Capo Testa, Sardinien
Und hier jetzt bereits am Abend des ersten Tages bin ich fündig geworden. Sardiniens Herz schlägt an diesem Ort so laut und so stark und so schön, dass es mir um das eigene ganz anders wird. Wir sind beide noch vor einer knappen Stunde am äußersten, im Nordwesten der Insel ins Meer hinausragenden Zipfel, am Capo Testa gesessen. In einer Welt aus Granit als wären wir selbst versteinert im Angesicht der reinsten Schönheit, die mich je angeblickt hat. Auf sonnenwarmem Granit, vor uns weit draußen im Meer die Lichtspenderin, die gerade dabei war baden zu gehen, während hinter uns schon ein prächtiger blasser riesiger Vollmond das Valle della Luna in sein silbriges Licht tauchte. Wir sind beide andächtig und wortlos sitzen geblieben bis das schwindende Tageslicht uns zum Aufbruch gezwungen hat. Mir sind die Tränen gekommen. Ich schämte mich ihrer nicht und verbarg sie auch nicht vor meiner Frau.
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Jetzt sitzen wir in einer kleinen pensione mit dem schönen Namen Bocche di Bonifacio und warten darauf, dass uns die Signora die heute von ihrem Mann frisch gefischte Dorada, alla grigliata selbstverständlich, servieren wird. Die Frittura Mista als Antipasto haben so richtig Appetit auf mehr gemacht. Die erste Halbliter-Karaffe Vermentino ist schon fast zur Gänze in mir verschwunden, eine zweite bereits bestellt. Anna hält sich naturgemäß zurück, kann und will aber doch nicht ganz widerstehen. Ich bin absolut einverstanden damit, wie meine schwangere Frau in dieser heiklen Frage auf völlig unhysterische Weise verfährt. Unserem Baby wird das in keinster Weise schaden. Im Gegenteil wird sich das kleine Wesen bestimmt mit seinem Wirtsorganismus über diesen maßvoll genossenen herrlichen Weißwein freuen. Rigorismus ist uns beiden gleichermaßen fremd. Ein Italienurlaub ohne einen Tropfen Wein? Eine blanke Absurdität, eine cosa bruttissima!
Anna, ich sage dir, dieses Capo Testa ist vielleicht überhaupt der schönste Ort an dem ich jemals gewesen bin.
Echt jetzt? Starke Aussage. Hast das nicht letztes Sylvester auch behauptet als du vor dem Isenheimer Altar in die Knie gegangen bist? Ich kann mich noch gut erinnern…
Also von mir aus, dann sei das hier halt das schönste Stück Natur, das ich je gesehen habe. … Aber vielleicht gerade deshalb, weil die Natur, weil Wind, Regen, Salzwasser hier sich ganz einfach als überragende Künstler zeigen. Zu schweigen von den tektonischen Kräften, die das ganze Material erst einmal ausgeworfen haben! Elementare Naturgewalten, die unglaubliche Kunstformen schaffen. Granitkunstwerke aus reinster Natur! ... Was haben wir da heut nicht alles gesehen und dabei haben wir noch lange nicht alles gesehen! … Da bleibt einem doch das Hirn stehen. Also im besten Sinn jetzt: Bleibt stehen, weil es nicht weiter gehen mag, weil es bei diesen Felsen und Formen erst einmal ankommen möchte.
Ja das ist mir auch so gegangen. Am besten hat mir übrigens der gewaltige Phallus gefallen. Und sag jetzt nicht wieder so großkotzig: Ja, weil du eine Frau bist, als hätt ich nicht gesehen wie du den auch bestaunt hast, den großen Bruder. Ganz klein und ehrfürchtig hast ihn angeschaut!
"Am besten hat mir übrigens der gewaltige Phallus gefallen."
