Ich will zur Abwechslung eine Geschichte zu erzählen, die ohne tierischen Ernst auskommt und in ihrer Art ein leiser Abgesang auf einen Teil der Wiener Kultur ist, den es vielleicht bald gar nicht mehr geben wird.
Dieser Abgesang gilt einer besonderen Art von Wiener Kaffeehaus, in der das Kaffeetrinken geschätzte Nebensache ist. Hier trifft man einander, um Zeitung zu lesen, zu politisieren und um zu spielen. Schach und Bridge waren über Jahrhunderte wichtige Bestandteile zivilisierter, intellektueller europäischer Kaffeehauskultur, und zahlreiche Meister dieser anspruchsvollen Künste haben ihre ersten Sporen im Kaffeehaus verdient.
Heute werden Schach und Bridge zunehmend im Internet gespielt. Man kann sein Gegenüber weder mit Handschlag begrüßen noch sehen und weiß eigentlich nie, ob man eine Schachpartie gegen einen Menschen oder gegen einen Computer, den das unsichtbare Gegenüber zu Hilfe genommen hat, spielt. Jene wenigen nicht computeraffinen Zeitgenossen, die es vorziehen, echte Schachfiguren und echte Karten in der Hand zu halten und den Spielpartner als lebendiges Gegenüber erleben zu können, werden vielleicht bald ausgestorben sein.
Aber noch gibt es ein paar dieser Überlebenden einer versinkenden Epoche und noch treffen diese einander in den wenigen verbliebenen Wiener Kaffeehäusern alten Stils, deren schäbige Eleganz in einem perfekten Kontrast zum oft skurrilen Erscheinungsbild ihrer Besitzer steht.
Kennen Sie ein Wiener Kaffeehaus, in dem der Chef den Betrieb von einem Liegestuhl aus, den er im Gastraum aufgestellt hat, überwacht? Ein solches Kaffeehaus, das alte „Old Vienna“, gab es in Wien und es war bis vor wenigen Jahren im Besitz von Herbert, seinem “Chef” und Inhaber dieses Liegestuhls. Nicht immer hatte Herbert sein Kaffeehaus vom Liegestuhl aus dirigiert. In der Blütezeit des „Old Vienna“ hatte es gegolten, Köchinnen und Servierpersonal umsichtig zu kommandieren, und Herbert hatte das stets aufrecht und mit strenger Hand getan, auch wenn gerade eine seiner ansehnlichen Töchter hinter dem Tresen gestanden war. In den Liegestuhl ist er erst übersiedelt, als er der Meinung war, es wäre Zeit, sich „zur Ruhe zu setzen“. Sein Kaffeehaus war dann sein Wohnzimmer, und er war von da an Chef und Gast in einer Person.
Herbert besaß in der Blüte seiner Jahre als „Cafetier“ drei Wiener Kaffeehäuser, aber keines liebte er wie sein „Old Vienna“ und keines war so liebevoll eingerichtet wie dieses Kaffeehaus, das zu Recht den Anspruch erhob, ein führender Repräsentant monarchischer Kaffeehauskultur zu sein, auch wenn es außerhalb des Wiener Gürtels lag. Dort wurde auf Wiener Art gegessen, genascht, Kaffee getrunken und vor allem gespielt: Schach, Bridge, Tarock und als Tribut an die Neuzeit leider auch am „Einarmigen Banditen“.
Der überwiegende Teil der Gäste waren Stammgäste, die das „Old Vienna“ zu einem unvergleichlichen Wiener Biotop formten. Das Stammpublikum setzte sich aus einem repräsentativen Querschnitt der Wiener Bevölkerung samt Gästen mit „Migrationshintergrund“ zusammen und an den Schachtischen waren von Spielern und Kiebitzen Kommentare in allen Sprachen der alten Kronländer zu hören.
Natürlich gab es auch ein soziales Gefälle unter den Stammgästen des „Old Vienna“, aber dieses orientierte sich an völlig anderen Kriterien als in der Welt „ draußen“. Hier genoss Ansehen, wer am Schachbrett oder Bridgetisch zu brillieren wusste, und es bedeutete wenig, „draußen“ ein erfolgreicher Primararzt zu sein, wenn man hier im Kaffeehaus nur zu den mittelmäßigen Schachspielern zählte. So hingen die Augen der draußen Wohlsituierten und Erfolgreichen oft andächtig an den Lippen des einen oder anderen Langzeitarbeitslosen, wenn dieser gerade die brillante Lösung eines kniffligen Schachproblems präsentierte. Für den Mittelmäßigen war es dann eine besondere, ihm huldvoll gewährte Ehre, diesem Meister den Kaffee und die Zigaretten bezahlen zu dürfen.
