Was machen wir mit all den jungen Menschen, die abseits stehen und nicht an unsere Türen klopfen – Gedanken zur Zukunft der Musikschulen im Spiegel sozialer Ungleichheit

Die positive Meldung zuerst: Die österreichischen Musikschulen möchten künftig intensiver über ihre Stellung in der Gesellschaft nachdenken und dafür eine begleitende Musikschulforschung implementieren. Die damit verbundenen Möglichkeiten zu diskutieren war Anlass eines neunköpfigen Podiums, das die Universität für Musik und darstellende Kunst im Rahmen eines europäischen Kongresses „Future of Music Schools“ (https://www.mdw.ac.at/ikm/european-music-school-symposium) ausgerichtet hat.

In diesem Setting war es schwierig, eine tiefer gehende Diskussion zu den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu führen. Deshalb möchte ich meine Bemerkungen an dieser Stelle nochmals kursorisch zusammenfassen, in der Hoffnung, damit etwas Bewegung in die laufende Diskussion zu bringen.

Schon aus der Sicht von EDUCULT als einem Institut der angewandten Kultur- und Bildungsforschung finde ich die Absicht, die begleitende Forschung im Bereich der österreichischen Musikschulen zu verstetigen, einen guten Schritt zu ihrer weiteren Professionalisierung. Freilich müssen sich die BetreiberInnen in ihrem Bemühen bewusst sein, dass sie das in einem Land mit einer langen Tradition der Datenverweigerung tun. Die wesentlichen Argumente gegen die Einbeziehung von einschlägigen Forschungsergebnissen bei den EntscheidungsträgerInnen bestanden darin, dass ein forschender Blick auf das, um was es in und um Kultureinrichtungen geht, nicht gerecht würde. Ihre zentrale Aufgabe wäre das Machen und nicht das (kritische) Nachdenken über das Machen. (Sozial-)wissenschaftliche Methoden wären ungeeignet, die die Kultur tragenden Gefühle und Befindlichkeiten in adäquater Weise zu beschreiben; entsprechend verböten sich Entscheidungen auf ausschließlich rationaler Grundlage. Das hieß freilich nicht, dass es bislang gar keine Forschungsergebnisse gab; diese dienten aber in erster Linie der Bestätigung des eigenen Tuns, waren damit einem „Advocacy Approach“ zur Legitimation des Status quo verpflichtet, der sich gegen jede Art einer mehrstimmigen und damit möglicher Weise auch kontroversen Diskussion zu immunisieren versucht.

Die unheiligen Folgen des „Terrors des Idealismus“

Dieser traditionelle Mangel an Reflexionsformen (der beileibe nicht auf den Bereich der Musikschulen beschränkt ist) ermöglichte das, was ich als „Terror des Idealismus“ bezeichnen möchte: Das Ergebnis ist eine Rhetorik der Normativität: Die meisten Sätze ihrer führenden RepräsentantInnen beginnen mit: „ es müsste“, „es sollte“ oder „man bräuchte“. Das damit verbundene Anspruchsdenken lässt Forderungen wie „Alle Kinder müssen/sollen….“ selbst dort mit leichter Zunge formulieren, wo die eigene Infrastruktur weit weg von dem Zustand ist, diese hochaufgeladenen Erwartungen in die Tat umzusetzen.

In dem Maß, in dem sich diese idealistischen Forderungen aus eigener Kraft nicht einlösen lassen, macht sich ein „perennierender Kulturskeptizismus“ breit, dessen zentrale Aussage darin besteht, dass alles immer schlimmer wird – und dass dafür gefälligst externe Kräfte die Verantwortung zu übernehmen hätten. Dieser Befund des Niedergangs ist freilich selbst nicht oder – wenn ja – nur sehr ungenügend datengestützt; er bemüht in erster Linie Gerüchte und Vermutungen, die sich in defensiv eingestellten Milieus (wie auch dem der Musikschulen) sprachlich zu verselbständigen drohen.

Ich habe in den vielen Jahren meiner Tätigkeit im Kulturbereich kaum eine Veranstaltung erlebt, wo nicht ein diesbezüglicher Außenfeind beschworen wurde, der dafür herhalten muss, dass die eigenen Zielvorstellungen nicht oder nur ungenügend realisiert werden können. So auch in diesem Panel, dessen Aussagen manchmal einer ÖVP-Wahlveranstaltung gleichkamen, wenn als erste säumige Instanz die Schule, mehr noch die aktuelle Bildungspolitik ins Treffen geführt wurde. Sie sei dafür verantwortlich, dass das musikalische Angebot immer weiter ausgedünnt würde, die LehrerInnenausbildung sich immer weniger um Musik kümmern würde, usw.

Der Autor Paulus Hochgatterer hat für diese Art der Argumentation zuletzt den Begriff der „Self Destroying Prophecy“ gefunden, wonach die Behauptung permanenter Verschlechterung auf immer neue Weise ins Treffen geführt werden müsste, auf dass sie sich gerade nicht erfülle und somit den eigenen Anspruch bestätige. Jedenfalls ist gut nachvollziehbar, dass eine solche Form der Abwertung der/des „anderen“ das eigene Selbstwertgefühl zu steigern vermag; eine gute Basis für die Schaffung eines Klimas der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit hingegen sieht anders aus.

