Damals hätte man es gleich schon wissen können, als der Mob auf der Straße „Wir sind das Volk skandierte“. Es war der Erweckungsruf der deutschen Volksgemeinschaft, die ihren Aufbruch alsbald mit brennenden Asylbewerberheimen feierte und als Zeichen zum Beginn einer neuen Zeit „befreite nationale Zonen“ schuf, die ein Mensch mit dunkler Hautfarbe nur unter Lebensgefahr betreten kann.
Erstmals seit 1945 wird im Bundestag eine Partei sitzen, die faschistisch zu nennen, führende Mitglieder dieser Partei genügend Gründe geliefert haben. Die Rede ist hier von Leuten, die auch schon mal den Gebrauch von Schusswaffen gegen Menschen fordern, die aus Not und Verzweiflung eine Grenze übertreten, die Politiker anderer Parteien in Anatolien entsorgen wollen und am Wahlabend zur Jagd auf das von ihnen so bezeichnete Politikestablishment aufrufen, wenn sie nicht gleich die Wortwahl der NSDAP übernehmen und von den „Altparteien“ sprechen.
Man sollte die Selbstbezeichnung der historischen NSDAP als Nationalsozialisten auf diese selbst und auf Nachfolger im Geiste wie die AfD nicht gedankenlos übernehmen. Diese Etikettierung dient der Verdrängung und verstellt die Reflektion auf eine umfassendere geschichtliche Tendenz, die der kapitalistischen Epoche offenbar eingeschrieben ist. Dies sind die faschistischen Bewegungen, wie wir sie seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kennen. Die Erscheinungsformen des Faschismus sind sehr breit gefächert. Der deutsche Faschismus in Gestalt des Nationalsozialismus ist seine bösartigste Ausprägung.
Ein differenzierter Umgang mit dem Begriff des Faschismus würde ermöglichen diese geschichtliche Tendenz in ihren unterschiedlichen historischen Erscheinungen und Ursprüngen in den Blick zu bekommen. Es sieht aus als ob der Faschismus ein Zerfallsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, „die zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz immer schon den Eindruck machte als hätte sie ihre besten Tage schon hinter sich“(Wolfgang Pohrt). Sollte die These des Zerfallproduktes stimmen, dann verwundert es auch nicht, dass faschistische Regimes gerade auch dort an die Macht kamen, wo die bürgerliche Gesellschaft sich niemals voll entwickelte, das heißt kein sozial emanzipiertes und politische Verantwortung tragendes Bürgertum vorhanden war. Dies war und ist der Fall an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, in ökonomisch unterentwickelten Ländern, in denen es kaum eine Kapitalakkumulation gibt. Aber auch in einem hochentwickelten industriellen Land wie in Deutschland konnte sich 1933 ein faschistisches Regime durchsetzen. Hier scheiterte die Emanzipation des Bürgertums 1848 und es stand seit 1871 unter der Knute des preußischen Militarismus, der als der entscheidende Geburtshelfer des Nationalsozialismus gelten darf. Die Freikorps waren die Vorläufer der SA und SS. Hitler selbst war ein reines Produkt der Reichswehr. Ein preußischer General im Amt des Reichspräsidenten übertrug ihm die Macht. Der preußische Militäradel glaubte ihn an seinen Fäden ziehen zu können. Sie unterschätzten die Dynamik der einzigen siegreichen deutschen Volksbewegung. Ein Fehler, den sie mit dem Attentat auf Hitler in der Gruppe um Stauffenberg 1944 korrigieren wollten, das was in Deutschland heute „Widerstand“ genannt wird, wobei es sich um einen Militärputsch handelte, um die eigene Kaste vor dem Untergang zu retten, der sie verdientermaßen nach Kriegsende ereilte.
Auf der anderen Seite erklärt die These vom Zerfallsprodukt auch weshalb Gesellschaften mit einem die politische Macht ausübenden Bürgertum wie in Großbritannien, den USA und mit Einschränkungen Frankreich bisher weniger anfällig für Faschismus waren, weil der Bourgeoisie dieser Länder, die in der Tradition der Aufklärung stehen, faschistische Bewegungen ein Gräuel sein müssen. Gleichwohl ist auch in diesen Ländern die geschichtliche Tendenz des Zersetzungsprozesses der bürgerlichen Ordnung am Wirken. Sie erklärt die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft, die in den Wahlsieg des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten mündete. Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft ist in ihr von vorneherein angelegt. Im Süden befand sich eine fast feudal anmutende Sklavenhaltergesellschaft, der im Norden eine sich eine entwickelnde Industriegesellschaft gegenüberstand. Freie Lohnarbeit verträgt sich nicht mit Sklaverei. Die Unvereinbarkeit konnte nur durch Gewalt ausgetragen werden. Nach dem Sieg der Unionsstaaten bestanden sklavenähnliche Verhältnisse aber weiterhin bis in die fünfzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Und noch etwas: Der amerikanische Science Fiction Autor Philip K. Dick (bekannt geworden durch den Film Blade Runner, der auf einem seiner Bücher beruht), lässt in einem Roman seine Protagonisten eine Zeitreise zurück in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts unternehmen. Er schildert deren Entsetzen über den offenen und brutalen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren und häufige, extreme reaktionäre Einstellungen, sowie oft unverhohlen ausgesprochene Sympathien für den deutschen Faschismus. Als die USA gegen Deutschland in den Krieg eintraten war es offenbar keine seltene Einstellung, dass Amerikaner der Ansicht waren gegen das falsche Land Krieg zu führen. Philipp K. Dick war um 1970 herum noch recht nah dran an den dreißiger Jahren. Man kann ihm glauben. Nach dem Krieg schließlich hatten amerikanische Geheimdienste keine Scheu deutsche Kriegsverbrecher in ihre Dienste zu stellen. Jetzt auf der richtigen Seite.
