Warum wir nicht (mehr) über die Musik reden können

Musik ist allgegenwärtig. Allerdings oft nicht als solche wahrgenommen. Und doch begleitet sie uns in fast allen Lebenslagen, beim Einkaufen, beim Reisen, in Gaststätten und Hotels, in Freizeiteinrichtungen, in Konzertsälen (jetzt gerade nicht). Und natürlich zu Hause, auf allen Kanälen ertönt Musik und nimmt so einen wichtigen Platz in unserem Leben ein.

Eigentlich erstaunlich, dass uns jetzt ausgewählte Musiker*innen, die wie wir alle sich von der Pandemie eingeschränkt fühlen, suggerieren wollen, ohne sie gäbe es überhaupt keine Musik und ohne ihre unmittelbare Bühnenpräsenz würde es überhaupt gleich ganz still. In diese Argumentation passen gut die Wiener Philharmoniker, die ihre Vorreihung im Zuge des laufenden Impfprogramms damit begründen, ohne ihre Auftritte könnten die Menschen – zumindest vor ihren Fernsehgeräten – keine Musik mehr erfahren. Dass die sozialen Medien – Pandemie hin oder her – mittlerweile in Musik aller Genres nachgerade ertrinken, scheint an dieser musikalischen Elitetruppe spurlos vorbeigegangen zu sein.

Ich mache mir also wenig Sorgen, ob es Musik auch in Zukunft geben wird, auch wenn sich aufgrund der Folgen der Pandemie eine noch größere Anzahl an Musiker*innen ihren immer schon sehr prekären Lebenstraum als gefeierter Bühnenstar nicht wird erfüllen können.

In diesem Beitrag aber geht es mir weniger um Überlegungen zur Zukunft des Musikbetriebs. Vielmehr möchte ich in einer persönlichen Reflexion etwas besser draufkommen, was das Reden über Musik in meinem und damit vielleicht auch im Leben anderer Menschen heute noch haben könnte.

Musik im Spannungsverhältnis von Harmonie und Melodie, von Rationalität und Emotionalität

Dazu ist mir zuletzt ein Bändchen des Musikwissenschaftlers und Radioreporters Hans Georg Nicklaus „Weltsprache Musik“ in die Hände geraten. Darin diskutiert Nicklaus die historische Kontroverse zwischen dem Komponisten Jean-Philippe Rameau und dem komponierenden Philosophen Jean-Jacques Rousseau im Spannungsverhältnis von Form und Inhalt bzw. von Harmonie und Melodie. Scheinbar ein Spezialthema für einige wenige Musikwissenschaftler*innen. Und doch mit beträchtlichen Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir bis heute über Musik, insbesondere über klassische Musik sprechen und was wir von ihr erwarten. Für den französischen Hofkomponisten war Musik Ausdruck einer elaborierten Lebensweise. Als solche war es notwendig, sie in ein hoch artifizielles harmonisches Korsett zu fassen, um dem Stilempfinden einer darin geschulten Aristokratie bestmöglich zu entsprechen. Damit blieben alle, die nicht über eine dafür notwendige Expertise verfügten, davon ästhetisch, mehr noch sozial ausgeschlossen.

Dagegen postulierte Rousseau Musik als eine Lebensäußerung, die von „allen gebildeten und ungebildeten Menschen gleichermaßen erfahrbar“ wäre. In einer solchen Vorstellung hatten raffinierte harmonische Konzepte keinen Platz. Entscheidend waren für Rousseaus Musik-Begriff der Umgang mit möglichst einfachen Melodien. Diese sollte nicht an die Verstandeskräfte einer weniger appellieren, sondern an das Gefühl der vielen, die sich möglichst unmittelbar in ihren Herzen angesprochen werden sollten.

Musik repräsentierte schon immer eine soziale Zugehörigkeit

Hinter dieser Kontroverse verbirgt sich unschwer ein gesellschaftspolitischer Konflikt im ausgehenden Ancien Régime. Dabei fordert Rousseau, möglichst allen Menschen das Recht auf Musik zuzusprechen. In seiner romantischen Begründung machte er Musik zu einer prinzipiellen Äußerungsform jedes Menschen, die in ihrer emotionellen Unmittelbarkeit als Universalsprache zu verstehen wäre. In ihr käme die menschliche Natur zu sich, um ihren Gefühlen einen allen Menschen gleichermaßen verständlichen Ausdruck zu geben. Mit dieser herausragenden Eigenschaft sei Musik als eine Art höhere Sprache anzusehen, die als einzige in der Lage wäre, über alle menschlichen Unterschiede hinweg das „Unaussprechliche“ zum Ausdruck und damit allgemein verständlich zu machen.

