Ein etwas genauerer Blick auf das von der SZ öffentlich gemachte Facsimile des Auschwitz-Pamphlets aus dem Hause Aiwanger zeigt, wie unplausibel die Erzählung ist, Bruder Helmut habe es aus spontaner Wut über das Scheitern in der Schule verfasst.
1. Am Offensichtlichsten ist das optisch perfekte Bild des Flugblatts. Da wirkt nichts mit heißer Wut geschrieben. Zeilen- und Buchstabenabstände, Einrückungen, Versalien, Rechtschreibung, Zeichensetzung: alles mit größter Sorgfalt und Präzision.
Und das auf einer alten Schreibmaschine, in der größere Korrekturen häßliche Spuren hinterlassen hätten.
2. So perfide und menschenverachtend jede Formulierung ist: der Text ist mit kühler Präzision und einem herausragenden demagogischen Talent verfasst. Hier schreibt jemand, der genau weiß, was er tut, der sich auf perverse Weise mit dem NS-System beschäftigt hat und der Intellekt, Handwerk und Skrupellosigkeit mitbringt, diese Vernichtungsfantasien durchnummeriert zu formulieren. Das passt weder zur spontanen Wut, noch zum offensichtlich überschaubaren intellektuellen und handwerklichen Vermögen des Bruders.
3. Der Text macht nicht die geringste Anspielung auf eine konkrete Kränkungserfahrung, wie sie der Bruder als Begründung angibt. Das spricht nicht zwingend gegen eine Autorenschaft - macht es aber auch nicht plausibler.
4. In ihrer Präzision unterscheidet sich das Pamphlet auch von den "Manifesten" rechtsextremer Massenmörder - also von Menschen, die umgesetzt haben, was im Hause Aiwanger "nur" geschrieben und kopiert wurde. Manifeste von Einzelnen zeichnen sich häufig durch quälende Langatmigkeit und narzistische Endlosschleifen aus. Nichts davon hier. Auf der halben Seite ist im Duktus des parodierte Sujets „Wettbewerbsausschreibung“ kein Wort zu viel. Eine solche Verknappung schreibt man nicht so einfach runter. Und selbst ein sehr sprachbegabter Einzelautor hätte hier mehrere Kürzungsschleifen gebraucht, um die gewollte Brutaltiät und Unmenschlichkeit so präzise zu formulieren - selbst dann hätte ein "Redakteur" immer noch Längen und Unstimmigkeiten gefunden.
5. Für viel wahrscheinlicher halte ich deshalb, dass hier zwei oder mehrere "Autoren" zunächst ihre Vernichtungsfantasien in eine demagogische Idee (die Analogie zur Wettbewerbsausschreibung) gebracht haben - diese Idee dann inhaltlich, sprachlich und im letzten Schritt in der formalen Setzung auf der Schreibmaschine in mehreren Schritten ausgearbeitet haben. Das könnte bedeuten, dass es nicht um ein "Hubert oder Helmut?", sondern um ein "Hubert und Helmut" gehen könnte. Es könnte auch bedeuten, dass Helmut und Hubert nicht die einzigen waren, die davon fantasiert haben, tausende Menschen bestialisch zu erniedrigen und zu töten. Für eine solche Weiterung gibt es bisher keine Anhaltspunkte - ich wäre aber nicht überrascht, wenn sie sich noch ergeben würden.
Aber auf mehrere Autoren lässt der letzte Satz schließen, der mit „Wir“ beginnt.
6. Bleiben wir bei den Fakten. Hubert Aiwanger hatte unstrittig mehrere dieser Flugbätter im Schulranzen und schließt nicht aus, dass er einige verteilt hat. In seinem öffentlichen Auftreten hat er sich in den letzten Jahren zunehmend radikalisiert, so dass sich die Frage stellt, welche biografischen Kontinuitäten hier bisher nicht ausreichend verstanden wurden.
Der heutige Waffenhändler Helmut Aiwanger behauptet, er sei der Verfasser des Pamphlets - was aus den o.g. Gründen mit Blick auf eine Alleinverfasserschaft wenig plausibel ist.
7. Unter Wahrung der Unschuldsvermutung halte ich es für unverzichtbar, dass die Hintergründe dieses mörderischen Pamphlets - das nichts mit handelsüblichen "Jugendsünden" zu tun hat - lückenlos aufgeklärt werden. Ob Hubert Aiwanger im Wissen um das, was bereits feststeht und wie er sich dazu bisher geäußert hat, weiter stellv. Ministerpräsident bleiben kann, müssen die Bayern entscheiden.