Überlegungen zur wechselvollen Geschichte einer Zuschreibung und ihren Auswirkungen angesichts der aktuellen Krise
Ende Mai kündigte die neue Staatssekretärin Andrea Mayer einen Künstler*innenfonds in der Höhe von 90 Mio. Euro an, um freischaffende Künstler*innen in der aktuellen Corona-Krise zu unterstützen. Die Durchführungsbestimmungen würden Mitte Juli veröffentlicht, ab dann können Anträge gestellt werden. Die Hoffnungen von rund 15 000 Künstler*innen, die bei der Künstlersozialversicherung angemeldet sind, sind groß, sich mit dieser für Sie maßgeschneiderten Maßnahme über die nächsten Monate retten zu können. Während unselbstständig tätige Künstler*innen dank einer starken gewerkschaftlichen Vertretung unmittelbar nach Ausbruch der Epidemie von Kurzarbeit-Programmen erfasst waren, waren selbstständig tätige Künstler*innen bislang auf Notfall- bzw. Härtefallfonds verwiesen; trotz aufwendigem Antragsverfahren wurden sie vielfach mit beschämenden Bagatell-Beträgen abgespeist. Die Lebens- und Arbeitsgrundlagen vieler Betroffener sind unsicherer denn je.
Wer in den Genuss dieser neuen Förderschiene kommen wird, wer damit vom Staat als selbstständig tätige Künstler*in anerkannt wird, das entscheidet der Künstlersozialversicherungsfonds (ksvf). Begünstigte müssen Einnahmen aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit in gewissen Bandbreiten von Unter- und Obergrenzen nachweisen. Es entscheiden verschiedene Fachkommissionen des ksvf, wer die Künstlersozialversicherung in Anspruch nehmen kann und wer nicht. Die Besonderheit des Fonds liegt darin, dass der fiktive Arbeitgeberanteil, der für unselbständig Erwerbstätige in allen anderen Branchen von Unternehmensseite beigesteuert wird, für Künstler*innen vom Staat übernommen wird.
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Keine Probleme haben die Kommission in der Regel mit Anwärter*innen, die über eine qualifizierte künstlerische Ausbildung, etwa einen Abschluss an einer Kunstuniversität verfügen. Auch die Mitgliedschaft bei staatlich anerkannten Künstler*innen-Vereinigungen gilt gemeinhin als ein ausreichender Nachweis von Künstlerschaft. Dazu bieten Institutionen in einzelnen Metiers eigene Prüfungen an, etwa die Paritätische Kommission der younion (als Teilorganisation des Österreichischen Gewerkschaftsbundes), im Rahmen derer sich Bühnenangehörige in den Fächern Schauspiel, klassisches Ballett, Oper, Operette, Chor oder Musical zertifizieren lassen können.
Vergleichsweise liberal beantworteten die verschiedenen Stellen der staatlichen Kunstförderung die Frage, wer Künstler*in ist und wer nicht. Im Vordergrund steht jeweils die vermutete Qualität des eingereichten künstlerischen Projektes. Nicht unwichtig aber ist, ob der/die begünstigte Künstler*in einen Bezug zum geographischen Zuständigkeitsbereich der vergebenden Stelle herzustellen vermag. Diese weite Auslegung einer Zuschreibung als Künstler*in gilt wohl auch in der aktuellen Phase, in der vor allem für die jüngere Künstler*innen-Generation eine Reihe von Stipendien vergeben werden, in der Hoffnung, damit die Existenzgrundlagen zumindest einiger Antragssteller*innen aufrecht erhalten zu können.
Die Unterscheidung in selbstständig und unselbstständig tätige Künstler*innen ist ein Anachronismus
Die Auswirkungen der Krise haben einmal mehr die Fragwürdigkeit der Einteilung künstlerischer Tätigkeiten in unselbständige und (neue) selbstständige ergeben. Künstler*innen berichten, wie sie permanent gezwungen sind, zwischen verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen hin und her zu pendeln, um dabei draufzukommen, dass ihnen dies den Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen – die sich entweder an die eine oder an die andere Gruppe zu richten – nachhaltig erschwert.