Wenn man die gegenwärtige Epoche als eine weltumspannende kapitalistische Ökonomie begreift, in der jeder Staat und jede Gesellschaft Teil einer umfassenden Totalität ist, dann sieht man überall die gleichen Kräfte am Wirken. Diese „Ordnung“ befindet sich permanent in einem aktiven oder potentiellen Krisenmodus. So wie alle Staaten sich in einem latenten oder aktiven Kriegszustand gegeneinander befinden, so taumelt die Ökonomie von einer Krise zu nächsten. Drollig fast wie die Finanz- und Wirtschaftsexperten der Welt versuchen die nächste Krise jeweils vorherzusagen. Die ganze Wissenschaft der Nationalökonomie mit ihren auf mathematischen Berechnungen beruhenden Expertisen, hat so viel Zuverlässigkeit wie der Blick in die Glaskugel oder in den Kaffeesatz.
Der Faschismus entfesselt die Gewalt, die die Substanz der bürgerlichen Gesellschaft bildet. Die Gewalt des Staates nach Innen, in dem er sein Gewaltmonopol ausübt und einen Rechtsraum schafft und die Gewalt des Staates nach Außen. Zwischen den Staaten gilt kein Recht. Verträge gelten so lange bis sie gebrochen werde. Jeder Staat macht das woran ihn ein anderer nicht hindern kann.
Faschistische Bewegungen wie die AfD unterscheiden sich, trotz ihrer gegenteiligen Rhetorik, von dem konservativen bürgerlichen Lager darin, dass sie das Recht und das staatliche Gewaltmonopol an den entfesselten Mob auf der Straße auszuliefern bestrebt sind. Ihre Sprache verrät sie, wenn sie zur „Jagd“ auf das von Ihnen so genannte Politikestablishment aufrufen. Die Selbstermächtigung des Mobs und die Außerkraftsetzung des Rechts reichen bis in die Organe des Staatsapparates selbst hinein. Sichtbar wurde dieser unterschwellige Prozess in dem gewaltsamen Tod von Oury Jalloh, aus Sierra Leone stammend, 2005 in einer Dessauer Polizeizelle und der Nichtaufklärung des Falles durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht. Die Unterwanderung des Staatsapparates wurde ebenso deutlich im NSU-Prozess in München. Der dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundesstaatsanwalt, war während des ganzen Prozesses, um nichts anderes bemüht, als die Verstrickung bundesdeutscher Sicherheitsbehörden mit dem Nationalsozialistischen Untergrund zu vertuschen. Und nicht zu vergessen, dass in Thüringen die rechte Szene jahrelang mit Geldern vom Verfassungsschutz finanziert und aufgebaut wurde. Die Rede vom nationalsozialistischen Untergrund gewinnt vor diesem Hintergrund eine ganz eigenartige Bedeutung. Die Metamorphose des als Rechtsstaat in Erscheinung tretenden Leviathan zum faschistischen Unstaat bezeichnete Franz Neumann als Behemoth, im Versuch die faschistische Herrschaft im dritten Reich zu beschreiben.
Der Behemoth ist der Übergang der staatlichen Gewalt an, wie kriminelle Banden gegeneinander konkurrierende, faschistische Fraktionen, die untereinander um Macht, Geld, Beute und Einfluss kämpfen. Im faschistischen Unstaat wie er sich im dritten Reich darstellte waren die Zuständigkeiten und Kompetenzen oft ganz undurchsichtig, weil sie davon abhingen welche Stellung die Parteibarone und Fürsten sich persönlich erkämpfen konnten. Niemand, auch unter den eigenen Leuten, war sicher und konnte praktisch über Nacht, wie im sogenannten Röhmputsch, Stellung und Leben verlieren.
Die Auseinandersetzungen in der AfD lassen solche Strukturen deutlich erkennen. Jeder hält dem anderen das Messer an die Kehle. Innerparteilich tobt ein Hauen und Stechen. Um so einen Haufen zusammenzuhalten, braucht es starke Feindbilder, die in der Taktik der AfD deutlich sichtbar werden. Mit ihren Tabubrüchen soll die Öffentlichkeit an das Ungeheuerliche gewöhnt werden. Sie bedienen sich virtuos der bürgerlichen Medien, um in der öffentlichen Wahrnehmung ständig präsent zu sein. Die Politiker der anderen Parteien arbeiten sich an den von der AfD gewählten Themen ab.
Mehr als peinlich am Wahlabend waren, unter anderen, die Auftritte von Cem Özdemir und Sarah Wagenknecht, wie sie die AfD, mit ihrem Nationalstolz über unser großartiges Deutschland oder ihrem Verständnis für die abgehängten von Ängsten geplagten Wähler der AfD, noch zu übertreffen suchten. Wenn die AfD in Sachsen zur stärksten politischen Kraft werden konnte, lässt sich für die nächste ökonomische Krise nichts Gutes erwarten. Dann könnte die AfD noch mal so richtig Fahrt aufnehmen. Sie könnte sich aber auch, was zu hoffen wäre, wegen ihrer innerparteilichen Machtkämpfe vorher selbst zerlegen. Ihr fehlt glücklicherweise bisher der charismatische Führer, die Erlöserfigur von allem Übel, das die Volksgenossen heimsucht.
Gegen den Zerfall der AfD spricht leider ihre Stärke in den östlichen Bundesländern.