Ich habe 48 Jahre in einer Operette gelebt, doch die Dernière ist nun vorbei.
Der Putztrupp aus Ewiggestrigen und Neidern, denen selbst der Auftritt in der Komparserie wegen Unzulänglichkeit bis dato versagt geblieben ist, kehrt mit alten Besen und in einheitlich blaugrauen Arbeitsmänteln über den abgetretenen Bühnenboden. Versucht die Fußabdrücke ganz großer Darsteller, die ebendiesen niemals mehr betreten werden, wegzufegen. Sie kehren nicht auf Schaufeln, mit einem letzten, folgsam überprüfenden Blick auf verlorene Strasssteinchen und Federn, die am Ende doch fehlen werden. Sie kehren ohne Mitleid und in Wolken in den Orchestergraben. Staub, der sich von nun an zwischen Tasten und Saiten, auf Resonanzkörper und tief ins Innere der Instrumente und letztendlich auch auf Stimmbänder legt, und damit allem den wohltuenden Klang nimmt.
Der rote Vorhang scheint (wenn man auf dem obersten Rang sitzt oder das Fernglas vergessen hat) noch ganz ansehnlich. Mit viel Fantasie ist zu erahnen, wie sanft und doch mächtig sich der rote Stoff einst angefühlt hat. Wie beschützend und majestätisch einladend. Beim genaueren Hinsehen jedoch ragen kleine goldene Fäden aus Borte und Kordel. Sie scheinen zu rufen: Nur nicht daran ziehen, sonst läutet ihr das Ende der goldenen Kordel ein, die Auflösung, die nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Auch der rote Stoff selbst ist Flickwerk und übersät mit Gebrauchsspuren: Von unbedachten Inspizienten, von Darstellern, die versuchten, ihre vom Jausenbrot fettigen Finger vor dem großen Auftritt an diesem edlen Stück Stoff zu säubern. Von Dieben, die Teile aus dem Ganzen schnitten, um daraus einen Umhang zu schneidern, der am Ende - da das Augenmaß fehlte - viel zu groß geriet.
Der einst gleichmäßig glänzende, schwarze Bühnenboden ist matt und brüchig. Die Bretter, auf denen so oft schöne »My fair Ladys« mit liebevoll aufgestecktem Haar und zusammenschnürten Korsagen Sprachübungen bis zum Hohen C absolvierten, und so lange Töne »ergrünen« ließen, bis auch der letzte (manchmal schlafende) Zuschauer im Publikum des Wortes mächtig war. Wo der Prater alljährlich aufs Neue erblühte, Wein aus einem Glas mit Henkel getrunken wurde und der Rausch danach, in einer offenen Gefängniszelle ausgeschlafen werden konnte. Kein Wachsen und Bohnern schafft es, diese Bretter, die einst die Welt bedeuteten, wieder zum Tanzboden einer Fröhlichkeit zu machen, auf der man nicht Gefahr läuft, auf glatzig-glänzenden Stellen auszurutschen, wie früher, an einem Sonntag Vormittag auf dem Wiener Eislaufverein. Altes Holz vermischt mit billigem Laminat, Flickwerk auch hier.
Und plötzlich macht sich eine leise Ahnung und ein krampfendes Gefühl im Magen breit. Ein Gefühl, dass all der beschützende rote Samt und der glänzende schwarze Bühnenboden, die meiner Welt so lange kindliches Vertrauen und Zuversicht, und das Gefühl des Beschütztseins gaben, nur der Kunst des Lichttechnikers zu verdanken sind. Dem richtigen Scheinwerferkegel an passender Stelle, dem leuchtenden Strahlen des Bühnenlichts, das den Auftritt des blaumanteligen Putztrupps bis heute unmöglich machte.
Und dem verdunkelten Zuschauerraum, wo anscheinend nicht Raupen und Ameisen, sondern Kakerlaken und Asseln neben mir im Parkett, auf ihren großen Auftritt gewartet haben.
Nun hat jemand das gefährlich-entblößende Arbeitslicht aufgedreht.