Überlegungen zu „Das Publikum macht die Musik – Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert“ von Sven Oliver Müller
Eine Studierende meiner Lehrveranstaltung „Kunst, Kultur und Publikum“ berichtete unlängst von ihren Erfahrungen als Organisatorin einer Tournee eines österreichischen Orchesters in Indien. Als ein Konzert in Lucknow beginnen sollte, wurde das Publikum mit dem Beginn der Aufführung nicht, wie zu Hause gewohnt, still, um sich auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren. Stattdessen setzte sich mit Einsetzen der Musik das rege Treiben unter den Besucher*innen fort; das Bühnengeschehen spielte während der gesamten Aufführung nur eine untergeordnete Rolle. Die Menschen standen auf, vertraten sich die Beine, telefonierten lautstark mit ihren Handys oder unterhielten sich mit ihren Nachbar*innen. Für die Studierende war das ein Schockmoment. Sie konnte die scheinbare Respektlosigkeit gegenüber den Musiker*innen kaum fassen. Sie fühlte sich für „ihre“ Musiker*innen verantwortlich, forderte die Menschen rund um sich auf, sich ruhig zu verhalten, was jedoch keine Änderung der Situation zur Folge hatte.
Ganz ähnliches berichtet der deutsche Historiker Sven Oliver Müller in seiner groß angelegten Studie „Das Publikum macht die Musik“ zum Publikumsverhalten zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den europäischen Theater- und Opernsälen. Die Menschen ließen ihren Emotionen freien Lauf; ihnen war die Unterhaltung untereinander wesentlich wichtiger als das, was ihnen die Künstler*innen auf der Bühne boten. Das galt insbesondere für das Verhalten der Aristokrat*innen. Sie konnten schon einmal die Musiker*innen ermahnen, leiser zu spielen, um nicht allzu sehr die Konzentration beim Kartenspiel abzulenken. Es gehörte zu den selbstverständlichen Gewohnheiten, während der Aufführung zu essen, zu trinken und sich dabei, wenn es denn sein sollte, auch über die Logenbrüstungen hinweg laute Konversationen zu führen. Die Besucher*innen nahmen die Aufführung von musikalischen Werken zum Anlass, einander zu treffen, ihre aufwendige Garderobe auszuführen, geschäftliche und private Beziehungen zu pflegen und ihren sozialen Status zur Schau zu stellen. Die Aufführungen der Musiker*innen auf der Bühne waren dafür ein guter Anlass, wichtiger aber war das Interesse an den sozialen Aufführungen, die sich im Zuschauer*innnenraum ereigneten.
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Zu dieser Zeit existierten nur wenige öffentliche Orte, an denen die Menschen über die Standesgrenzen zusammen kommen und sich als eine soziale Gruppe erfahren konnten. In der Regel beschränkten sich diese auf Repräsentationsräume der herrschenden Aristokratie, die musikalisch unterhalten werden und in ihren exklusiven Ansprüchen von Menschen niederen Standes nicht gestört werden wollten. Müllers Studie erzählt über den Kampf des aufstrebenden Bürger*innentums, diese Enklaven zu öffnen und für sich verfügbar zu machen. Ihre vorrangige Strategie dabei war es, das musikalische Geschehen selbst in die Hand zu nehmen und im Wesentlichen für allgemein verbindlich zu erklären, was, wie von wem gespielt aber auch gehört wird.
Die Musikgeschichte wurde bislang ohne das Publikum geschrieben
Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich völlig unverständlich, dass sich die gängigen Musikgeschichten völlig darauf beschränken, den Blick auf die musikalische Aufführungspraxis zu richten. Im Gegensatz dazu versucht sich Müller in einer Sozial- und Kulturgeschichte, die das Geschehen im Zuschauer*innenraum in den Fokus rückt (für mich erscheint es nach wie vor unglaublich, dass in der für den Musikbetrieb bis heute verbindlichen MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) auf mehr als 30.000 Seiten das Stichwort Publikum kein einziges Mal auftaucht). Geht es nach Müller, dann beschränkt sich das, was den Musikbetrieb ausmacht, nicht auf eine Auseinandersetzung mit den Komponist*innen, den Interpret*innen und allenfalls mit dem Bühnengeschehen. Als einer der wenigen im Bereich der Musik versierten Historiker*innen weist er dem Publikum eine aktive Rolle zu, die im historischen Verlauf wesentlich an der inhaltlichen und formalen Ausrichtung des musikalischen Geschehens mitgewirkt hat. Dafür skizziert er eine soziale Praxis, die dem Publikum als eine entscheidende Öffentlichkeit einen aktiven Part zugewiesen hat, das wesentlich das musikalische Geschehen beeinflusst hat.