Dazu beigetragen hat auch die kleine Schar an erfolgreichen Künstler*innen, die in der Regel nicht bereit sind, sich den Zwängen des Repertoire-Betriebs zu beugen und es wesentlich lukrativer empfinden, sich als Freischaffende im internationalen Betrieb ihre Engagements selbst aussuchen zu können. Um jetzt in der Krise feststellen zu müssen, dass sich das in Form von beträchtlichen Ausfällen auch negativ auswirken kann. Der Chef der Bundestheater-Holding Christian Kircher hat für seinen Bereich dazu gerade Kompromiss-Angebote entwickelt, um den Ansprüchen der „Freien“, ihren Verdienstentfall wegen der Schließungen zu kompensieren, zumindest partiell zu entsprechen. Dass jetzt Bühnenstars wie Angelika Kirchschlager von einer Rückkehr zu einem Repertoirebetrieb träumen, könnte zu denken geben (sh. Video ab Minute 28)
Es war einmal: Von der Sozialpartnerschaft zur Kulturpartnerschaft
Auf diese unbefriedigende Situation hat in den 1970er Jahren bereits der Kulturfunktionär Rössel-Majdan hingewiesen. Um die damals schon überkommene Trennung schlug er als
Ergänzung zur Sozialpartnerschaft eine Kulturpartnerschaft vor. Diese sollte freischaffende und angestellte Künstler*innen unter ein gemeinsames Dach bringen, um deren Interessen in organisierter Form zu vertreten. Im Zuge der immer weiteren Ausdifferenzierung auch des österreichischen Kulturbetriebs ist davon nichts übriggeblieben (ein Defizit, das u.a. die prekären Einkommensverhältnisse eines Großteils der freischaffenden Künstler*innen, deren Individualisierungsansprüche jede Form der Vergemeinschaftung erschweren, mit erklärt. Die Schwäche der vielen, nur wenig aufeinander bezogener IGs im Kulturbereich macht dieses strukturelle Defizit überdeutlich).
Zwar versucht auch in Österreich ein spartenübergreifender Kulturrat die unterschiedlichen Interessen von Künstler*innen zu bündeln. An Einflusskraft kann er sich aber nicht einmal in Ansätzen mit seinem deutschen Pendant vergleichen. Dort gelang es der Standesvertretung, eine wesentlich stärkere Struktur aufzubauen, um so von kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen ernst genommen zu werden (fast schon kabarettreif wirkt hingegen die Entscheidung in Österreich, nach dem „Sieg“ einzelner Kabarettisten über die glücklose Staatssekretärin Ulrike Lunacek gleich eine eigene IG Kabarett zu gründen. Dieser neue isolierte kulturpolitische Akteur wird – so steht zu befürchten – zu einer weiteren Zersplitterung der Szene führen. Und es damit einer konzeptlosen divide-et-impera Taktik staatlicher Kulturpolitik leicht zu machen).
Künstler*innen sind anders
Die aktuell neu aufgeflammte Diskussion um die Frage, wer sich Künstler*in bezeichnen darf, hängt mit einer spezifischen, historisch gewachsenen Privilegierung zusammen, die sich u.a. im Anspruch auf staatliche Fördermittel äußert (der Umstand, dass mittlerweile das Gros der Künstler*innen ohne jegliche Fördermittel auskommen muss, um sich statt dessen auf Gedeih und Verderb am Kunstmarkt zu bewähren, bleibt dabei gerne ausgespart). Sie wird aber auch durch Stimmen aus der Künstler*innenschaft genährt, die in der Krise noch einmal auf einer spezifischen Sonderstellung bestehen, die sie kategorial von allen anderen Berufsgruppen unterscheiden würde. Dies wurde noch einmal deutlich anhand der Diskussion um die Einführung eines voraussetzungslosen Grundeinkommens, das speziell für Künstler*innen reklamiert wird, ohne überzeugend sagen zu können, warum alle anderen Berufsgruppen angesichts explodierender Arbeitslosenzahlen von diesbezüglichen sozialpolitischen Maßnahmen nicht in gleicher Weise begünstigt werden sollen.
Uns sind die kategorialen Unterscheidungsmerkmale, was Kunst ist und was nicht, abhandengekommen
Der permanente Klärungsbedarf des Status des/der Künstler*in hängt aber auch eng mit einer zunehmenden Verunsicherung gegenüber dem Ureigendsten zusammen, was diese hervorbringen: Also mit der Kunst selbst und damit, welche Vorstellungen bzw. Erwartungen wir damit verbinden. Das Problem: Uns sind die kategorialen Unterscheidungsmerkmale, was Kunst ist und was nicht, abhandengekommen. Niemand kann mehr eindeutig sagen, was Kunst ist, was sie zu leisten vermag, und folglich, wer dafür zuständig ist.