Dass es mit einer solchen Zuschreibung nicht weit ist zur Behauptung (die uns bis heute begleitet), Musik sei eine Sprache, die jede*r versteht. Und doch macht sie uns vergessen, dass die hier nur andeutbare Auseinandersetzung im ausgehenden 18. Jahrhundert niemals aufgelöst werden konnte. Vielmehr hat sie die Musikgeschichte auch in der Folge mannigfach begleitet hat zumal sie auf elementare Spannungsverhältnisse wie Harmonik versus Melodik, Logik versus Emotion, das Künstliche versus das Naturische oder das Apollinische versus das Dionysische keine Lösung und in der zunehmenden Relativierung von E- und U-Musik noch kein Ende gefunden hat.

Schon die alten Griechen wussten, dass sich Verstand und Gefühl nicht trennen lassen – Musik als Gott gegebene Weltordnung

Bereits lange vor Rameau und Rousseau gab es Versuche, der Musik eine zentrale Bedeutung zu geben. Bereits im klassischen Altertum wurde die „Musenkunst‘‘ zusammen mit der Gymnastik zum zentralen Bildungsgegenstand erklärt. Daraus erklärt sich wohl auch, dass die Musik im Quadrivium der Artes Liberales, der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie gleichberechtigt an die Seite gestellt wurde. Musik wurde dabei als die Lehre von der harmonischen, d.h. zahlenmäßigen Ordnung der Welt verstanden; in der praktischen Ausübung durch den Menschen konnte sich folglich nur ein kleiner Ausschnitt aus dieser umfassenden Weltordnung zeigen. Als eine „Theologie der Akustik“ aber sollte sie ganz wesentlich zur Weltdeutung beizutragen; zugleich begründete sie eine bis heute wirksame musikalische Praxis, in denen der Musik Konsonanz-Verhältnisse in Form einfacher Zahlenverhältnisse zugrunde gelegt wurden. Sie übernahm damit einen zentralen Platz in einem Bildungssystem, das für sich beanspruchte, mathematische Verstandeswissenschaft mit der Fähigkeit, unmittelbar zu den Herzen zu sprechen, in Einklang zu bringen. Auch hier zeigt sich unschwer, dass diese historischen Zuschreibungen von Musik, die wie keine andere Disziplin gleichermaßen zur Bildung des Verstandes ebenso wie des Gefühls beitragen würde, bis heute die Diskussion um den Stellenwert von Musik als zentralem Bildungsgegenstand begleiten.

Die Rede ist da immer von einem für alle nachvollziehbaren, weil universell gültigen Musikverständnis, selbst wenn sich darin nur eine kleine weltliche und auch geistliche Elite wieder zu erkennen vermochte. Innerhalb ihrer Wortführer*innen gab es freilich immer wieder Streit, etwa wenn sich das Konzil von Trient gegen die wachsende Verkomplizierung insbesondere der Kirchenmusik („Polyphonie“) wandte, um die Musik auf eine die Heiligen Texte ausdeutende Funktion festzulegen. Es blieb dem Komponisten Palestrina vorbehalten, noch einmal auf zu einer für alle Teilnehmer*innen akzeptable Synthese zu finden, um das Verhältnis von Wort und Musik noch einmal ins rechte Verhältnis zu bringen.

Dann aber kam der Streit zwischen Rameau und Rousseau, der den Kampf um die Definition der einen Musik samt den mit ihr verbundenen Erwartungen an ein Ende brachte.

