Remigration damals - und alle wussten was geschah.

Am 13. Februar 1945, einem Dienstag, muss sich Victor Klemperer als Hiobsbote betätigen. Er ist zum Austragen von Briefen verpflichtet worden, mit denen den noch gut 70 Juden in Dresden ihre Deportation angekündigt wird. Das Rundschreiben besagt, man habe sich am kommenden Freitag früh im Arbeitsanzug mit Handgepäck, das eine längere Strecke zu tragen sei, und mit Proviant für zwei bis drei Reisetage in der Zeughausstraße 3 einzufinden, einem »Judenhaus«, in dem vor allem Angehörige sogenannter privilegierter Mischehen wohnen, die mit »arischen« Partnern verheiratet sind.

Um der Behauptung, es handele sich lediglich um eine kurzzeitige Abkommandierung zur Arbeit, Glaubwürdigkeit zu verleihen, hat man auf die bei den Deportationen übliche Beschlagnahmung allen Vermögens und des gesamten Hausrats verzichtet.

KINDER Doch alle, denen Klemperer die furchtbare Botschaft überbringt, sind überzeugt, dass es sich nicht um einen – wie angekündigt – Arbeitseinsatz, sondern um einen Marsch in den Tod handelt. Der Romanist wird Zeuge der »grausamsten Zerreißungen« von Familien, die mit der geplanten Deportation verbunden sind; ohne Rücksicht sind Sieben- bis 70-Jährige betroffen: »Frau Eisenmann und Schorschi bleiben hier, Lisl, die elfjährige Sternträgerin, muss mit Vater und Herbert fort.« »Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen«, schreibt der Unglücksbote, »später war ich dann vollkommen stumpf, d.h., ich beobachtete für mein Tagebuch.«

Klemperer, der Chronist der Judenverfolgung in der Elbestadt, berichtet Erschütterndes über die Reaktionen der Betroffenen. Eine Frau Bitterwolf in der Struvestraße hat er aufzusuchen: »Ebenfalls ein armseliges Haus; ich studierte gerade vergeblich die Namenstafel im Hausflur, als eine junge blonde, stupsnasige Frau mit einem niedlichen, gut gehaltenen Mädelchen von vielleicht vier Jahren kam. Ob hier eine Frau Bitterwolf wohne? Das sei sie selber. Ich müsse ihr eine böse Mitteilung machen. Sie las das Schreiben, sagte ganz ratlos mehrmals: ›Was soll aus dem Kind werden?‹, unterschrieb dann still mit dem Bleistift. Inzwischen drängte sich das Kind an mich, reichte mir seinen Teddybär und erklärte strahlend vergnügt: ›Mein Teddy, mein Teddy, sieh mal!‹« Dieses Kind sollte in Dresden bleiben, aber, fragt der Tagebuchschreiber: »Warum nimmt man die jüdischen Kinder mit? Das ist doch kein Arbeitseinsatz!«

In der Franklinstraße sucht Klemperer nach einer Frau Pürckhauser. Er trifft sie mit ihrem »arischen« und tauben Mann: »Kleine Leute. Sie waren die ruhigsten von denen meiner Liste. Schlimm war trotz ihrer Beherrschtheit eine Frau Grosse in der Renkstraße, hübsches Villenhaus an der Lukaskirche. Eine Frau mittleren Alters, eher damenhaft; sie wollte ihren Mann anrufen, stand hilflos am Telefon: ›Ich habe alles vergessen, er arbeitet in einer Konfitürenfirma ... mein armer Mann, er ist krank, mein armer Mann ... ich selber bin so herzleidend...‹ Ich sprach ihr zu, es würde vielleicht nicht so schlimm, es könne nicht lange dauern, die Russen stünden bei Görlitz, die Brücken hier seien unterminiert, sie solle nicht an Tod denken, nicht von Selbstmord reden ...« Endlich bekommt Klemperer die notwendige Empfangsunterschrift. Kaum hat er die Korridortür geschlossen, hört er die Frau laut weinen.

