Im Krieg dominiert der kurzfristige Blick auf die Geschehnisse von gestern, heute und evtl. auch noch morgen. Aber immer sind nur wenige Stunden präsent. Jedoch darf man auch die langfristigen Entwicklungen nicht ignorieren, man muss sie gar sehen. Diplomatische Strategen im Krieg behalten diese im Auge, während die militärischen Generäle sich den kurzfristigen Geschehnissen widmen müssen.
Existenziell für ein Staat ist eine Vision für die nächsten Jahrzehnte, so wie ein Haus das erhalten werden soll, regelmäßige Investitionen braucht.
Putins Haus ist marode, statt anzubauen hätte er es renovieren müssen. Jetzt ist es so baufällig, dass es zusammenbrechen wird, wenn er nicht bald ein paar Stützpfeiler einzieht und den Anbau aufgibt. Gesellschaftliche, finanzielle und militärische Resourcen hat Putin schon zum Überfluss vergeudet. Der Anbau wird nie fertig gestellt werden, es wird eine Ruine im Garten sein, die den Wert des Hauses mindert.
Es sei gleich klarstellt: Ein Zerfall Russlands liegt nicht im Interesse des Westens oder der NATO. Eine handvoll instabiler Staaten mit Atomwaffen, einige islamistisch regiert, andere als Vasallenstaaten Chinas - das will selbst der Westen nicht.
Der Ukraine-Krieg hat Russland geschwächt. Nutzt Peking die Gunst der Stunde und holt sich Wladiwostok zurück? China fordert das seit Jahren.
1. Bis ca. 1860 gehörte die Region zu China und wurde vom expandierenen Zarenreich erobert.
2. China will auch Arktis-Macht werden und sucht den Zugang dort. Bislang hat es nur einen Polarstation auf Spitzbergen, das es aufgrund eines Vertragen nach Ende des WW1 eingerichtet hat.
3. Die Völker im Osten Sibiriens sind eher asiatisch als europäisch ausgerichtet. Auch wenn China genausowenig Menschenrechte und Demokratie gewährleistet, so ist doch der Wohlstand greifbarer. Der Widerstand der Menschen dort wird sich in Grenzen halten.
4. China hat sich auch in Sibieren schon kräftig eingekauft. Ob es militärisch eingreifen muss, steht noch nicht fest. Die Gebiete dort könnten China mit offenen Armen empfangen.
Da können wir gespannt sein, wann die ersten chinesischen "Schutztruppen" die russischen Soldaten ersetzen, die in die Ukraine müssen und deshalb die Militärstützpunkte in Fernost verlassen. Aber wo werden die Chinesen Halt machen, wenn sie niemand aufhalten wird? Am Baikalsee? Am Ural? Oder gar noch weiter vorstoßen? Holt sich China seinen Teil, dann ist es nur noch ein Katzensprung bis zu der Kurilen-Frage, dem Kaukasus und Kaliningrad.
China wird in diesem Krieg immer auf der Gewinnerseite stehen. Es gibt mehrere Optionen:
1. Russland gewinnt in der Ukraine, dann wird es auf gleicher Augehöhe mit China sein,
2. Russland verliert in der Ukraine, dann wird es für China ein billiger Energielieferant sein, oder
3. Russland verliert haushoch in der Ukraine, dann wird China als erster beim Zerfall und der Auflösung Russlands mitreden und sich ein schönes Stückchen aus Putins Zarenreich einverleiben.
So wie es derzeit aussieht, ist die erste Option vom Tisch, die dritte Option wird immer wahrscheinlicher.
Der Einfluss Moskaus über die koloniale Landmasse ist in Gefahr, China wittert Morgenluft und bestimmte Gebiete orientieren sich neu. Russland wird auch wirtschaftlich so geschwächt sein, dass es Russland zerreißen könnte. Putin legte die Saat für Divergenz.
Es kann davon ausgegangen werden, dass der Westen der Ausdehnung des chinesischen Einflußbereichs nicht tatenlos zusehen wird. Ein Russland nach dem Putin-Regime wird deshalb mit der Unterstützung und zumindest Waffenlieferungen der NATO setzen können.
China liefert jetzt schon, trotz Freundschaftsbekundungen, keine Waffen an Russland. Es will Russland in der Ukraine ausbluten lassen und anschließend seinen Interessen im Ostern, mit oder ohne Waffengewalt, durchzusetzen. Derzeit kann sich Taiwan trotz aller Drohgebärden sicher fühlen. China hat ein Auge auf ein leichteres Ziel geworfen.
Wenn sich bestätigt, dass die russischen Atomwaffen genauso marode sind (ich hab schonmal darüber geschrieben) dann wird Russland in dieser Form aufhören zu existieren und kann sich glücklich schätzen, wenn es die westlichen Gebiete unter der Obhut von NATO und EU halten kann.