Wintergedanken aus vergangenen Tagen zu Liebe und Liebeschmerz und warum wir alles wieder-holen müssen
freund s. fragt mich nach i. ob wir noch kontakt hätten. ich verneine. nein: kein kontakt mehr. ich verschweige den „geistigen“, vielleicht einseitigen kontakt. ich verschweige, dass ich jeden tag an i. denke: liebend, verletzt, sehnend, segnend, abschied nehmend (den versuch dies zu tun jedenfalls mir glaubhaft machend) an i. denke. dass ich noch nie einen menschen getroffen habe, an den ich jeden tag denken musste, nachdem mich dieser mensch verlassen hatte, verschweige ich auch. jeden tag seit mittlerweile drei monaten. ausnahmslos.
wir – freund s. und ich – stimmen uns auf die tour ein. winterwunderstimmung draußen. der inn schnaubt nebel aus, die sich über die raureifbestandenen bäume legen und von der sonne nicht durchdrungen, sondern von innen heraus zum leuchten gebracht werden. heute wird ein schöner tag! wir glauben daran. wir wollen es so.
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freund s. erzählt mir eine aktuelle begebenheit aus seinem liebesleben: eine umworbene frau stellt sich zufällig als die beste freundin einer von ihm bereits beschlafenen heraus. letztere nennt freund s. die schönste frau, die er je nackt gesehen habe. den atem habe es ihm verschlagen, als sie sich ihrer kleider entledigte. gleichwohl wollte sie keine weiteren nächte nach dieser einen. der umstand nun, dass sie ihre intime bekanntschaft mit s. „zufällig“ der besten freundin mitteilen konnte, habe jedes weiter gehende interesse in letzterer zum erliegen gebracht. „was hat die ihr wohl gesagt?“ fragt sich freund s. man wird’s nicht erfahren. „deine vergangenheit holt dich immer irgendwie ein“ meint freund s. dann noch. aber egal sei es ihm, was es auch immer gewesen sein mag, dabei verscheucht er alle gedanken daran mit einer weit ausholenden bewegung seines linken arms. heute wird ein schöner tag. wir glauben daran. wir wollen es so.
jetzt geh ich am kalten bach entlang. wie so oft und damals regelmäßig in weit zurück liegenden jahren, wo mir das berggehen viel denkarbeit abgenommen hat. wo ich dort zuhause war wie nirgends sonst. und zufrieden. das ist dahin. zweifellos. freund s. sinniert mitunter wohl in dieselbe richtung, wenn er während wir gehen oder unserer kurzen pausen wiederholt sagt, wie gut dieses in-der-natur-gehen, auf-den-berg-rauf-schnaufen doch tue. und dass er es wieder öfter machen will. dass wir es öfter machen sollen. ich weiß nicht. heute passt’s. heute ist‘s schön. wir glauben daran. wir wollen es so.
im talschluss bauen sich schöne gipfel auf. eine ganze reihe davon durch rinnen und mulden miteinader verbunden, voneinander getrennt. unser auge fällt gleichzeitig auf eine offenbar unbefahrene steilrinne am rechten gipfeleckpfeiler. unserem heutigen ziel. diese rinne wollen wir entjungfern. wir fühlen uns dazu in der lage und in der stimmung. sieht spektakulär aus von unten. den ganzen talweg am bach entlang und dann auch noch die almhänge rauf haben wir die rinne im auge. das soll der heutige höhepunkt werden. da muss einer erst einmal auf die idee kommen, da rein zu fahren! wir fühlen uns stark, mutig, männlich. der gedanke daran hat etwas herzerwärmendes. freund s. ist die zuversicht in person. so kenne ich ihn, so liebe ich ihn. das hat etwas ansteckendes. wir glauben daran. wir wollen es so.