Als aus der Musik eine Vielzahl von Musiken wurde

In seiner Geschichte der (klassischen) Musik des 20. Jahrhunderts „The Rest is Noise“ berichtet der US-amerikanische Musikkritiker Alex Ross anschaulich vom bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzenden Auseinanderbrechen eines bislang dominanten Musikbegriffs in ganz unterschiedliche und einander zum Teil heftig bekämpfende Szenen. Dabei erfährt der von Rameau und Rousseau angezettelte Streit in der Auseinandersetzung um die Zwölfton-Musik (Arnold Schönberg) versus neoklassischen Komponierweisen (Igor Strawinsky) eine weitere, wenn gleich nicht mehr entscheidende Volte. Mit der sozialen Ausdifferenzierung der Gesellschaften gehen ganz unterschiedliche Vorstellungen einher, die sich nicht mehr auf das Spannungsverhältnis von Harmonie und Melodie bzw. von Musik und Sprache reduzieren lassen. Mit den vielfältigen, oft auch oppositionellen musikalischen Strömungen stehen einander ganz unterschiedliche ästhetische Vorstellungen gegenüber. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Traditionen, auf unterschiedliche soziale Zusammenhänge und artikulieren ihr musikalische Selbstverständnis in ganz unterschiedlicher Weise. Während die einen ungebrochen auf die Traditionslinien eines auf universelle Vergemeinschaftung gerichteten Musikverständnisses aufbauen, machen sich andere auf die Suche nach dem ganz anderen, etwa wenn sich der französische Komponist Edgard Varèse bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Suche „nach einer Bombe macht, welche die Musikwelt zur Explosion bringen und so sämtliche Klänge hereinlassen würde, die noch bis heute als Lärm bezeichnet werden.“

Entlang der dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet, breitet Ross ein umfassendes Tableau ganz unterschiedlicher musikalischer Richtungen aus, die nur wenig bis gar nichts mehr gemeinsam haben. In dieser Heterogenität verweisen sie auf die Frage, ob überhaupt noch von Musik gesprochen werden kann, und wenn ja, was diese über alle unterschiedlichen Richtungen hinweg noch an gemeinsamer Weltdeutung aufzuweisen vermag.

Segmentierung und Individualisierung in der Gesellschaft – Segmentierung und Individualisierung in der Musik – ein persönlicher Einschub

Um der Beantwortung dieser Frage zumindest näher zu kommen, lade ich die Leser*innen am eigenen Beispiel ein, ihr Verhältnis zu Musik nachzuzeichnen bzw. zu fragen, ob sie einen Bedarf verspüren, Musik als etwas zu verhandeln, das über individuelle Erfahrungen hinausweist. Persönlich verfüge ich über keinerlei Erinnerungen, ob Musikalisches in meiner frühen Kindheit eine Rolle gespielt hat. Schreien war mir weit wichtiger als Singen, meine Eltern haben mir wohl auch nicht vorgesungen; sie legten wohl keinerlei Wert, in mir einen musikalischen Kosmos zu eröffnen. Das ist eigentlich erstaunlich, da mein Vater Musiker war, damit wohl auch öfter zu Hause geübt hat. Aber das war halt sein Beruf, mit meinen Befindlichkeiten hatten die Töne, die aus seiner Trompete oder seiner Geige kamen, nur wenig zu tun.

Einen ersten ganz persönlichen Bezug fand ich mit der Sandmännchen-Melodie „Guten Abend, gute Nacht, die regelmäßig eine wohltuend beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Später waren es die Schlager von Caterina Valente und Peter Alexander aus dem Radiogerät meiner Großeltern, die mich beindruckten.

Als Musiker war es meinem Vater ein Anliegen, dass ich bald selbst ein Instrument erlerne. Nach ersten Versuchen an der Trompete fand ich mich am Klavier wieder, um in alle möglichen Formen der schwarzen Pädagogik eingeführt zu werden. Dabei erfuhr ich das Instrument als eine stetige Überforderung, dem ich nie gewachsen sein würde. Während meine erste Lehrerin an der Musikakademie mir empfahl, mit Streckübungen meine Finger zu verlängern (oder gleich auf Schlagzeug umzusteigen) fand ich mich weinend vor einem Heft mit Strauß-Walzern, das ich zuvor versucht hatte zu zerreißen, weil ich die Noten nicht und nicht in den Griff bekam.

Also erlebte ich Musik als einen Disziplinierungsversuch mit dem Anspruch, mir die Musik in Körper und Geist einzuschreiben, um mich derart mit ihr zu identifizieren. Also wurde ich auf diese Art zu Musik, zumindest zu dem Teil, den ich mir zuvor einverleibt hatte, um ihn bei geeigneter Gelegenheit möglichst fehlerfrei wiedergeben zu können. Erst viel später sollte mir klar werden, dass die Fähigkeit, selbst ein Instrument zu spielen und damit Musik zu repräsentieren eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, als kundiges Publikum aufzutreten. Dass ein Gutteil des Publikums zumindest im Geist selbst mitspielt, erfuhr ich 2016 aus der concerti Klassikstudie 2016 „Typisch Klassik!”. Ihr zufolge spielt rund ein Drittel der Besucher*innen klassischer Konzerte selbst ein Instrument und stellen damit einen wesentlich unmittelbareren Zugang zum Gebotenen her als dies all denjenigen möglich ist, die über keine instrumentale Kenntnisse verfügen.

