„Liebe aus Syrien vertrieben Frauen und Männer,
Dass ich nun hier, am Istanbuler Aksaray Platz zu Ihnen spreche, werden Sie vielleicht kaum glauben können, und vermutlich werden es auch alle Menschen in Europa vor den Bildschirmen nicht glauben können, aber ich sage: Außergewöhnliche Situationen brauchen außergewöhnliche Handlungen.
Hier am Aksaray Platz, dem Zentrum ihrer Fluchtanstrengungen, hier, wo sich Flüchtlinge und Schlepper treffen, will ich ganz offen zu Ihnen sprechen. Ich bin zutiefst betroffen, wenn ich die vielen orangen Schwimmwesten sehe, die hier in all den Läden angeboten werden; noch mehr aber bin ich betroffen, dass auch meine Äußerungen Ihnen Anreiz gegeben haben, sich diese Schwimmwesten umzuschnallen, als letzte Sicherheit bei ihrer gefährlichen Überfahrt nach Griechenland.
Ich muss zugeben, ich habe unterschätzt, was meine Worte und Handlungen ausgelöst und welche Hoffnungen sie bei Ihnen erweckt haben. Ich dachte wirklich, die Masseneinwanderung in Deutschland (und damit auch in Österreich, dessen Grenzen ich quasi mitgeöffnet habe) wäre etwas Naturwüchsiges aufgrund des Krieges gewesen. Doch mittlerweile musste ich feststellen, dass sogar das UNHCR der Auffassung ist, dass das etwas mit mir zu tun hatte.
Und noch mehr: Der herrschende Narrativ in meinem Land, wonach Sie im Begriff sind,‚vor dem Krieg nach Deutschland zu flüchten’, ist, das musste ich nun erkennen, höchst populistisch. Wahr ist: Sie sind vor dem Krieg in die Türkei und andere Nachbarstaaten geflüchtet. Hier in der Türkei sind Sie zwar zunächst an Leib und Leben sicher und haben das Recht auf Krankenbehandlung; allerdings ist mir völlig bewusst, dass es für Sie hier keine Perspektiven gibt: Ohne Arbeitserlaubnis müssen Sie illegal für einen Hungerlohn arbeiten; hier in den Städten und auch in den großen Lagern im Südosten der Türkei gibt es keine Schulen für Ihre Kinder. Und schließlich fehlt es auch an Nahrungsmitteln, weil westliche Staaten – wofür ich mich besonders schäme – mit Zahlungen für das World Food Programme der UNO im Verzug sind.
Damals im Sommer nahmen daher die Verwegensten unter Ihren Landsleuten als erste den gefährlichen Weg nach Europa auf sich. Die Vorsichtigeren blieben. Vermutlich haben diese sehnsüchtig nach Europa geblickt, genau so, wie Sie das jetzt tun, und sie haben sich vielleicht täglich gefragt, ob sie gehen sollen oder nicht. Penibel wurden die Aussagen europäischer Politiker verfolgt – so auch meine.
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich den Konsens in der EU suchen können. Vielleicht wäre es damals noch möglich gewesen, die osteuropäischen Staaten zumindest ansatzweise einzubinden. Ich hätte danach trachten können, dass die Flüchtlingslager rund um Syrien genug finanzielle Mittel erhalten.
Das habe ich aber nicht getan. Stattdessen erklärte mein Land am 25. August das Dublin-System für Syrer für außer Kraft gesetzt, und ich stellte mich Anfang September Flüchtlingen für Selfies zur Verfügung. Fotos, die in Sekundenschnelle um die Welt gingen. Nun gab es kein Halten mehr. Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland lädt uns persönlich ein! Den Rest erledigten die Schlepper, indem sie das ‚Paradies Deutschland’ in den grellsten Farben schilderten: Jeder bekommt ein Haus, um die Familie nachholen zu können, und einen Job!
War Deutschland zuvor ein Land unter vielen, wurde es nun das Land. Ich wurde mit Mutter Theresa verglichen, in Budapest wurde ‚Germany’ gerufen, und vor den ungarischen Absperrungen wurde der Gewissheit Ausdruck verliehen, dass ich den Zaun teilen und die Menschen ins gelobte Land führen würde.
Und alle, alle fühlten sich eingeladen. Nicht nur aus Syrien, aus aller Herren Länder. Und: Sie müssen verstehen, dass es für mich schwer erträglich war, dass sich auch die Täter von Köln von mir persönlich eingeladen gefühlt haben.
Meine Einladungspolitik war gut gemeint gewesen, sehr gut gemeint. Ich darf Ihnen versichern, dass die Verschwörungstheorie, wonach die deutsche Wirtschaft billige Arbeitskräfte verlangte, um das Lohndumping in Deutschland weiterzutreiben, in keiner Weise meine Intentionen abbildet. Vermutlich, und ich bitte um Verzeihung, wenn ich nun persönlich werde, spielte meine ostdeutsche Herkunft eine Rolle: Nie, nie darf man Mauern bauen, um Menschen drinnen oder eben auch draußen zu halten.
