Warum Kulturpolitiker*innen künftig besser nachdenken sollten, bevor sie das Wörtchen „Wir“ in den Mund nehmen
Schön langsam kommt sie in Gang die Diskussion, wie es nach der Pandemie (so sie denn so bald endet, wie wir das erhoffen) mit „Kunst und Kultur“ weiter gehen könnte. Die deutsche kulturpolitische Gesellschaft hat dazu dankenswerter Weise eine breite Diskussion angestoßen, die nicht nur nostalgisch zurückblickt, sondern mutig die anstehenden Transformationsprozesse begleitet.
Zu Wort gemeldet hat sich u.a. auch der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda, der in den Kulturpolitischen Mitteilungen die Kulturpolitik vor enormen Herausforderungen sieht, dessen ungeachtet die Krise als Chance der Veränderungen begreifen möchte (Dass er dabei auf bewährte, vielfach durch die Praxis falsifizierte Stehsätze wie „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“ zurückgreift, ohne dabei konkret zu werden, was er damit meint, sei hier nur am Rande erwähnt.)
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Bei der Lektüre seines Beitrags wurde mir schlagartig ein zentrales Problem des aktuellen kulturpolitischen Gesprächs bewusst. Dieses besteht weniger in den vorgebrachten Vorschlägen, die durchaus erwägenswert erscheinen. Was mich irritiert hat, das ist seine allzu saloppe Verwendung der Worte „wir“ und „uns“. In immer neuen Anläufen verweist Brosda auf ein nicht näher bezeichnetes Kollektiv, wenn er davon spricht, dass es „unser aller Achtsamkeit“ brauche, „dass wir nicht allzu schnell…“, „dass wir uns beispielsweise darum kümmern müssten…“ oder, „dass wir Kulturpolitik dringend handlungsfähig halten müssten.“
An welches „Wir“ appelliert da einer der führenden Kulturpolitiker Deutschlands? Naheliegend, dass sich zuallererst die Leser*innenschaft der Kulturpolitischen Mitteilungen angesprochen fühlen sollen. Immerhin ist zu erwarten, dass die Leser*innen viele seiner Gedankengänge teilen und sich vielleicht sogar aufgewertet fühlen, wenn ihnen ein prominenter Autor auf diese Weise die Mitgliedschaft an einer ideellen Gemeinschaft anbietet.
Problematisch wird dieses „Wir“ aber dann, wenn unter dieser Zuschreibung der Kulturbetrieb als Ganzes subsummiert werden soll. Immerhin liegt eine der zentralen Ursachen seines zunehmenden Bedeutungsverlusts gerade darin, dass schon lang schwelende Konflikte unter den verschiedenen Akteur*innengruppen immer wieder unter ein „Wir“ gezwungen wurden, das sich wie ein Bleigewicht über die die bestehenden Gewaltverhältnisse legen sollte. Mit seiner unreflektierten Verwendung konnten vor allem diejenigen, die über die Definitionsmacht des „Wir“ verfügten, eklatante Ungleichheiten aufrechterhalten, ohne fürchten zu müssen, von allfälligen „Nicht-Wirs“ beeinsprucht zu werden. Unter dem Verweis, nur ja keine Neiddebatte zu beginnen, wurden so längst überfällige Verteilungskämpfe vermieden, um damit die Szene höchst wirkungsvoll und dauerhaft in einige wenige Privilegierte und eine Vielzahl von Prekarisierten zu unterteilen. Verschleiert wurden so auch die sich immer weiter verschärfenden Konkurrenzverhältnisse, die die Frage erst gar nicht mehr aufkommen ließen, ob und wenn ja über welche Gemeinsamkeiten sich dieser Sektor zu definieren vermag. Und so wurde einem zunehmend auseinanderstrebenden Kulturbetrieb sukzessive jegliche Form der Solidarität ausgetrieben, sozusagen eine Ingredienz, ohne dass das Wort „Wir“ weitgehend sinnentleert daherkommt.
Vollends fragwürdig aber wird Brosdas „Wir“-Zuschreibung mit Blick auf ein gesellschaftliches Ganzes, sei es urban, regional, national oder gar international gerichtet. Als Politiker ist die Sache für Brosda klar: So funktioniert eben repräsentative Demokratie. Das Wahlvolk hat mich als ihren politischen Sprecher ausersehen. Also spreche ich in seinem Namen und agiere als ein personifiziertes „Wir“: „Wir müssen…“ kann dann gelesen werden als eine Art pluralis majestatis, damit als ein Selbstauftrag des*r sprechende *n Politiker*in, sich im Namen seines*ihres Elektorats dieser oder jener Sache anzunehmen.