Eine der Hypothesen Müllers läuft darauf hinaus, dass das Publikumsverhalten nicht historisch unveränderlich bestanden, sondern sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts beträchtlich verändert hat. Rein äußerlich zeigte sich das im zunehmenden Verstummen der Zuhörer*innen. Zum Ausdruck kommt die wachsende Bereitschaft, sich einer umfassenden Disziplinierung der Körper zu unterziehen, um die Konzentration von sich weg auf das Bühnengeschehen zu richten. Anstatt sich als Teil eines gemeinsamen Unterhaltungsgeschehens zu begreifen, galt es fortan, die eigenen Emotionen zu zügeln, sich zu entkörperlichen und sich dabei von der Kontrolle der anderen abhängig zu machen. Als Lohn dieser Form der Sublimierung winkte eine soziale Distinktion, die die derart Transformierten als neue, nicht nur musikalisch tonangebende Elite ausweisen sollte.
Diese Form der kollektiven Selbstbeschränkung, die auch als eine Art der freiwilligen Unterwerfung unter das Diktat eines neuen Künstler*innentyps zu verstehen ist, hatte große Auswirkungen auf die Vorstellungen des Musikbetriebs als Ort von Öffentlichkeit. Mit der zunehmend einseitigen Ausrichtung auf das Bühnengeschehen verlor sich der Charakter des Opern- mehr noch des Konzertbetriebes als eines repräsentativen Versammlungsortes, in dem Menschen einander begegnen, sich austauschen, sich unterhalten, ihre Wünsche und ihr Begehren artikulieren und sich dabei ihres sozialen Ranges versichern. Fortan sollten sie sich – jeder und jede für sich – in den Dienst zur bestmöglichen Realisierung des Bühnengeschehens einüben, um so in der Erfahrung ein ebenso stummer wie kundiger Teil des musikalischen Geschehens zu sein und individuellen Mehrwert zu ziehen.
Müller lässt die Beantwortung der Frage, warum sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einer aufstrebenden neuen Klasse mit dem kollektiven Einüben des Schweigens ein neues Hörverhalten durchgesetzt, hat offen. Umso detaillierter schildert er die vielfältigen Kämpfe, die in- und außerhalb der Veranstaltungsorte in Berlin, London und in Wien stattfanden und die unschwer als Spiegelbild der sich wandelnden sozialen Grenzziehungen zwischen der Aristokratie und dem aufkommenden Bürgertum, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Stadtgesellschaften erschütterten, gelesen werden.
Die Bürger*innen wollen nicht die Aristokrat*innen nachahmen; sie wollen als die neue Elite ihre Rezeptionsweisen durchsetzen
Zumindest für das kaiserliche Wien habe ich bislang die These verfolgt, das zu Wohlstand gekommene und politischen Einfluss fordernde Bürgertum habe versucht, das kulturelle Verhalten der Aristokratie zum Maßstab zu nehmen und zu versuchen, es ihm gleich zu tun und damit an sozialem Prestige zu gewinnen. Dies umso mehr, als das feudale System dem Bürgertum eine unmittelbare politische Beteiligung verweigert hat. Es war gezwungen, für sich attraktive Ersatzfelder zu schaffen und in einem, von ihm dominierten Kulturbetrieb seinen gesellschaftlichen Aufstieg wenn schon nicht realpolitisch so zumindest symbolisch zu zelebrieren.
Nach der Lektüre von „Das Publikum macht die Musik“ gilt es, diesen Befund der bedingungslosen Nachahmung zumindest zu relativieren. So berichtet von der Schaffung einer europäischen kulturellen Infrastruktur, deren imposanten Neubauten – wie im Fall der Royal Albert Hall in London – schon aus wirtschaftlichen Gründen wesentlich größer dimensioniert sein musste als die intimen Veranstaltungsräume in den fürstlichen Residenzen. In diesem neuen Ambiente fand nicht nur Aristokratie, sondern auch das gehobene Bürger*innentum Zutritt, wenn auch Preise, Eintrittskarten, Eintrittstüren, Platzverteilung oder getrennte Pausenräume die kategorialen sozialen Trennungslinien weiterhin sichtbar machten. Dass hier immer wieder Übertretungen versucht wurden, erzählt vom Anhalten des sozialen Spannungsverhältnisses, das in diesem gemischten Ambiente zum Ausdruck kommt.