jetzt stehen wir am grat. vor uns die einfahrt in die rinne. viel eingepresster schnee. zweifellos. wenn die lawine geht, dann geht’s schnurstracks in den hades mit einem. aber der schnee und die unsicherheit, ob er halten wird, ist nicht das schlimmste. der schnee ist stabil, wie wir glauben. aber die blöde kuppe da vorn. wo die rinne für unser auge nicht einsichtig offenbar noch einmal an steilheit zulegt. wie steil? und darunter? geht das überhaupt? so ganz klar hat man das von unten nicht sehen können. und jetzt von oben schon gar nicht. verdammt. die ersten zweifel kommen auf. und ärger. wo ist die zuversicht hin. der mumm. die markigen sprüche: „die rinne gehört uns. oder wir ihr! auch egal!“ hab ich noch groß gespuckt vor einer stunde. jetzt wird der rückzug immer wahrscheinlicher. eigentlich wissen wir‘s beide schon. die rinne ist uns über. heute jedenfalls. jetzt klingen die sprüche anders: „man muss es ja nicht grade herausfordern… wird schon einen grund haben, warum da noch keiner rein gefahren ist…“ das scheitern rationalisieren. scheiß drauf. so schlimm ists auch wieder nicht. nein? heute ist trotzdem ein schöner tag. wir glauben daran. wir wollen es so.
und dann unten im tal beim weizenbier in der warmen, holzgetäferten gaststube kommt diese anders nicht zu habende, alles verzeihende müdigkeit, mattigkeit, eine art sehr vorübergehende seligkeit über uns. die belohnung. kein wort mehr von der verpassten steilrinne. schließlich hatten es der hang und der graben darunter auch in sich. lezterer ebenfalls unbefahren. da sind wir hinunter gestochen. feund s. und ich. mit brennenden oberschenkeln und heftig pochenden lungenflügeln. schön ist das. wird es immer sein. dankbarkeit, lust, ein tanzen im schnee, ein vergessen im schnee, ein reinigen durch das eintauchen ins weiß von dem ganzen lebensschmutz, der arbeits- und liebes- und lebensscheiße. aber nichts davon heute! weil heute…
alkohol und nikotin fahren ganz anders ins blut nach so einer pulverschneeorgie. vor einer halben stunde noch diese 1000 nadelstiche in den auftauenden händen und gleich drauf dasselbe in den füßen. saukalt war es gewesen am morgen und saukalt war es jetzt wieder in dieser schattigen rinne. die extremitäten froren ordentlich.
„habt ihr bei euch zuhaus eigentlich auch ein wort für diesen weh, wenn das blut wieder in finger und zehen schießt?“ frage ich freund S. „ja klar: ‚durchnagler‘ sagen wir dazu.“ das triffts hervorragend, denk ich mir. „ist ja schon eine merkwürdige sache, hab ich mir schon öfter gedacht, dass wir da immer wieder durch müssen, durch diesen weh? dass wir ihn vergessen ganz offensichtlich. und deshalb immer wieder neu produzieren? warum wiederholt unser körper das immer wieder? weiß schon: die warnende Funktion des Schmerzes usw. Die Erklärung der physiologen. Aber damit war ich nie zufrieden.“
dieser alt vertraute schmerz. ein schmerz aus kindheitstagen. so wohl bekannt. beinah freundschaftlich heiße ich ihn willkommen. weiß ich doch um die wohltat seines sicheren verschwindens nach kurzer zeit. und dann sind die hände, die füße ganz anders warm: immun gegen weitere kälte. für diesen tag jedenfalls. gestärkt durch den schmerz. aber diese stärke ist nichts bleibendes. sie wird mit diesem tag vergehen. sich vergessen. jede neue kälte wird wieder den ganzen zyklus nach sich ziehen. interessant eigentlich, denke ich: was ist der nutzen daraus? warum muss der körper immer wieder diese lust - unlust - lust abfolge veranstalten? warum vergisst er? warum die erfahrung immer wieder neu machen? wobei das wissen, das dir als kind ganz furchtbar fehlt, dass nämlich die nadelstiche bald vorüber sein werden, dir absolut hilfreich ist beim