Ausgerechnet als Kulturpolitiker verfehlt Brosda damit aber die kategoriale Differenz, die Politik und Kultur voneinander unterscheiden. Im Bereich der Politik ist es durchaus demokratiekonform, wenn die Vertretung kollektiver Interessen an ausgewählte Repräsentant*innen delegiert wird. Ihre Aufgabe ist es, für diese in der politischen Arena zu kämpfen und mit den Kontrahenten zu einem Kompromiss zu kommen. Dieses Delegationsverfahren lässt sich aber nicht eins zu eins auf die Sphäre des Kulturellen übertragen. Ja, es stimmt schon, es gibt sie noch, die Vertreter*innen des Kulturbetriebs, die meinen, die Kultur für sich gepachtet zu haben und über diese stellvertretend für alle verfügen zu können. Selbst nach 50 Jahren eines kulturpolitischen Programms einer „Kultur für alle“ hat sich bei ihnen noch nicht durchgesprochen, dass Kultur nicht auf ein kleines, sich als auserwählt begreifendes und doch zunehmend abseitsstehendes Segment der Gesellschaft beschränkt werden kann, sondern alle Menschen angeht.
Noch einmal verschärft hat sich die Infragestellung eines solchen Anspruchs der kulturellen Stellvertretung durch die zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft. Sie hat mittlerweile eine beeindruckende kulturelle Vielfalt hervorgebracht, deren Akteur*innen immer weniger bereit sind, sich unhinterfragt, noch dazu von einem Vertreter der alten Kulturelite (Tut mir leid, Herr Brosda, aber das sind wir), unter das Dach eines für alle verbindliches „Wir“ zwängen zu lassen. Sie machen längst ihre eigenen kulturellen Regeln als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Wir-Gefühl, das sie ebenso von voneinander abgrenzen, wie da oder dort auch überlappen lässt. Für sie stellt es ein besonders Qualitätsmerkmal einer demokratischen Gesellschaft dar, sich entlang der bestehenden Differenzen selbst eine Stimme zu geben. Und damit selbstbestimmen zu können, welchem “Wir” sie sich zugehörig fühlen wollen und welches sie ablehnen.
Brosda irrt, wenn er noch einmal glaubt, ein von ihm postuliertes “Wir” würde sich schon irgendwie von selbst einstellen, wenn sich Menschen nur intensiv genug mit “Kunst und Kultur” beschäftigen. Er und mit ihm wird die Kulturpolitik als Ganzes erkennen müssen, dass, wenn sie weiterhin darauf besteht, Kraft ihres Amtes über Kultur als Ganzes verfügen zu können und daraus den Anspruch abzuleiten, ein darauf begründetes „Wir“ verordnen zu können, sich einfach immer weiter ins Abseits stellt. Vereinfacht ausgedrückt: Eine Kulturpolitik von oben hat ausgedient. Sie geht an immer mehr Menschen, die sich in ihrer kulturellen Vielfalt immer weniger von einem – und sei es noch so prononcierten Kulturpolitiker – ein „Wir“ aufoktroyieren lassen wollen, ohne gefragt zu werden, ob sie damit überhaupt einverstanden sind, einfach spurlos vorbei.
Vor dem Hintergrund dieser, von Brosda durchaus gut gemeinten kulturpolitischen Selbstüberschätzung entstehen die Konturen eines neuen kulturellen Emanzipationsprozesses. Dieser konzediert allen Menschen ihr eigenes, ihnen und ihren Lebens- und Arbeitsumständen entsprechendes kulturelles Verhalten. Als Ausdruck des jeweiligen Eigensinns entzieht es sich einer überkommenen Hierarchisierung, sondern steht gleichwertig neben allen anderen.
Diese Entwicklung stellt in der Tat eine fundamentale Herausforderung für jegliche zukunftsorientierte Kulturpolitik dar. Immerhin wird sie in einem solchen Szenario nicht darum herumkommen, nicht nur einigen wenigen politischen Vertreter*innen, sondern möglichst allen Menschen eine aktive Mitsprache an der kulturpolitischen Entscheidungsfindung zu ermöglichen. So gesehen besteht die Aufgabe der Kulturpolitik immer weniger darin, die Menschen noch einmal hinter einem weitgehend inhaltsleeren „Wir“ zu versammeln, sondern Verfahren in Gang zu setzen, die es den Menschen mit ihren unterschiedlichen sozialen, geographischen, ethnischen, religiösen oder eben kulturellen Hintergründen erlaubt – endlich – sich als gleichberechtigte Mitwirkende am kulturellen Geschehen zu begreifen. Der Erfolg dieser Verfahren mag darüber entscheiden, ob die daran Beteiligten sich noch einmal auf ein neues, in gemeinsamer Aktion konkret erfahrbares „Wir“ zu verstehen vermögen, um es in solidarischem Zusammenwirken mit Leben zu erfüllen.
Dann hätten Kunst und Kultur eine Zukunft.