Von der Bedeutsamkeit der jeweiligen Rangordnung zeugen u.a. Zeitungsberichte der damaligen Zeit, die zu Saisonbeginn nicht etwa über den Programmverlauf und auftretende Künstler*innen berichteten, sondern darüber, wer welche Loge bzw. welchen Sitzplatz zu welchem Preis gekauft habe und was das für die jeweilige Reputation bedeute. Also war es für Menschen, die etwas in der Stadt gelten wollten, schlicht ein Muss, als regelmäßige*r Besucher*in in Erscheinung zu treten. In den neugegründeten Musikvereinen gab es ein heftiges Griß um die Mitgliedschaft, die oft mühsam nicht nur mit viel Geld, sondern mit dem Nachweis einer gehörigen gesellschaftlichen Reputation erkauft werden wollte. Dabei war es ebenso wichtig, sich gegen die Unterhaltungsbedürfnisse der Aristokratie abzugrenzen wie gegen die vermeintliche Kulturlosigkeit der einfachen Leute, die tunlichst ausgeschlossen bleiben sollten (Müller erzählt in diesem Zusammenhang von langwierigen Verfahren, in dem ein Betriebsbesitzer nachweisen musste, dass er den Betrieb wirklich besitzt und nicht nur dort als Subalterner beschäftigt ist, um als Mitglied eines Musikvereins akzeptiert zu werden).
Auf diese Weise sah sich das Bürgertum zwar in die Lage versetzt, die soziale Praxis von Musikaufführung zumindest indirekt nachhaltig zu beeinflussen. Es war dabei aber auf eine stumme Rolle verwiesen. Um ihren Führungsanspruch sichtbar zu machen, beschränkten sich die derart Benachteiligten nicht darauf, es der bestimmenden aristokratischen Elite möglichst gleich zu tun, sondern ein neues kulturelles Verhalten an den Tag zu legen und dieses für verbindlich zu erklären. Zu Hilfe kam ihnen dabei die soziale Rolle des oder der damals wohl nicht zufällig besonders gehypten Virtuosen*in, der oder die über überragende musikalische Fähigkeiten verfügte und auf diese Weise in der Lage war, die volle Konzentration des Publikums auf sich zu lenken (Dazu haben sich eine Reihe von Begebenheiten erhalten, wonach einzelne Virtuos*innen auf ihre überragende Rolle im jeweiligen sozialen Setting bestanden haben. So soll Franz Liszt bei einem Konzert in St. Petersburg sein Spiel abrupt beendet haben, weil der anwesende Zar ein Gespräch unbeeindruckt fortsetzte. Auf die Frage, warum er denn aufhöre, soll Liszt gesagt haben: „Wenn der Zar spricht, haben alle anderen zu schweigen.“)
Viele Berichte weisen nach, wie das bürgerliche Publikum auf immer neue Weise versucht hat, das selbstbezogene aristokratische Verhalten in die Schranken zu weisen, Essen und Trinken, laute Unterhaltungen zu diskreditieren und einen neuen Verhaltenskodex durchzusetzen, der das künstlerische Geschehen in den Mittelpunkt rückt. Auch die zu Genies aufgewerteten Künstler*innen taten das ihre, das Publikum solange zu disziplinieren, bis sich ihr bürgerlicher Anteil in Spott über das unzivilisierte Verhalten der Aristokratie erging.
Ein gutes Publikum zu sein wollte fortan gelernt werden
Im Versuch, fortan den kulturellen Führungsanspruch zu stellen, wollte sich das Bürgertum nicht mehr darauf beschränken, mit Musik unterhalten zu werden, sondern stellte für sich den Anspruch, das Dargebotene zu verstehen bzw. sich sowohl formal als auch inhaltlich zu eigen zu machen. Dazu bedurfte es umfassender Vorbereitungen, sowohl von Seiten der ausübenden Künstler*innen als auch auf Seiten des Publikums. Während sich dank neu gegründeter Ausbildungseinrichtungen die Qualität der Aufführungspraxis nachhaltig verbesserte, unterzogen sich auch die Besucher*innen umfassender Lernprozesse, um der Komplexität des Dargebotenen gewachsen zu sein. Vieles spricht für die Vermutung, dass damit eine Art Wettlauf zwischen den Musikschaffenden und dem Publikum eingesetzt hat, im Rahmen dessen die Musikstücke in ihrer zunehmenden Komplexität immer höhere Ansprüche an das Hörverständnis des Publikums stellte während dieses immer größere Bildungsanspruche unternahm, um dem Hörerlebnis gewachsen zu sein (Vereinzelte Saalschlachten zu Ende des Jahrhunderts zeugen davon, dass dieser beide Seiten an den Rand der Erschöpfung bringende Wettlauf schon einmal aus dem Ruder laufen konnte).