Auf bestehende Datenlagen konkret angesprochen, kann man sich gut auf die aktuelle Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung „Jugend und Musik“ (http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/jugend-und-musik/) beziehen. Sie reflektiert u.a. die Spiegelung sozialer Ungleichheit im bezahlten musikalischen Bildungsangebot. Wenig verwunderlich kommt die Studie zum Ergebnis, dass 32% GymnastInnen von einem solchen Angebot Gebrauch machen, während es nur 8% der HauptschülerInnen gibt, die es ihnen gleichmachen können. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Zahlen auch auf Österreich beziehen lassen (auch wenn immer wieder zurecht im Verlauf der Diskussion die Unterschiede im Verhältnis Stadt Land zu berücksichtigen sind).

Was ist die künftige Funktion von Musikschulen in einer, auch kulturell pluralistischen Gesellschaft?

Die zentrale Frage, die sich aus diesem Befund ergibt, besteht jedenfalls für mich darin, wie sich die Musikschulen in Bezug zum aktuellen Ausmaß sozialer Ungleichheit positionieren wollen. Die Frage ist provozierend und doch notwendig: Reproduzieren Musikschulen Art und Ausmaß sozialer Ungleichheit oder tragen sie – so das gegenwärtige österreichische Schulsystem – sogar zu einer weiteren Verschärfung bei („Bildung wird vererbt“).

Immerhin gibt es in ihren Reihen eine lange Tradition, die darauf hinausläuft, sich mit einer strengen, auch sozialen Auslese auf MusikerInnen - Nachwuchspflege zu konzentrieren (entsprechend wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Bestätigung des engen Zusammenwirkens von Musikschulen und Musikuniversitäten auf diesem Panel). Umgekehrt haben zuletzt eine Reihe von Musikschulen versucht, mit ihrem Angebot den Umstand zu antizipieren, dass sich die demographische Zusammensetzung ihres Einzugsgebietes in den letzten Jahren nachhaltig verändert hat (Wenn ich in diesem Zusammenhang die Initiative „Musikalischer Südwind“ (https://www.linz.at/musikschule/72000.asp) in einem Linzer Stadtteil mit einem hohen Migrationsanteil erwähnt habe so habe ich mir in der nachfolgenden Diskussion offensichtlich nicht nur Freunde gemacht; groß sind da offenbar ungebrochen die Bedenken, dass im Versuch, Zugangsbarrieren abzubauen die musikalische Qualität auf der Strecke bleiben würde).

Peter Röbke (http://www.musiceducation.at/das-institut/personen/roebke-peter/) hat in seiner Stellungnahme eindringlich davor gewarnt, sich als „Musikschulen“ im Besitz der einzig richtigen Musik bzw. Kultur zu wissen. Stattdessen wies er darauf hin, dass sich eine pluralistisch verfasste Gesellschaft auch und gerade dadurch auszeichnen würde, dass in ihr ganz unterschiedliche kulturelle und damit musikalische Ausdrucksformen gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten und dass auch die Musikschulen nicht umhin kommen würden, dieser Form der Vervielfältigung zu stellen.

In dem Zusammenhang macht es Sinn, sich auf ein, in Deutschland zunehmend intensiv diskutiertes Konzept der „kulturellen Teilhabe“ zu beziehen. Wenn ich Peter Röbkes Anspruch gerne höre, so kann ich doch die Vermutung nicht vermeiden, dass – jedenfalls bislang – von einem gleichwertigen Nebeneinander der unterschiedlichen musikalisch/kulturellen Ausdrucksformen keine Rede sein kann (ganz offensichtlich ist auch hier die idealistisch-normative Tradition die Mutter eines solchen Anspruchs). Man muss nicht gleich den britischen Kulturwissenschafter Stuart Hall zitieren, der von „Culture as a permanent battle-field“ gesprochen hat, um zu vermuten, dass auch das kulturelle Feld noch immer als hierarchisch gegliedert angesehen werden muss und damit Art und Ausmaß der sich zur Zeit immer weiter vertiefenden sozialen Ungleichheit repräsentiert.

Wenn aber sozialpolitische Fragen aus unserer Diskussion ausgeschlossen bleiben, dann besteht im Ansatz der „kulturellen Teilhabe“ die Gefahr einer Stigmatisierung derer, die eingeladen werden, an etwas teilzuhaben, von dem sie – aus welchen Gründen immer – bislang ausgeschlossen geblieben sind.

Sozial Benachteiligte und ihr besonderes Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung

Allein die Tatsache, dass es einen Einladenden und einen Eingeladenen gibt, macht auf eine Differenz aufmerksam. Und vermeidet die Tatsache, dass auch alle diejenigen, die bislang nicht in den Genuss des Angebotes der Musikschulen kommen, ihre Kultur leben und dabei sich in elaborierten musikalischen Praktiken üben. Meine dahingehende Vermutung deutet darauf hin, dass sozial Benachteiligte oder sogenannte „bildungsferne Menschen“ ein besonders

Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung haben; in der Regel besitzen sie ja nichts anderes und sind aus diesem Grund in besonderem Maß auf symbolische Repräsentation angewiesen (dass dieses Phänomen durchaus konkrete Auswirkungen auf den Kulturbetrieb haben kann, beweisen die musikalischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts; viele von ihnen haben gerade in depravierten Milieus ihren Ausgang genommen, um erst im weiteren Verlauf ihren Weg in den Mainstream des Betriebes zu finden).