In Österreich hat es vergleichsweise lange gedauert, bis sich der Staat im Rahmen einer quälenden Zensurdebatte von seinem Anspruch, als letzte Instanz zu entscheiden, was Kunst ist und was nicht, zurückgezogen hat (siehe dazu das Staatsgrundgesetz über die Freiheit der Kunst 1982). Davor war es oft Gerichten überantwortet, in Abwägung unterschiedlicher Grundrechtsansprüche zu entscheiden, ob es sich bei beanstandeten Artefakten um Kunst handelt oder eben nicht.
Diesen Anspruch auf eine hinlänglich nachvollziehbare Definition von Kunst hatten zuvor freilich schon mehrere Avantgarde-Wellen in Zweifel gezogen. In ihrem Anspruch „Kunst und Leben“ noch einmal zu versöhnen, erklärten sie die kategoriale Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst einfach für obsolet. Spätestens mit Marcel Duchamp konnte im Prinzip alles Kunst sein.
Angesichts dieser weitgehenden Auflösung eines formal verbindlichen Kunstbegriffs mussten neue Unterscheidungsmerkmale gefunden werden. Fündig wurde man im jeweiligen Kontext, in dem das eine zur Kunst und das andere zur Nichtkunst erklärt werden konnte. Also arrogierten die führenden Vertreter*innen des Kunstbetriebs den Definitionsanspruch, der das eine Objekt – völlig ungeachtet seiner inhaltlichen und formalen Ausgestaltung – zur Kunst erklärte und das andere zur Nicht-Kunst. Auf diese Weise fand Duchamps Pissoir 1917 mit dem Titel „Fountain“ als Foto in einem New Yorker Kunstmagazin, um bis heute zu einer Ikone des modernen Kunstbetriebs zu werden.
Kunst ist, was Künstler*innen zur Kunst erklären
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an heftige Diskussion an Schulen mit Vertreter*innen der Initiative Wochenklausur, unter ihnen der spätere Kultursprecher der Grünen Wolfgang Zinggl. Sie zogen in den 1990er Jahren durch die Schulen, um den Schüler*innen zu erklären, dass alles Kunst sein kann, was Künstler*innen zur Kunst erklären (Die Initiative betrieb etwa einen Bus zur gesundheitlichen Erstversorgung von Obdachlosen in Wien, erklärte den Betrieb zu einer Kunstaktion und nahm dafür öffentliche Kunstfördermittel in Anspruch). Dabei spielten sie nur zu gerne mit so manchen Stereotypen, die ratlose Besucher*innen vor Exponaten moderner Kunst schon mal sagen lassen: „Das ist ja doch nur Krixi-Kraxi. Das kann ich auch.“ Ja schon, antworteten darauf Zinggl und Co. Aber dieses Krixi-Kraxi ist von einem Künstler/einer Künstlerin geschaffen und folglich Kunst.
Wenn bei dieser Gelegenheit noch einmal der Status des Künstlers/der Künstlerin als die letztverbleibende Instanz zur Klärung der Frage, ob etwas Kunst ist oder nicht, herangezogen wird, so haben bereits zuvor ausgerechnet Künstler*innen diesbezügliche Alleinvertretungsansprüche in Zweifel gezogen. Bereits in der Romantik heißt es bei Novalis, dass im Prinzip jeder Mensch ein Künstler/eine Künstlerin sein kann. Joseph Beuys ging da noch einen Schritt weiter mit der seither vieldiskutierten Behauptung, jeder Mensch wäre ein Künstler/eine Künstlerin. In der weiteren Konkretisierung dieser Aussage findet Beuys durchaus Relativierungen, wenn er interpretierend hinzufügt: „Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt (…) Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.“
Hinter dieser Proklamation ist unschwer ein umfassender Demokratisierungsanspruch auch und gerade im Bereich der Kunst erkennbar. Dieser zielt darauf ab, die kategoriale Trennung zwischen Künstler*innen und Nicht-Künstler*innen aufzuheben und allen Menschen das Potential zuzusprechen, an der Gestaltung der Welt in kreativer Weise mitzuwirken. Beuys steht damit in zum Teil diametralen Gegensatz zur historischen Entwicklung des Künstlerberufes, dessen überkommene Abgrenzungsbedürfnisse bis heute das Kunstgeschehen wesentlich bestimmen.
Der/die Künstler*in und sein/ihr Bedürfnis, sich von allen anderen abzugrenzen
Für mich hat dazu der deutsche Kunsthistoriker Martin Warnke in seinem Band „Der Hofkünstler“ viel zu sagen. In seiner Studie beschreibt er den Übergang des Künstlers von einem zünftisch organisierten Handwerker als Teil des städtischen Bürgertums zu einem privilegierten Mitglied einer elitären Aristokratie, der seine Aufgabe vorrangig in der Befriedigung der Repräsentationsbedürfnisse seiner Auftraggeber sah. Diese Form der Überhöhung setzte den Künstler hinlänglich vom großen Rest der Bevölkerung ab, dem er sich bestenfalls indirekt verpflichtet fühlte.