Um die Rolle des kundigen Publikums glaubhaft einnehmen zu können, wollte man sich freilich nicht mehr beliebig überraschen lassen. Das war die Geburtsstunde eines musikalischen Kanons, der fortan das Repertoire der europäischen Opern- und Konzerthäuser dominieren sollte. Herausgebildet hat sich dabei eine begrenzte Anzahl an musikalischen Werken, die immer wieder das musikalische Selbstverständnis der neuen aufstrebenden Klasse wiederholen, die bereit war, den Erwerb der damit verbundenen Kenntnisse für die einzig richtige Rezeptionsweise auf sich zu nehmen. Als ein wichtiges Hilfsmittel dienten dabei die sogenannten Reduktionen. Das waren kammermusikalische Versionen der kanonisierten großen Werke, die vom Publikum zuhause einstudiert werden konnten, um sich bestmöglich auf die nächste Aufführung vorzureiten.
Ich habe anlässlich der Rezension von Orlando Figes Studie „Die Europäer“ bereits darauf hingewiesen, dass diese Form der Selbstbeschränkung große Auswirkungen auf den Europäisierungsprozess des Musikbetriebs gehabt hat. So hat es in ganz ähnlich gestalteten Konzerthäusern und Opernsälen in ganz Europa dasselbe Repertoire von denselben Künstler*innen gegeben, die damit wesentlich zur Bildung einer gemeinsamen europäischen Identität der bürgerlichen Klasse beitrugen. Der Umstand, dass die auf italienische Musik fixierte Aristokratie im Zuge der wachsenden, auch musikalisch begleiteten Nationalisierungsbewegungen zusätzlich unter Druck geriet, wirkte sich bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf diesen Trend nur geringfügig aus.
Die Übernahme des Kulturbetriebs durch ein bürgerliches Publikum verlief nicht friktionsfrei. Müller berichtet von der Wirkung der Präsenz von Familienmitgliedern der Herrscherhäuser, die es darauf anlegten, die aristokratische Herrscherfraktion wider den Zeitgeist stärkten. Für sie wurden zum Teil bombastische Logeninszenierungen angefertigt; mit dem Abspielen von Hymnen, wann immer der Einzug erfolgte, erzwang man, das Bühnengeschehen an den Repräsentations- ebenso wie Unterhaltungsbedürfnissen der Herrschaft auszurichten. Auch die politischen Auseinandersetzungen rund um die bürgerliche Revolution 1948 ragten tief in den Kulturbetrieb hinein, wenn musikalische Spielstätten zu politischen Kampfstätten, in denen sich Herrschende und Beherrschte in einer asymmetrischen Beziehung gegenüberstanden. Auch außerhalb der Konzertsäle formierte sich der Führungsanspruch einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die in diversen Druckschriften die Bildungsanstrengungen des Publikums unterstützte. Die Autoren sparten dabei nicht, wenn es darum ging, sich über das kulturelle Verhalten der Aristokratie lustig zu machen, die einem vorgeblich peinlichen, verweichlichten und letztlich falschen Musikkonsum anhängen würden.
Laufen wir seit nunmehr hundert Jahren einer Schimäre nach?
Im abschließenden Kapitel gibt Müller einen kurzen Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ortet er jedenfalls für den bürgerlichen Kulturbetrieb erste Auflösungserscheinungen zwischen den Macher*innen und dem Publikum. Mit dem Aufkommen neuer sozialer Gruppen, die im Rahmen der sozialistischen Bewegungen ihrerseits einen politischen Führungsanspruch zu stellen begannen, vergrößerte sich die Furcht beim etablierten bildungsbürgerlichen Publikum vor einem Niedergang der von ihnen etablierten musikalischen Ordnung. An die Seite der repräsentativen Kultureinrichtungen trat ein vielfältiges Kulturangebot, das den vielfältigen Unterhaltungsbedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung sehr viel eher gerecht zu werden versprach als das rigide bürgerliche Regime in Opern- und Konzertsälen. Dem dortigen Stammpublikum muss diese Entwicklung wie ein Rückfall in vorbürgerliche Zeiten erschienen sein, wenn an den neuen Orten die Unterhaltungsbedürfnisse in den dafür neu gebauten Etablissements fernab jeglicher emotionalen Disziplinierung wieder ganz unmittelbar, voraussetzungslos und unverstellt ausgelebt werden konnte.
