Wozu brauchen wir überhaupt noch Schule? – Über das Fehlen inhaltlicher Gestaltungskraft in der Bildungspolitik

Zu den wesentlichen bildungspolitischen Elementen in Christian Kerns „Plan A“ zählen „Schule 4.0“, um die digitalen Kompetenzen der österreichischen SchülerInnen zu stärken sowie der Ausbau der Autonomie an den einzelnen Schulstandorten. Diese soll es ermöglichen, den regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen und maximale Gestaltungsspielräume zu nutzen. Diese Ankündigung reiht sich ein in eine lange Folge von technisch-organisatorischen Maßnahmen, die einmal mehr versprechen, die aktuelle Schulentwicklung voranzubringen. Auffallend ist das weitgehende Fehlen inhaltlichen Vorgaben zu den Aufgaben von Schule in einer Zeit dramatischer Umbrüche. Sie scheinen in der nun schon Jahrzehnte währenden parteipolitischen Pattstellung verloren gegangen zu sein. Das Ergebnis erleiden die Schulen in der Befolgung immer kleinteiligerer organisatorischer Vorgaben, deren Erfüllung den Verlust bildungspolitischer Inhalte vergessen machen soll.

Schule als Spiegel einer auseinanderbrechenden Welt

In dem Maß aber, in dem Bildungspolitik immer weniger gut über den gesellschaftspolitischen Auftrag von Schule Auskunft geben kann, ist diese den aktuellen Tendenzen der Ausdifferenzierung und Verungleichung, die auch die österreichische Gesellschaft erreicht hat, weitgehend hilflos ausgeliefert. Und Autonomie – über die übrigens bereits seit den 1990er Jahren diskutiert wird – mutiert unversehens zum Eingeständnis, dass die zentralen Bildungsverwaltungen schon die längste Zeit nicht mehr in der Lage ist, die ihr anvertrauten Schulen entlang von begründeten Vorstellungen des gleichberechtigten und sinnstiftenden Zusammenlebens auszurichten. Das Ergebnis zeigt sich in Form eines völlig unübersichtlichen Bildes unterschiedlicher Schulstandorte, die auf jeweils individuelle Art jeder für sich versuchen, mit den Folgen der aktuellen Transformationsprozesse fertig zu werden. Die schiere Existenz von mehr als rund 5.300 Schulversuchen in einem Schulsystem von insgesamt 6000 Schulen zeigt, dass im österreichischen Schulsystem bereits seit längerer Zeit die Ausnahme über die Normalität regiert.

Immer mehr Input – Immer schlechterer Output

Was uns zu denken geben könnte ist der Umstand, dass das österreichische Schul- und Bildungssystem in den letzten Jahren überdurchschnittliche Zuwächse beim Ressourceneinsatz erfahren hat. So hat sich die Anzahl der Lehrkräfte seit den 1970er Jahren mehr als verdoppelt, auch die finanziellen Aufwendungen sind signifikant gestiegen; dazu wurde die LehrerInnenausbildung wesentlich verbessert sowie eine Vielzahl neuer Lehr- und Lernmethoden erprobt. Und doch erweisen sich die Ergebnisse dieses Einsatzes, jedenfalls sofern sie sich mit empirischen Methoden messen lassen, als vergleichsweise bescheiden. Wenn mittlerweile mehr als ein Viertel der SchülerInnen die Schule ohne anwendbare Lese- und Schreibfähigkeiten verlässt, dann war die Anzahl der jungen Menschen - mit migrantischem ebenso wie mit nicht-migrantischem Hintergrund -für die es keine begründeten Lebens- und Arbeits-perspektiven gibt, noch nie so hoch.

In einem ersten Erklärungsversuch werden gerne der wachsende Zuzug von MigrantInnen und die damit verbundenen demographischen Veränderungen ins Treffen geführt. In der Tat ist die Beherrschung der gemeinsamen Unterrichtssprache Deutsch ein wichtiger Erfolgsfaktor schulischen Lernens – LehrerInnen, die Klassen mit einem Migrationsanteil von 80 und mehr Prozent unterrichten, wissen davon ein Lied zu singen. Und doch lässt sich die insgesamt sinkende Bedeutung von Schule in der Gesellschaft mit dem Phänomen der ethnisch-kulturellen Ausdiversifizierung allein nicht erklären, wenn – zumindest prinzipiell – die wachsende Repräsentation unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen eine wichtige Lernressource, etwa bei der Erarbeitung interkultureller Kompetenzen darstellen könnte.

