Im ARD-Sommerinterview hat AfD-Chef Chrupalla zum Teil mit falschen Zahlen argumentiert. Zudem ließen sich einige Forderungen rechtlich gar nicht umsetzen. Die Aussagen im Faktencheck.
Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder
Der Krieg in der Ukraine und Migration waren die Hauptthemen des ARD-Sommerinterviews mit dem AfD-Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla. Da es während der Aufzeichnung eines solchen Gesprächs nicht immer möglich ist, falsche oder irreführende Behauptungen sofort zu korrigieren, werden einige Aussagen Chrupallas hier noch einmal im Nachgang genauer beleuchtet.
Rechtliche Hürden bei Abschiebungen
Zu Beginn des Interviews ging es um Migration und Abschiebungen. So behauptete Chrupalla unter anderem, dass in Deutschland zwischen 250.000 und 300.000 Menschen ohne Bleiberecht leben würden, die sofort abgeschoben werden müssten. Das ist irreführend.
Zwar lebten in Deutschland zum Stichtag 31. Dezember 2023 242.642 ausreisepflichtige Menschen. Dazu zählen abgelehnte Asylbewerber, aber auch ausländische Studierende, Arbeitnehmer oder Touristen, deren Visum abgelaufen ist. Der Anteil der abgelehnten Asylbewerber liegt bei knapp 60 Prozent.
Das bedeutet allerdings nicht, dass sie auch direkt abgeschoben werden können. Denn ein Großteil der ausreisepflichtigen Menschen gilt als geduldet - etwa 80 Prozent. Geduldete Menschen können aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden, zum Beispiel aufgrund ihrer familiären Situation, dem Fehlen von Reise- und Ausweisdokumenten oder weil es kein Abschiebeabkommen mit dem Herkunftsland gibt.
Eine Duldung wird durch die zuständige Ausländerbehörde erteilt, ist befristet gültig und muss entsprechend regelmäßig verlängert werden. Ein Grund für eine Duldung kann auch ein Abschiebestopp sein, zum Beispiel weil das Herkunftsland als nicht sicher gilt. So darf nach Paragraf 60 des Aufenthaltsgesetzes grundsätzlich niemand in ein Land abgeschoben werden, in dem Gefahr droht durch Verfolgung, Folter oder die Todesstrafe. So wird momentan nach Afghanistan, Russland oder in den Iran nicht abgeschoben.
Die Zahl der Menschen, die als unmittelbar ausreisepflichtig gelten und abgeschoben werden könnten, liegt daher insgesamt nur bei rund 48.700. Zudem wird nicht erfasst, wie viele von ihnen bereits freiwillig ausgereist sind.
Abschiebung von Täter in Mannheim unwahrscheinlich
Chrupallas Behauptung, die Täter von Bad Oeynhausen und Mannheim hätten schon lange vor der jeweiligen Tat abgeschoben werden müssen, ist zumindest für den Fall in Mannheim irreführend. Da der Täter vorher offenbar nicht kriminell in Erscheinung getreten ist, nicht als Gefährder galt und zudem ein Kind mit einer deutschen Staatsbürgerschaft hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er überhaupt hätte abgeschoben werden können. Hinzu kommt, dass es kein Abschiebeabkommen mit Afghanistan gibt.
Grenzkontrollen nur in Ausnahmefällen möglich
Auch die Forderung von Chrupalla, wieder "restriktive Grenzkontrollen" einzuführen, wäre rechtlich nicht ohne Weiteres durchsetzbar. Denn Deutschland hat wie 25 weitere Staaten das sogenannte Schengener Abkommen unterzeichnet - mit dem Ziel, die Personenkontrollen an den Binnengrenzen der beteiligten Länder abzuschaffen. Theoretisch sind dadurch nur in Ausnahmefällen flächendeckende Grenzkontrollen zu anderen Mitgliedsstaaten erlaubt - beispielsweise, wenn "eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" für ein Land besteht.
Die Grenzkontrollen müssen jedoch zur Bekämpfung dieser Gefahr unbedingt erforderlich sein. In der Regel dürfen sie 30 Tage andauern. Wenn die Gefahr dann noch besteht, können sie mehrmals um 30 Tage verlängert werden; insgesamt aber nur auf sechs Monate. So wurden zum Beispiel für die Zeit der Fußball-Europameisterschaft von Bundesinnenministerin Nancy Faeser an allen Grenzen wieder Kontrollen eingeführt.