Wenn sich heute eine neue Generation von Musikvermittler*innen auf den Weg macht, das klassische Musikangebot möglichst allen Menschen verfügbar zu machen und erklärt wird, diese Musik könne von allen – ungeachtet ihres Bildungsstands und ihrer sozialen Stellung – erfahren werden („Musik ist eine Sprache, die jeder versteht“), dann werden alle Erkenntnisse negiert, die Müller in „Das Publikum macht die Musik“ ausbreitet. Geht es nach seiner Analyse, dann ist es nahezu fahrlässig, die Bedeutung Klassischer Musik (samt den mit ihr verbundenen Hörgewohnheiten) von ihren sozialen Entstehungsbedingungen zu abstrahieren; sie ist vielmehr das Resultat eines Sozialkonflikts, mit dessen das Bildungsbürgertum hoffen konnte, zumindest auf kulturellem Terrain an die Macht zu gelangen. Diese spezifischen Entstehungsbedingungen sind dem klassischen Repertoire eingeschrieben; sie zu negieren würde bedeuten, sie in einem Akt gewaltsamen Gedächtnisverlustes ihrer ursprünglichen gesellschaftspolitischen Kraft zu berauben und den Rezipient*innen die Möglichkeit nehmen, sich mittels musikalischer Erfahrungen sich des eigenen sozialen Status bewusst zu werden.
In einer Ära demokratischer Verfasstheit, in der sich soziale Kämpfe in ganz andere Räume verlagern und folglich Menschen ganz unterschiedliche kulturelle Gewohnheiten entwickeln, scheint der Führungsanspruch des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts, das in den Opern- und Konzerthäusern zu seiner symbolischen Repräsentation gefunden hat, weitgehend gebrochen. In einer auf Diversität und Pluralität basierenden Gesellschaft müssen sich die verbleibenden Zugehörigen mit einer Minderheitenposition zufriedengeben. Es spricht wenig dafür, dass sich an dieser demographischen Entwicklung so schnell etwas ändern wird (Daran knüpft auch die Vergeblichkeit der Forderung der Klassischen Musikszene an die Schule, für einen musikalisch gebildeten Publikumsnachwuchs zu sorgen. Zu beklagen ist da schon eher die insgesamte Infragestellung eines Bildungsverständnisses, das mehr zu leisten vermag als die kompetenzorientierte Zurichtung auf den Arbeitsmarkt; ein Zugang, der mittlerweile auch die klassischen kulturvermittelnden Gegenstände der Kunst- und Musikerziehung erreicht hat).
Wenn Müller in der Darstellung des sich radikal wandelnden Publikums und seines Einflusses auf das Musikgeschehen von einer sozialen Praxis berichtet, die im Konzertsaal durch soziale Kämpfe geprägt ist, dann verweist er noch einmal auf die Bedeutung (kultureller) Öffentlichkeiten. Im frühen 19. Jahrhundert gab es nur wenige öffentliche Orte, in denen Vertreter*innen unterschiedlicher sozialer Gruppen aufeinander treffen konnten, um sich anhand ihrer Interessen zu messen. Die Bereitschaft zur emotionalen Selbstfesselung des Bildungsbürgertums ergab sich in der Absicht, mit dem daraus resultierenden Verhalten die Hegemonie antreten zu können. Das ist nur sehr partiell gelungen, auch wenn die größtenteils aus dem 19. Jahrhundert stammenden großen Kulturbauten etwas anderes suggerieren. Zu Schaden gekommen aber ist die Bedeutung (kultureller) Öffentlichkeiten, in denen nicht nur ungestört Kunst rezipiert, sondern in denen soziale Unterschiede verhandelt werden können.