Vielmehr spricht vieles dafür, dass Schule kein isoliertes System darstellt sondern in vielfältiger Weise auf das, was außerhalb der Schultore stattfindet, reagiert. Als ein Spiegel der Gesellschaft ist sie mit all den Tendenzen und Widersprüchen konfrontiert, die die aktuelle Übergangsgesellschaft charakterisieren, etwa mit den gravierend geänderten Ansprüchen auf den Arbeitsmärkten und den damit verbundenen Qualifikationserfordernissen. Das betrifft die digitale Durchdringung des Alltags ebenso wie die Änderungen in den persönlichen Rollen- und Beziehungsgefügen in und außerhalb der Familien. Dazu ist eine Vielfalt von informellen, weitgehend medial vermittelten Lernanbietern auf den Plan getreten, die Schule in völlig neue Konkurrenzverhältnisse zwingt.

Das Bildungsversprechen gilt nicht mehr

Kein Wunder also, dass sich LehrerInnen überfordert fühlen, auch weil sie sich zunehmend außerstande fühlen, ihre Bemühungen noch einmal in Beziehung zu setzen mit einer erstrebenswerten Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Stattdessen müssen sie feststellen, dass hinter ihrem Rücken ein, die Nachkriegszeit wesentlich bestimmender Gesellschaftsvertrag zumindest stark relativiert wenn nicht überhaupt aufgekündigt wurde, wonach sich Lernen lohnen und die Mühen des Bildungserwerbs kompensiert würden durch eine – von weiten Teilen der Gesellschaft anerkannten – Verbesserung des sozialen Status.

Wir alle sind konfrontiert mit einer schleichenden Entwertung von schulischen Bildungsbemühungen. Konkret finden selbst hoch- und höchstausbildete junge Menschen schwerer einen Job als noch vor einigen Jahren. Sie geraten im sozialen Standing gegenüber jenen unter Druck, die pekuniären Erfolg als einzig verbleibendes Leistungskriterium gelten lassen.

Und die jüngsten Entwicklungen gehen noch einen Schritt weiter. Im Bann rechtpopulistischer Agitation sind wir wieder angelangt bei einer umfassenden Desavouierung von Bildungsbemühungen. Alles, was Bildung umfasst, gerät jetzt wieder in den Verdacht der Zugehörigkeit zu einer „volksfeindlichen Elite“. Eine, wie uns medial täglich aufs Neue vermittelt wird, durchaus erfolgreiche Taktik der politischen Profilierung, wenn sich ihre Wortführer auf eine auch in anderen Teilen der Parteienlandschaft zumindest latent schlummernde Intellektuellen- und Kunstfeindlichkeit berufen können. Versprochen wird die Verteidigung von vermeintlich natürlich erworbenen kulturellen Zugehörigkeiten – Bildung galt bislang als Chance, sich davon zu emanzipieren und einen „eigenen“ Zugang zu sich und der Welt zu finden.

Wir alle machen Schulentwicklung

Einige Laptops mehr in der Schule oder Änderungen im Auswahlverfahren, welche LehrerInnen an welcher Schule unterrichten, treffen nicht den Kern des Problems. Diese verzweifelten Versuche des Social Ingeneering lassen uns glauben, die Schule wäre von sich aus noch einmal in der Lage, sich per Drehung der einen oder anderen Schraube zu reformieren. Die langen letzten Jahre aber haben gezeigt, dass sie darin überfordert ist, jedenfalls solange es nicht gelingt, noch einmal ihre Relevanz entlang eines, von breiteren Teilen der Gesellschaft mitgetragenen Gestaltungswillens zu erhöhen. Ansonsten bleiben wir zurückgeworfen auf die Vorstellung von Schule als einem irgendwie notwendigen Übel, von dem keinerlei Impulse für die gesellschaftliche Weiterentwicklung mehr ausgehen.

Pixabay

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