Als ich mich während meines Musikstudiums als Organist und Chorleiter versuchte, tat ich das wohl auch im Wunsch, das individuelle Leiden an der Musik abzustreifen. Stattdessen wollte ich noch einmal die Bedeutung der Musik im Sinne der oben angedeuteten historischen Zuschreibung als Ausdruck einer umfassenden Harmonie der Schöpfung, die sich über alle menschlichen Unzulänglichkeiten zu erheben vermag, unmittelbar spüren. In meinem Innersten war ich in der Erwartung, den Gesang der Engel und der Heiligen erleben, um die Reinigung meiner Seele zu erfahren.

Musik, die als beständige Meditation über den Tod zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit vermittelt

Die erhofften Effekte sind ganz offensichtlich nicht eingetreten. Gelernt aber habe ich mit einem Spannungsverhältnis umzugehen, das der Musik wie keinem anderen Medium eingeschrieben ist: dem Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit. Geht es nach den Kirchenvätern, dann verweist das zeitliche Verklingen von Musik auf die Ewigkeit Gottes und des Himmels. Musik verweise in auf eine beständige Meditation über den Tod. Als ein vergängliches Medium finde Musik ihre Grenzen in einem Anfang und einem Ende, die sich beide in der Endlichkeit des Lebendigen wiederspiegeln. Zugleich – und darauf beziehen sich auch viele persönliche Erinnerungen – kann der Wahrnehmung von Musik schon einmal ein kathartisches Moment innewohnen, das die Zeit still stehen, mehr, in der Unmittelbarkeit musikalischer Erfahrung jede Zeitlichkeit zum Verschwinden zu bringen vermag (Solche Erfahrungen mögen Ausnahme-Musiker*innen wie Nikolaus Harnoncourt dazu bewogen haben, von Musik nach wie vor als „Nabelschnur zum Göttlichen“ zu sprechen.

Der Klassische Kanon als kollektiver Versuch, die Zeit zum Stehen zu bringen

Es mag mit den spezifischen Erfordernissen des Historismus des 19. Jahrhunderts zu tun gehabt haben, gegen die Vergänglichkeit Einspruch zu erheben. Der verklingende Charakter der Musik muss seinen Repräsentanten ein besonderes Ärgernis gewesen sein. Dies galt umso mehr, als der Musikbetrieb bislang mit immer neuen Musikstücken aufwarten musste, die schon aufgrund ihrer Aufeinanderfolge ein Entrücken von der Zeit verunmöglicht haben. Eine Antwort – die ich jedenfalls daraus erkennen kann – bestand in der Kanonisierung einer begrenzten Werkauswahl, die fürderhin in einer ewigen Wiederholungsschleife zur Wiedergabe von bereits Bekanntem die Idee der Vergänglichkeit von Musik zu unterminieren trachteten. Das war der hohe Preis für das Aufkommen des Bürgertums als führende gesellschaftliche Kraft, das sich um einen bestimmten Kanon an musikalischen Werken versammelte, der die Kraft des ewigen Bestehens innewohnen sollte. Mit ihrer ewigen Repetition wollte das kundige bürgerliche Publikum ihren zeitlosen Führungsanspruch bekräftigen, um bei der Gelegenheit mit Hilfe der Musik den unhintergehbaren Makel menschlicher Existenz zwischen Geburt und Tod verweisend zumindest symbolisch zu eliminieren.

Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass dieses Täuschungsmanöver im Alter in zwei entgegengesetzte Richtungen tendiert: Da sind die einen, die sich am Ende ihres eigenen Lebens umso mehr daran klammern (wohl einer der Gründe, warum vor allem klassische Konzerte von einem älteren Publikum bevorzugt werden). Und da sind die anderen, bei denen der Respekt vor der Radikalität von Musik, in der die Vergänglichkeit immer mitschwingt, zunimmt. Entsprechend bedingt jede musikalische Erfahrung die Bereitschaft, sich mit dem Umstand auseinanderzusetzen, dass jede Musik früher oder später ans Ende kommt. So wie jedes Leben. Dazwischen aber sind da die Momente, in denen Musik dazu einlädt, sich zu vergessen und so zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, wie das Leben sein könnte.

