belegen eindrucksvoll, dass es gelingen kann, dieses schwierige Thema auch mit Kindern und jungen Menschen zu verhandeln.

„Der Tod ist – der Tod“

Anlässlich der hundertsten Wiederkehr der ersten Aufführung des Jedermann auf dem Domplatz wurde der deutsche Regisseur Milo Rau von den Salzburger Festspielen beauftragt, einen neuen Blick auf den Jedermann-Stoff zu werfen. Herausgekommen ist die Performance „Everywomen“, die sich vorgenommen hat, die Frage nach dem Tod neu zu stellen. Im Zentrum steht der Bericht der 71-jährigen todkranken Helga Bedau, die als eine Austherapierte in ganz nüchterner und unlarmoyanter Weise über ihre Bauchspeicheldrüsenkrebs-Diagnose, ihr Leben und ihr Sterben spricht. Kein Herrgott weit und breit, der noch einmal das richtige Leben einmahnt. Stattdessen die schiere Erkenntnis, dass der Tod mit und in uns wohnt, uns nicht erst am Ende des Lebens als Ausdruck einer höheren Macht ergreift, sondern einfach zu uns gehört. Und die Besucher*innen erlebten eine Frau, die mit ihrem Sterben lebt. Damit eine „reale“ Bühnen-Figur in der Gestalt von Helga Begau als einer ganz alltäglichen Frau, die sie erkennen lässt, dass wir nicht leben können ohne den Tod. Und umso intensiver leben, je mehr wir uns das eingestehen.

Am Ende des Stückes sollen sich die Besucher*innen erhoben haben, um Frau Begau ihre frenetische Referenz zu erweisen. Konfrontiert mit einer Sterbenden werden sie sich dabei in besonderer Weise als „Lebende im Angesicht des Todes“ gespürt haben. Und zumindest einigen mag der Gedanke durch den Kopf gegangen sein, dass es beim Leben gar nicht so sehr um seine zeitliche Dauer geht, sondern um das, was wir gerade jetzt erleben, in den kathartischen Momenten, in denen der Tod uns mitten im Leben umfängt und wir die Größe finden, darin einzuwilligen.

Bevor Sie zu sehr ins Grübeln kommen: Hans Moser hat auf seine unnachahmliche Weise gewusst, wovon die Rede ist…

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

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Gerhard Novak

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