Wenn wir aber darin übereinstimmen, dass auch die Menschen, die zur kulturellen Teilhabe eingeladen werden sollen, bereits über einen oft durchaus elaborierten Zugang zu „ihrer“ Kultur verfügen, dann mutiert – auf der Grundlage Röbkes Befund - das Konzept der „kulturellen Teilhabe“ notwendig zu einem gegenseitigen Geschäft. Konkret, wenn wir andere an „unserer“ Kultur/Musik teilhaben lassen wollen, entsteht notwendig der Anspruch, in gleichem Maße an der Kultur/Musik dieser „anderen“ teilhaben zu wollen. Dies ist in erster Linie eine Haltungsfrage, die – ausgestattet mit einem gerüttelten Maß an Neugierde, sich auch institutionell einzulassen bereit ist auf ein Set von kulturellen/musikalischen Ausdrucksformen, die bislang vor den Toren der eigenen Institutionen unvermittelt Halt machen mussten.

Daraus ergibt sich für mich die zentrale Herausforderung der Musikschulen, die reziproken Formen der musikalisch/kulturellen Teilhabe ins Zentrum ihres Auftrags zu rücken. In dem Maße, in dem sie aus ihrer eigenen langen Tradition musikalisch etwas zu sagen hat, sieht sie sich – als eine öffentliche Einrichtung – in der Pflicht, auch den vielen anderen zumindest eine musikalische Stimme zu geben. Wir alle kennen eine Vielzahl von Beispielen, in denen sich junge Menschen um ihre eigenen musikalischen Ausdrucksformen bemühen, die sie mit viel Engagement und Leidenschaft zu realisieren versuchen (Susanne Keuchel als Vortragende am Kongress hat in diesem Zusammenhang beispielhaft auf den Bereich des „Gaming“ verwiesen, für den Jugendliche entsprechende musikalische Realisierungsformen erproben). Was steht dagegen, ihnen die Musikschule als ein Begegnungs- und Arbeitszentrum (mit reicher musikalischer Erfahrung) anzubieten, damit sie ihre Projekte realisieren können.

Was können die Musikschulen für „Community Building“ beitragen?

Im Moment arbeite ich mich durch eine Reihe von EU-geförderten Projekten zu kulturellem Erbe. Auffallend ist ein - fast könnte man sagen - Paradigmenwechsel, der drauf und dran ist, die Blickrichtung neu auszurichten: Dabei geht es nicht mehr vorrangig um die Frage, wie ein spezifisches kulturelles Erbe gepflegt und in seiner Einzigartigkeit für Interessierte verfügbar gemacht werden kann. Es geht zuallererst um die Interessen und Bedürfnisse derer, die in einer sozialen Gruppe aufeinander verwiesen sind. „Community Buildung“ ist das Schlagwort für den Versuch, kulturelles Erbe dafür zu nutzen, in Zeiten drohenden gesellschaftlichen Auseinanderbrechens, die Idee der Vergemeinschaftung mit neuem Leben zu erfüllen. Dass dafür den digitalen Medien eine zentrale Funktion zukommt, versteht sich fast von selbst.

Während eine Reihe von Musikschulstandorten vor allem in kleineren Gemeinden längst als offene Gemeinwesenzentren verstehen, haben mich manche der Wortmeldungen auf diesem Podium haben mich noch skeptisch gemacht, ob Art und Ausmaß der Herausforderungen verstanden worden sind. Leider fehlte die Zeit, um detaillierter über neue städtische Campus - Konzepte zu sprechen, mit denen Schulen, Bibliotheken, Musikschulen oder Jugendzentren auch örtlich zu einem Verbund zusammengeführt werden im Wunsch, zugunsten eines umfassenden Lern- und Bildungsanspruchs der jungen Menschen die jeweiligen Ressourcen zusammenzuführen und zu bündeln.

Eine ganze Reihe von Musikschulen hat mittlerweile verstanden, dass angesichts der dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen eine Neuinterpretation ihres Angebotes unabdingbar ist. Sie üben sich in einer vielfältigen experimentellen Praxis mit denen zu erproben, die bislang ihre musikalischen Ausdrucksformen nicht haben einbringen können. Sie begeben sich damit in unsicheres Gelände, in dem die alten Legitimationsmuster nicht mehr gelten, umso mehr die (musikalischen) Fähigkeiten und Bedürfnisse derer, die bislang abseits stehen und doch den gleichen Anspruch haben, ihre kulturellen Potentiale weiter zu entwickeln wie diejenigen, die sich (noch) im Zentrum des Geschehens wähnen. Allen diesen PionierInnen wünsche ich auf ihrem manchmal steinigen Weg alles Gute!

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