FEUERSTURM Am Abend dieses furchtbaren Tages setzt sich Klemperer mit seiner Frau abgekämpft und bedrückt zu einem Kaffee. Da kommt um halb zehn Vollalarm. »Wenn sie doch alles zerschmissen!«, sagt erbittert eine von der Deportationsankündigung betroffene alte Frau, da beginnt der erste Angriff eines ganzen Geschwaders, der sich Klemperer als der bisher schrecklichste von den vielen schon erlebten einprägt. Im Haus Zeughausstraße 1 Wimmern und Weinen, neues Herankommen der Flugzeuge, »neue Beengung der Todesgefahr, neuer Einschlag. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholte«.

Draußen ist es inzwischen taghell. Am Pirnaischen Platz, in der Marschallstraße und irgendwo an oder über der Elbe brennt es lichterloh. Im Treppenhaus sind die Fenster eingedrückt und liegen hindernd auf der Treppe. Nach Mitternacht beruhigt sich die Situation. »Ich dachte: Nur schlafen, das Leben ist gerettet, für heute Nacht werden wir Ruhe haben, jetzt nur die Nerven beruhigen!«

Nur eine Stunde Schlaf, dann kommt um ein Uhr der nächste Alarm, diesmal mit Handsirenen, da der Strom ausgefallen ist: Die Straße ist nun taghell, es brennt, ein Feuersturm. Vor der Mauer zwischen den beiden Zeughausstraßen-Häusern, der Mauer des einstigen Synagogenhofes, steht gewöhnlich ein Militärposten, den Klemperer nun befragen will, da kommen bereits neue Einschläge. Gemeinsam mit einer Gruppe Russen – im Inferno befreite Kriegsgefangene – flieht er, bis er an der Elbe auch einem aus dem Gefängnis geflüchteten Holländer begegnet: »Die anderen verbrennen im Gefängnis.« Auf der Brühlschen Terrasse, deren Betreten seit längerer Zeit für Juden verboten ist, trifft er auf eine Gruppe seiner für die Deportation vorgesehenen Leidensgenossen.

FLUCHT Klemperer ist verletzt und weiß nicht, wo seine Frau ist. Am Mittwochmorgen findet er sie wieder. Die lebenspraktische Eva trennt mit einem Taschenmesserchen den gelben Stern vom Mantel ihres Mannes, wie es die anderen auch schon getan haben. Nun geht es zum Treffpunkt Jüdischer Friedhof. Von der Leichenhalle steht nur noch das äußere Gemäuer, dazwischen ein tiefes Loch im Erdboden, »sonst gar nichts, alles war vollkommen vertilgt«, vertilgt wie fast die ganze Stadt im Feuersturm. Die 500 Gestapo-Männer haben nun anderes zu tun. Alle Deportationslisten sind vernichtet. Vom Jüdischen Friedhof aus begeben sich Victor und Eva Klemperer auf die rettende Flucht, die sie bis zur Befreiung am 8. Mai nach Bayern führt.

Victor Klemperer ist kein religiöser Mensch. Aber in sein Tagebuch notiert er: »Sooft ich an den Schutthaufen Zeughausstraße 1 und 3 dachte und denke, hatte und habe doch auch ich das atavistische Gefühl: Jahwe! Dort hat man in Dresden die Synagoge niedergebrannt.«

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Victor Klemperer (1881–1960) war Professor für Romanistik an der Universität Dresden, bis er 1935 als Jude von den Nazis entlassen wurde. Dank seiner Ehe mit einer »arischen« Frau entging er den ersten Deportationen. Heimlich führte Klemperer Tagebuch und analysierte die Sprache der Nazis. Unter dem Titel LTI – Notizen eines Philologen erschienen seine Aufzeichnungen erstmals 1947. »LTI« steht für »Lingua Tertii Imperii« (Die Sprache des Dritten Reiches) und gilt bis heute als ein Klassiker der politischen Sprachkritik.

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- Jüdische Allgemeine, Holger Böning

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