Eine neue Kulturpolitik, die vom Publikum aus konzipiert wird
Wenn uns die Geschichte des 19. Jahrhunderts etwas lehrt, dann dass die Kraft sozialer Veränderungen eng an die Existenz kultureller Öffentlichkeiten gebunden ist. Diesen Zusammenhang hat eine produktionslastige Kulturpolitik der letzten Jahre sträflich vernachlässigt. Ganz offensichtlich meinte sie, sich auf die Erfüllung eines Auftrages des Kulturbetriebs des 19. Jahrhunderts beschränken zu müssen, der der künstlerischen Produktion ihre ganze Aufmerksamkeit widmet, während das Publikum, das hoffen durfte, mit dem Dienst an der Kunst ihren sozialen Status zu verbessern, in weiten Teilen abhandengekommen ist.
.Jetzt – mitten in der Pandemie – stehen wir vor der kulturpolitischen Herausforderung, dass Menschen mehr denn je Wunsch haben, zusammen zu kommen, etwas miteinander zu tun zu bekommen, Konflikte auszutragen, sich zu vergemeinschaften. Schon lange war wohl der Wunsch nicht mehr so groß, einfach gut unterhalten zu werden, ohne sich dabei gleich einem rigiden Kunstexerzitium unterziehen zu müssen.
Also wäre eine an die Kommunikation mit Menschen ausgerichtete Musikproduktion in herausragender Weise geeignet, den Unterhaltungsbedürfnissen einer tief verunsicherten Gesellschaft zu entsprechen. Musiker*innen des 19. Jahrhunderts machen unmittelbar klar, dass ein solches neues Miteinander von Produzent*innen und Rezipient*innen das künstlerische Schaffen nicht notwendig kompromittieren muss. Ganz im Gegenteil, hier eine neue Balance zu finden, macht die Qualität des/der Künstler*in aus.
Als wir lernten, die soziale und die ästhetische Dimension des Musik- bzw. Kunstgeschehens besser auseinander zu halten
Müllers herausragende Leistung liegt darin, sensibel für die heraussagende Bedeutung des Publikums für den Musikbetrieb zu machen und damit aufzuhören, ihn noch einmal vom
Schwanz her aufzuzäumen. Der erste Auftrag einer Kulturpolitik nach der Pandemie wird nicht darin bestehen, früher oder später zu alten Verhältnissen zurückzukehren. Stattdessen gilt es, neue kulturelle Öffentlichkeiten zu schaffen, in denen Kunst und Musik eine herausragende Bedeutung bei der Vergemeinschaftung von Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe zukommt. Müller macht klar, wie dynamisch sich das Publikum in seinen Erwartungen und Auftritten entlang sozialer Konfliktlinien entwickeln und verändern vermag. Noch einmal zu versuchen, kulturelles Verhalten nach den Vorgaben des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts einüben zu müssen, weil angeblich nur so Musik und Kunst adäquat rezipiert werden kann, könnte da schnell ins Leere gehen.
Als wesentlich ergiebiger könnte sich eine neue kulturpolitische Schwerpunktsetzung erweisen, die sich um die Schaffung von Öffentlichkeiten als Ort sozialer Ausverhandlungen bemüht, an denen teilzunehmen für unterschiedliche soziale Gruppen interessant und attraktiv sein könnte (wie wichtig das gesellschaftspolitisch ist, zeigen u.a. die Rechtspopulist*innen, die nur allzu bereit sind, das zunehmende Vakuum zu besetzen).
Wir alle sind Aristokrat*innen
Auch wenn Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe heute ein völlig anderes Selbstverständnis vor sich hertragen, können sie dabei dennoch anknüpfen an die Umgangsformen im Kulturbetrieb in vorbürgerlichen Zeiten, wo sich eine Elite begegnen wollte und sich unterhalten, erkennen, sich austauschen, sich abgrenzen und dabei gemeinsame Erfahrungen machen konnte. Solche Erfahrungsräume sollten heute nicht nur einer kleinen Elite, sondern allen Menschen zur Verfügung stehen. Musik konnte und kann dafür eine ganz wichtige Katalysator-Funktion einnehmen.
Wenn das Publikum dann dort die Unterhaltung (vielleicht sollten wir uns bei der Gelegenheit besinnen, dass das Wort Unterhaltung über mehrere Bedeutungen verfügt und damit sowohl existentiell als auch spielerisch auf die für den Menschen grundlegenden Existenzgrundlagen verweist) findet, die es sucht, dann wird es den Ausführenden gerne ihre Reverenz erweisen und ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken als diejenigen, die die Studierende in Indien vergeblich zu beruhigen suchte.