Anfangs sind mir viele meiner Landsleute gefolgt. Sie müssen verstehen, Deutschland hat nach der Nazi-Zeit immer noch das Gefühl, an der Welt etwas gutmachen zu müssen. Diesmal waren sich viele sicher, jetzt aber einmal ganz sicher auf der richtigen Seite zu stehen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Folgen dieser Politik, das muss ich offen bekennen, desaströs sind. Über eine Million Menschen sind in Deutschland im letzten Jahr eingereist, und niemand weiß, wer da eigentlich gekommen ist. Wir haben nun das Problem von Desperados, junge Männern ohne Ausbildung und überfordert von der neuen Kultur, ohne jeglichen Respekt vor staatlichen Institutionen, dafür ständig unter Stress, tradierten Vorgaben von Ehre und Mann-Sein zu entsprechen. Ich habe im September gesagt: ‚Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.’ Jetzt muss ich leider ergänzen: Wenn Frauen in einer deutschen Stadt nicht mehr gefahrlos den öffentlichen Raum betreten können, ist das leider auch nicht mehr mein Land.
Europa ist gespalten wie nie, sogar eine Ende der EU – so wie wir sie kannten – ist plötzlich denkbar. Nach Köln muss ich zudem eingestehen: Ich habe Orban und Co. genau die Argumente in die Hand gegeben, die sie brauchen.
Deutschland ist polarisiert wie nie; die gesellschaftliche Mitte ist paralysiert, rechte Schläger machen Jagd auf Flüchtlinge und linke Rabauken geben sich sogenannten ‚antifaschistischen’ Gewaltfantasien hin, sodass hässliche, bürgerkriegs-ähnliche Szenen drohen; der begründete Verdacht, dass staatliche Institutionen und Medien Straftaten von Zuwanderern vertuschten, rüttelt an den Grundfesten der Demokratie. Das Asylsystem liegt in Trümmern: Da der Verfahrensausgang im Grunde keinerlei Konsequenzen hat – Wer Asyl bekommt, bleibt in Deutschland und wer nicht, auch – kann man in Wahrheit derzeit darauf verzichten. Mein ‚Ich kann auch anders’ und ‚wir schieben jetzt schneller ab’ war dementsprechend, auch das muss ich zugeben, nur Theaterdonner. Mir ist sehr wohl bewusst, dass man in den meisten Fällen gar nicht abschieben kann.
Unter Europas Politikern hat sich eine nie gesehene Hilflosigkeit breit gemacht, wodurch ich leider erneut zu einem Alleingang gezwungen bin. Darum stehe ich jetzt hier vor Ihnen. Ich habe die Migrationswelle – zumindest in ihrer derzeitigen Dimension – ausgelöst, und ich fürchte, es ist auch wieder an mir, sie zu beenden.
Und somit komme ich nun zum eigentlichen Punkt meiner Rede: Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir die Grenzen vorerst schließen und es keine Zweck hätte, den Weg nach Deutschland auf sich zu nehmen. Asylanträge werden nur noch im Deutschen Generalkonsulat in Istanbul entgegengenommen. Ich betone nochmal, und ich ersuche auch den Simultandolmetscher, dies zu wiederholen: An der Grenze zu Deutschland werden Sie fortan zurückgeschickt. Das ist rechtlich möglich, weil Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist.
Und nun kommt das Aber: Deutschland wird seine Politik vom Kopf auf die Füße stellen. Es geht nun nicht mehr darum, dass Sie quasi zur Hilfe kommen, sondern dass die Hilfe zu Ihnen kommt. Deutschland kann Ihnen derzeit nichts bieten als ein Bett in einem Turnsaal. Aber ich verspreche Ihnen: Mit dem Geld, das es in Deutschland bräuchte für Unterkunft, Deutschkurs, Ausbildung, jahrelangen Lebensunterhalt und Tagesstruktur werden wir in Zusammenarbeit mit der UNO die Flüchtlingslager an der syrischen Grenze jeweils zu einem Klein-Damaskus ausbauen – mit festen Häusern, Schulen und Lehrern für die Kinder sowie Nahrungsmittelsicherheit.
Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass der Krieg bald vorbei ist. Vermutlich geht es um eine Eindämmung der Gewalt, nicht um eine Lösung. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass sie im zukünftigen Klein-Damaskus besser leben werden als im Leider-Nein-Paradies Deutschland.
Unter all den denkbaren Lösungen ist das die am wenigsten Schlechte. Diese Rede ist der letzte Dienst, den ich meinem Land, Europa und nicht zuletzt Ihnen erweisen kann. Erlauben Sie mir, mich nun an die Abgeordneten zum deutschen Bundestag zu richten: Meine Damen und Herren, hiermit trete ich zurück.“