Sein Kaffeehaus bot Herbert immer ein reiches Betätigungsfeld. Er spielte Schach und Tarock mit den Gästen, schnauzte sein Personal an und kochte auch – nicht besonders gut, aber mit Leidenschaft und Würze. Er selbst war der wohl größte Genießer seiner eigenen Küche, und es kam schon vor, dass die Kellnerin einem Gast, der das auf der schwarzen Tafel vor dem Lokal angepriesene Reisfleisch bestellen wollte, kurz, bündig und mit slowakischem Akzent beschied: „Nix mehr da, Chef hat selber gegessen.“
Nie saß Herbert selbst am „Einarmigen Banditen“, aber als Aufsteller stand ihm ein Teil des Erlöses zu. Diesen Erlös – und nicht nur diesen – verspielte er „in seiner Freizeit“ konsequent im Casino. Dieses Laster hat letztlich den langsamen, aber kontinuierlichen Niedergang von Herberts kleinem Imperium und des alten „Old Vienna“ zumindest beschleunigt.
Zu seinen Gästen hielt Herbert vertrauliche Distanz. Von ihm geduzt zu werden war die unterste, eigentlich noch bedeutungslose Stufe auf der langen Leiter zu seinem Herzen. Von dieser Stufe konnten sich nur jene höher arbeiten, die über viele Jahre sein „Old Vienna“ regelmäßig, am besten täglich besuchten, mit ihm ausdauernd Tarock und Schach spielten und seine Küche lobten.
Die persönliche Note seiner Küche lag Herbert auch dann noch sehr am Herzen, wenn ihn Tarock und Schach daran hinderten, selbst lange in der Küche zu stehen. Daher ließ er es sich nicht nehmen, auch an Speisen, die eine Köchin zubereitet hatte, letzte Hand zu legen. Das Ergebnis einer solchen „Intervention meisterlicher Hand” war ein anekdotisches Ereignis, das in seiner Kürze Herberts Kochkünste und deren Würdigung durch seine Gäste mehr als treffend beschreibt.
Dieses Ereignis hat sich zu einer Zeit zugetragen, als Herbert schon in den Liegestuhl übersiedelt war, aus welchem er sich beim nachmittäglichen Eintreffen seiner Tarockpartner unter freudigen Schmähungen seiner Gäste ächzend erhob. Durch seinen kundigen Eingriff hatte die kleine Auswahl vorrätiger Speisen bereits ihren letzten, überaus würzigen Schliff erhalten und wartete auf ihre wertschätzenden Genießer.
Die Tarockrunde hatte Platz genommen, die ersten beiden Runden waren gespielt und die ersten Gläser bereits geleert, als Franz, einer von Herberts Tarockpartnern, Hunger verspürte. Bei der herbeigerufenen Kellnerin orderte Franz in urwienerischem Dialekt ein „Gulasch“, und eine neue Kartenrunde begann.
Dann wurde das „Gulasch“ serviert, und Franz begann mit den ersten Bissen, ohne die Karten abzulegen. Franz hatte als Kettenraucher eine heisere, aber tragende Stimme, und so war sein hüstelnd vorgebrachter Kommentar zum „Gulasch“ im ganzen Lokal zu vernehmen. „Hearst“ sagte er zu Herbert, „Dein Gulasch is ja net zum fressn, so scharf is des!“
Mit seiner fürsorglichen Replik zeigte Herbert durchaus Verständnis für die etwas empfindliche Konstitution seines Gastes: „Hearst Depperter“, sagte er liebevoll, „waunst nix Scharfes vertragst, muaßt Dir a Grießkoch bestelln.“
Nach einer kurzen Pause war Franz zu hören: „ Des is bei Dir aber aa scharf.“
Womit dem alten “Old Vienna”, Herbert und seiner Kochkunst ein würdiges Denkmal gesetzt ist.