aushalten des schmerzes. aber ists nicht überall dasselbe irgendwie, denke ich jetzt: beim sex zum beispiel? warum reicht dir nicht die erinnerung an eine unvergessliche nacht? was für ein begriff: die „unvergessliche nacht“? stimmt ja nicht! wär sie unvergessen, müsst ich sie doch nicht zu wiederholen trachten unter größten anstrengungen. das unvergessene würde doch reichen. tut es aber nicht. also ist es vergessen. falsch gedacht? ja vermutlich. nicht zusammenhängend gedacht. das alles sind nicht einzelerfahrungen sondern eine einzige im kontinuum. die sexuelle erfahrung eines menschen ein zusammenhängendes, zirkuläres „geschehen“. eine art periodische, mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrende überkommnis und nicht eine abfolge voneinander unabhängiger einzelner sexueller akte, die nichts miteinander zu tun haben, wie man es zweifellos gewohnterweise denkt. dabei dem vorurteil unterliegend, dass der oder die sexualpartner (was für ein widerliches wort!), dass diese oder jene mehr oder weniger erotisch aufgeladene situation, dass der jeweilige außergewöhnliche ort des geschehens, den entscheidenden unterschied ausmachen würden. das entscheidende (worüber entscheidend? – das wäre auch noch zu denken!), das entscheidende aber ist der umstand, (so habe ich irgendwann zu denken, zu fühlen begonnen – es hat sich unabweislich aufgedrängt) dass dein „sexualleben“, dein liebesleben, ein einziges zusammenhängendes tun ist, bzw. eben vielmehr kein tun, sondern ein überkommen-werden von erfahrung. du nimmst alle erfahrung auf diesem gebiet und damit alle, die du schon im bett hattest und alles, was sich dort zugetragen hat mit in jedes neue bett, mit in jede neue frau, in die du eindringst, mit in jedes neue genießen, die „summe“ (schlechtes wort) wird jedesmal gezogen. aber das beleidigt jede romantische vorstellung von intimer begegnung. und wird deshalb so gut wie nie zugelassen. dabei öffnete sich hier die erotische erfahrung in jene transzendierende dimension, welche die romantische liebe so gern beschwört, während sie sie gerade ausschließt. hier erst käme die bedeutung des oder der menschen mit denen ich sexuelles, erotisches erfahre voll ins spiel: nämlich in der fähigkeit auf den individualanspruch, auf die ausschließlichkeit in diesem erfahren zu verzichten. vielmehr im „wissen“ darum, dass ich diesen menschen, diese menschen immer schon „teile“ bzw. ins positive gewendet: dass ich partizipiere an der ungeheuren erotischen „aufgeladenheit“, an der zusammenhängenden liebeserfahrung aller irgendwie „beteiligten“, aller im moment kraft ihrer ekstatischen fernwirkung anwesenden. das alles geschieht freilich vollkommen unbewusst. bewusstheit würde alles zerstören. tut es das oft genug. das bewusstsein ist dafür nicht geschaffen. bewusst-sein ist schnell gekränkt, beleidigt, verunsichert, verstört – besonders im bett! nur ein mensch dessen unbewusste kraft hinreicht, das sexuelle geschehen in seiner grenzenlosen, ekstatischen dimension hinzunehmen, über sich kommen zu lassen, ist zur großen lust befähigt! insofern also gibt es nichts entscheidenderes als die frage mit wem ich ins bett steige, während es gleichzeitig, wie oben ausgeführt, vollkommen ohne belang ist. das ist das schwindelnde am geheimnis sexuller lust… wo hat mich der schmerz aus kindheitstagen hin geführt? das schweifen-lassen bierseliger gedanken in meinem geist? mein vom alkohol aufgeregtes blut? mein von schneelust ermatteter, alles gewährender geist?
freund s. und ich brauchen uns jetzt nichts zu sagen. wir teilen schweigend eine überaus sprachträchtige erfahrung, die jetzt empfangen wird. und ihr eigenes austragen wird.
heute ist ein schöner tag...