Eine andere Interpretation, die vor allem mit der Romantik bedeutsam wurde, sieht Künstler*innen in der Nachfolge des Priesterberufes, die für ihre Tätigkeit eine spezifische Berufung erfahren. Dieser zufolge ist es eine transzendente Macht (und sei es in Gestalt einer „inneren Stimme“), die einzelne Auserwählte zu Künstler*innen bestimmt. Als solche verpflichten sie sich, diese Bestimmung anzunehmen und sich ganz in den Dienst der ihnen übertragenen Aufgabe des Kunstmachens zu stellen. Sie folgen damit einem Wahrheitsanspruch, der quer zu allen Versuchen steht, Menschen außerhalb eines elitären Zirkels an Kunstkenner*innen einzubeziehen. Darin liegt wohl ein entscheidender Unterschied zwischen Priesteramt und Künstler*innenschaft, die sich beide auf eine transzendente Wahrheit beziehen. Während die Priesterschaft sich mit seiner Aufgabe, einen göttlichen Willen zu repräsentieren, auch gefordert sieht, diesen unter die Gläubigen zu bringen und den diesbezüglichen Austausch zu befördern, beschränkt sich die Künstlerschaft nur allzu gerne auf erratische Manifestationen ihres künstlerischen Schaffens, die selbst Kunstinteressierte gerne mit der Losung „Vogel, friss oder stirb“ ratlos zurücklässt. (Vielleicht der entscheidende Grund, warum es im demokratischen Zeitalter in Gestalt von Kunstvermittler*innen eines neuen Berufsstands bedarf, um die alt hergebrachten Kommunikationsbarrieren zwischen Kunstschaffenden und Publikum zu überwinden).
Die Selbstzuschreibung, auserwählt zu sein, bedingt freilich auch die Idee des Opfers, zu dem Normalsterbliche nicht fähig sind. Während sich in der christlichen Religion Jesus Christus für alle Menschen aufopferte, übernehmen diese Aufgabe in ihrer säkularen Spielart Künstler*innen, die sich selbst „Unmenschliches“ abverlangen. Und wir erleben Marina Abramovic in ihrer Performance „The artist is present“ über Wochen viele Stunden täglich Menschen bewegungslos in die Augen zu schauen oder zuletzt Igor Levit, der mit einem Spielmarathon mit Eric Saties etwa 20-stündigem Werk “Vexations” auf die verzweifelte Lage viele Künstler*innen in der Corona-Krise aufmerksam machen wollte.
Diese Exaltationen tragen wesentlich zur ungebrochenen Überhöhung des Kunstgeschehens bei, das damit zu suggerieren versucht, nicht ganz „von dieser Welt zu sein“. Umgekehrt lassen sich diese „auratischen“ Umgangsformen mit Kunst – die nach Walter Benjamin im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst seit fast einem Jahrhundert gar nicht mehr existieren sollten – als ein spezifischer Widerstand gegen die grassierende Nutzenorientierung spätkapitalistisch verfasster Gesellschaften interpretieren: In ihrer behaupteten Einmaligkeit behaupten sie ihre Nichtsnutzigkeit und finden ihre Begründung wider besseren Wissens in sich selbst.
Kunst als Ideologie – Kunst als Praxis
Es gibt also eine Menge ideologisch begründeter Abgrenzungsbedürfnisse, die weiterhin auf einer kategorialen Trennung zwischen Künstler*innen und allen anderen Menschen bestehen. Nicht vergessen sollte dabei werden, dass dies für die Betroffenen oft von früher Jugend an eine andere Lebens- und Arbeitsweise darstellt. So gehört es etwa im Bereich der klassischen Musikpflege zur Grundvoraussetzung, von klein auf am Instrument handwerkliche Fähigkeiten in einer Weise und in einem Umfang zu erwerben, der ein spielerisches Hineinwachsen ins Leben weitgehend verunmöglicht. Erst diese vieljährige Mühe schafft selbst bei sogenannten Wunderkindern die notwendigen Voraussetzungen, eine auch nur halbwegs erfolgsversprechende Karriere als Berufsmusiker*in einzuschlagen (Das auch in diesem Zusammenhang Brückenschläge möglich sind, hat zuletzt eine Aufführung der „Corona Meditations“ von Gerd Kühr, bei der Profimusiker*innen und interessierte Laien miteinander musiziert haben).