Längerfristige Grenzkontrollen an nationalen Grenzen können bis zu einer Dauer von höchstens zwei Jahren eingeführt werden und nur unter besonderen Voraussetzungen: Etwa wenn das Funktionieren des Schengen-Raums an sich in Gefahr ist, weil außergewöhnliche Umstände vorliegen und die Schengen-Außengrenze durch eines der Mitgliedsländer trotz EU-Unterstützung nicht wirksam geschützt wird.
Bisher ist die EU-Kommission den Wünschen aus den Mitgliedsstaaten allerdings stets nachgekommen. So werden in Bayern an der Grenze zu Österreich seit Herbst 2015 immer wieder vorübergehend Grenzkontrollen vom Bundesinnenministerium bei der EU-Kommission angemeldet - und sind immer wieder jeweils genehmigt und verlängert worden.
Falsche Angaben zu ukrainischen Bürgergeldempfängern
Ein weiterer Teil des ARD-Sommerinterviews ging um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auch in diesem Zusammenhang gab es irreführende oder falsche Aussagen von Chrupalla. So behauptete er, dass eine Million Ukrainer in Deutschland Bürgergeld beziehen würden. Das ist falsch. Laut Ausländerzentralregister leben derzeit etwa 1,3 Millionen Ukrainer in Deutschland, von denen der Großteil nach dem Beginn der russischen Invasion ins Land kam.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) erhielten im März 722.000 Ukrainer Bürgergeld. Von ihnen sind jedoch 216.000 nicht im erwerbsfähigen Alter, weil sie zum Beispiel Kinder sind. Das bedeutet, dass 506.000 Ukrainer im erwerbsfähigen Alter Bürgergeld beziehen. Nach Angaben der BA sind die überwiegende Mehrheit der erwachsenen Flüchtlinge aus der Ukraine Frauen, von denen etwa die Hälfte im erwerbsfähigen Alter gemeinsam mit minderjährigen Kindern lebt.
Minsker Abkommen nicht nur wegen Ukraine gescheitert
Chrupalla sagte zudem, die Ukraine habe die Minsker Abkommen nicht umgesetzt, da es in den ukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk vor Beginn der russischen Invasion nicht zu Referenden gekommen sei, in denen die Gebiete hätten entscheiden können, "zu welchem Land" sie gehören wollten oder ob sie "als neutrales Gebiet weiter ihre Existenz wahren". Diese Behauptung ist mindestens irreführend.
Das zweite Minsker Abkommen, das am 12. Februar 2015 unter anderem vom damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet wurde, um einen Waffenstillstand im Osten der Ukraine zu erreichen, bestand aus insgesamt 13 Vereinbarungen.
Einer dieser Punkte umfasste einen Dialog über die Modalitäten der Durchführung regionaler Wahlen in den Oblasten Donezk und Luhansk, am ersten Tag nach dem Abzug der schweren Waffen. Allerdings kam es dazu gar nicht erst, weil bereits kurz nach der Unterzeichnung russische Truppen und ihre Unterstützer die Waffenruhe brachen - und damit auch das Minsker Abkommen.
Auch in den folgenden Jahren konnten sich Russland und die Ukraine weder über elementare Statusfragen noch auf die Reihenfolge politischer und die Sicherheit betreffender Bestimmungen einigen, wie es in einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik heißt. Die Umsetzung der Vereinbarungen sei damit während des gesamten Zeitraums blockiert gewesen. "Dabei ging Obstruktion durchaus von beiden Konfliktparteien aus. Russland war jedoch für eine grundlegende Unwucht in der Verhandlungskonstellation verantwortlich, da es die eigene Rolle im Konflikt durchweg leugnete."
Mit der Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Februar 2022 und dem Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine brach Putin das Abkommen endgültig.
Keine sechs Millionen Ukrainer flohen nach Russland
Chrupalla behauptete zudem, dass sechs Millionen Ukrainer nach Russland geflüchtet seien. Diese Zahl lässt sich jedoch nicht bestätigen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind gut 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine in Russland als Flüchtlinge registriert worden und etwa sechs Millionen Menschen in einem europäischen Land. Auch die Zahl der Grenzübertritte von der Ukraine nach Russland seit Beginn des russischen Angriffskrieges liegt demnach nur bei 2,87 Millionen - in den europäischen Nachbarländern waren es im selben Zeitraum mehr als 33 Millionen.
Hinzu kommt, dass es laut Nichtregierungsorganisationen unklar ist, inwieweit die Ukrainer freiwillig nach Russland gingen. So gibt es Berichte von etwa 20.000 verschleppten ukrainischen Kindern.