Vom Zeitalter der Komponisten über das Zeitalter der Interpreten zum Zeitalter des Publikums

In einer jüngst abgehaltenen europäischen Konferenz zu Musikvermittlung wurde u.a. der Versuch unternommen, den Musikbetrieb der letzten zwei Jahrhunderte zu kategorisieren: Dabei wurde das 19. Jahrhundert ein dominierender Einfluss der Komponisten zu gesprochen. Mit ihrem Schaffen hätten sie noch einmal versucht, einen Begriff von Musik zu verteidigen, dessen beherrschende Qualität darin liegen sollte, maßstabsetzend über alle Unterschiedlichkeit der individuellen Zugänge hinauszuweisen. Wenn Ross deutlich gemacht hat, dass sich an dessen Stelle spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Musik in eine unüberschaubare Vielfalt an Stilen, Szenen, Formaten, Settings und auch technische Vermittlungsformen herausgebildet hat, so verweist er nur am Rande darauf, dass mit dem Führungsanspruch von Interpret*innen das alte musikalische Regime der Komponisten (es waren allesamt Männer) an sein Ende kommen musste. Mehr und mehr sollten künftig sie das mittlerweile unüberblickbar vielfältige musikalische Geschehen bestimmen. Damit übernahm das Wie sukzessive die Überhand über das Was. Die dafür notwendigen Voraussetzungen fand diese Entwicklung unter anderem im wachsenden Einbezug des Musikbetriebs in – stark auf Personen (Stars) zugespitzte – von marktwirtschaftlichen Verkehrsformen, die jede Bewertung musikalischer Inhalte, die über ihre Bepreisung hinausweist, verweigern.

Spätestens seit dem Ausbruch der Pandemie mehren sich – wie das zuletzt Malzacher und Burzynska, in „Joined Forces – Audience Participation in Theatre“ für den Theaterbereich herausgearbeitet haben – die Zeichen, dass wir gerade in eine neue, dritte Phase eintreten, in der Komponist*innen und Interpret*innen durch das Publikum („Spectator“) abgelöst werden. Es steht zu erwarten, dass mit dem „wachsenden Hunger nach Interaktion“ (Freundschaftsforscher Nicholas Christakis) immer weniger Menschen auch im Bereich der Musik auf eine passive Rolle werden beschränken lassen. Sie wollen sich keinen allgemein verbindlichen Musik-Begriff mehr oktroyieren lassen, sondern in einer lebenslangen Suchbewegung den ihnen gemäßen selbst entwickeln.

Das hat Auswirkungen auf das Denken und Reden über Musik. Dieses wird sich verabschieden müssen von einem für alle verbindlichen Musikbetriff, damit auch von der Hoffnung auf eine Musik, die im Sinne Rousseaus als eine Weltsprache firmieren kann, die von allen Erdenbürger*innen verstanden werden kann. Stattdessen erleben wir analog der wachsenden Diversifizierung der nationalen Gesellschaften eine ebensolche Diversifizierung der musikalischen Äußerungsformen. Als solche entziehen sie sich jeglicher Verallgemeinerbarkeit, zugleich müssen auch alle Versuche scheitern, musikalische Hierarchien zu bilden, die wesentliche von unwesentlichen musikalischen Äußerungsformen zu unterscheiden trachtet. Übrigens eine beträchtliche Herausforderung für eine „Neue Agenda der Kulturpolitik“, die gefordert ist, sich künftig stärker auf das Phantom Publikum in all seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen einzulassen. Mit ihm zusammen gilt es, eine neue Generation von Qualitätsmaßstäben zu entwickeln, um auf transparente Weise förderwürdiges von nicht-förderwürdigem musikalischem Handeln unterscheiden zu können.

Unterstützt durch die aktuelle digitale Revolution spricht fast alles dafür, Musik als eine soziale Praxis im Kontext wachsender Unterschiedlichkeit noch einmal ganz neu zu denken. Ob sich die gegenwärtig hoch ausdifferenzierten Gesellschaften mit ihren diversen Publika noch einmal auf die Suche nach einer gemeinschaftsstiftenden Bedeutung von Musik machen wollen, bleibt offen. Viel wird wohl davon abhängen, ob die unterschiedlichen sozialen Milieus Kultureinrichtungen als musikalische Öffentlichkeiten erkennen können, um dort Musiken in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen erfahren und allenfalls auch mitgestalten zu können, um so noch einmal das gemeinsame Gespräch über so etwas wie die Musik zu eröffnen. Oder ob wir uns mit den engen Grenzen individueller Geschmacksbildung zufrieden geben müssen…

Der Rest ist Gesellschaftstheorie.

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