Der Markt als emanzipatorische Kraft – und als Kunstvernichtungsmaschine
Die neoliberale Wende, die in den letzten Jahren auch den Kulturbetrieb durchdrungen hat, hat – auch – die emanzipatorischen Potentiale des Kapitalismus ans Licht gebracht. Mit dem Hype rund um den neuen Wirtschaftszweig Cultural and Creative Industries relativierten sich auch anhand der geänderten Produktions- und Konsumtionsverhältnisse die etablierten Grenzziehungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst bzw. zwischen Künstler*innen und Nicht-Künstler*innen. Entstanden ist eine Vielzahl neuer kunstnaher bzw. kunstbezogener Berufsgruppen, deren Erfolg sich ausschließlich am Markt und damit im Verhältnis zwischen Anbieter*innen und Nachfrager*innen ergibt. Darüberhinausgehende kunstideologisch gestützte Behauptungen zur Beibehaltung überkommener Trennungen erweisen sich für die meisten Marktakteur*innen als weitgehend irrelevant. Entscheidend ist nicht, ob es Kunst ist oder Nicht-Kunst, von einem Künstler*in gemacht oder nicht, sondern ob es anspricht, sondern ob es gefällt und ob es in Zusammenhang gebracht werden kann mit den eigenen Lebens- bzw. Freizeitbedürfnissen.
War Beuys Aussage noch gedacht als ein politisches Statement, um damit das Kunstsystem für das demokratische Zeitalter tauglich zu machen, so ist dieser Anspruch mit dem Verlust politischer Utopien irgendwo auf halber Strecke stecken zu bleiben. Heute zeigen sich vor allem die wirtschaftspolitischen Auswirkungen auf das Kunstsystem, die mit einer weitgehenden Entauratisierung der Akteure und ihrer Hervorbringungen einhergehen.
Übrig geblieben ist ein Sektor, der sich am besten mit „weder Fisch noch Fleisch“ charakterisieren lässt. Da sind zum einen all die neuen Selbstständigen im Bereich der Cultural and Creative Industries, die mit der Krise den Hype – mit Ausnahme einzelner Sektoren der Medienindustrie – unvermittelt zusammenbrechen sehen. Und denen als Wirtschaftstreibende in zunehmend verzweifelter Lage ziemlich wurscht ist, ob sie innerhalb oder außerhalb des Kunstbetriebs an ihrer Situation leiden.
Und da sind zum anderen all diejenigen, die sich verzweifelt an althergebrachten Kunst- und Künstler*innen-Definitionen krallen, in der Hoffnung, sich damit bei den politischen Verantwortlichen noch einmal ein besseres Gehör zu verschaffen. Immerhin steht zu befürchten, dass sich die Solidaritätsbereitschaft bei all denen, von denen sich ein traditioneller Künstler*innen-Typ immer wieder mit aller Kraft abzugrenzen versucht hat, angesichts des auf uns zukommenden weiteren Verschlechterungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse vieler Menschen in Grenzen halten wird.
Wann, wenn nicht jetzt: Kulturelle Bildung in den Schulen
Als entscheidender könnte sich erweisen, inwieweit es gelingt, Beuys Anspruch im Rahmen neuer Konzepte einer breitenwirksamen kulturellen Bildung wahrzumachen. Immerhin wird es gerade jetzt einer Vielzahl kreativer Kräfte bedürfen, um die Folgen der Krise zu meistern. Die Schubladen der Bildungspolitik gehen mittlerweile über mit gut begründeten Ergebnissen zur Bedeutung ästhetischer Ausdrucksformen bei jeder Form des Lernens. Sie alle belegen, dass die Auseinandersetzung mit allen ästhetischen Ausdrucksformen, sei es mit dem Label Kunst oder nicht versehen, die beste Voraussetzung dafür bilden, individuelle ebenso wie kollektive Veränderungsprozesse zu stimulieren und damit der Krise neue Perspektiven abzugewinnen.
Ob es künftig einer Berufsgruppe Künstler*in braucht, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob ihre Träger*innen bereit sind, sich mit ihren spezifischen ästhetischen Kompetenzen einzubringen in das, was Menschen außerhalb des Kunstsystems umtreibt. Indem sie ihre Relevanz für die Gesellschaft entlang der entscheidenden Themen dieser Tage unter Beweis stellen.
Alles andere ist Behübschung, um uns davon abzulenken, was wirklich der Fall ist. Und folglich entbehrlich.
Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.
Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.
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