Jaja, schon gut, interessant, was du da wieder alles gesehen hast. Aber die Felsenvulven in allen Größen, Farben und Texturen, in ihrer steinernen Haut! Hast die auch gesehen und angefasst? Die haben für mich den großen Schwanz eindeutig in den Schatten gestellt. Überhaupt: ich muss sagen, dieser Granit hat schon ganz anderes Format als unsere Kalkberge zum Beispiel, so sehr ich die auch liebe. Aber diese Formen und Farben hier, wie sag ich das, die haben noch einmal mehr Gewicht in sich selbst, … sie stehen zueinander nicht in einem so nervösen, fahrigen Verhältnis. Die sind angekommen auf die schönste Art, viel unaufgeregter und gerade deshalb viel aufregender für mich, … ach ich geb‘s auf. … Sind das einfach weiblichere Formen hier vielleicht? Kann man das sagen? Bin ich deshalb so aus dem Häuschen? … Wir müssen morgen noch einmal hin! Ich möchte die ganze Halbinsel an der Küste entlang umrunden. Ich denk so in drei, vier Stunden müsst das zu schaffen sein. … Dann kommen wir halt etwas später in Castelsardo an. Und unterwegs geht sich immer noch ein kleiner Abstecher zur Costa Paradiso aus. Ich geh nämlich morgen schwimmen ins Meer, das wär ja gelacht.
Ich liebe dich, du Wichtigtuer und Großmaul! Na die Italiener werden dich jedenfalls frei weg für verrückt erklären, wenn du morgen ins kalte Wasser tauchst, … ah unser Fisch! Sieht der nicht köstlich aus? Glaubst du unser Baby und ich schaffen diese Monstertour die ganze Küste entlang überhaupt? Ich bin ja keineswegs abgeneigt, aber was ich nicht brauch, ist ein Härtetest, das siehst du doch ein?
Das schafft ihr locker. Es ist flach, es ist nicht heiß, es ist wunderschön und wir werden genügend Pausen machen. Außerdem können wir dann ja zu Mittag noch einmal bei unserer Signora speisen, die macht doch auch pranzo?
Anna fragt die Signora ob sie auch zu Mittag kocht und bekommt ein freundliches und freudiges si, si naturalmente zur Antwort. Die Signora spricht mit diesem „Frauenbass“, wie er mir so typisch scheint für ihren Berufsstand. Die italienischen Wirtinnen haben alle diese sonore, tiefe Stimme. Das gefällt mir. Auch weil sie den trällernden Kopfstimmen ihrer weiblichen Landsleute, wie sie mich oft maßlos nerven, etwas geradezu Spanisches entgegen halten. Ja, die spanischen Frauen sprechen alle so wie in Italien offenbar nur selbstbewusste Signoras. Diese hier gibt einen Prototyp davon ab. Nichts von übertriebener Zuvorkommenheit, der eigenen Kochkünste sich bewusst, jederzeit bereit, das dafür nur angemessene Lob in großer Selbstverständlichkeit einzustreichen. So früh im Jahr ist sie freilich um jeden zahlenden Gast froh. Dieses Ehepaar aus Austria, molto simpatico e attrativo, weiß aber auch, wie man in Italien anständig tafelt und lässt sich das entsprechend etwas kosten. Noch dazu spricht die wunderschöne Signora perfektes Italienisch, was automatisch fette Pluspunkte einbringt. Ja, Anna geht locker als Festlanditalienerin durch, abgesehen vielleicht davon, dass auch ihr gesprochenes Italienisch sich nicht in den landesüblichen Frauenfalsett versteigt. Aber den Sarden ist eine italienisch sprechende Österreicherin als Gast wahrscheinlich ohnehin willkommener als eine „Landsfrau“. Festlanditalien hat Sardinien nie besonders gut behandelt, um das einmal euphemistisch auszudrücken. Letztlich sind die Italiener bis auf den heutigen Tag für viele Sarden nur die historisch gesehen jüngsten in einer langen Reihe von Ausbeutern. „Nur Diebe kommen übers Meer“ geht seit Jahrhunderten das Wort in diesem Hirtenvolk. Das gilt auch für die Landsleute von der Apenninhalbinsel. Punier, Römer, Byzantiner, Araber, Pisaner, Katalanen, Österreicher, Piemonteser und jetzt halt Italiener: wo liegt da der große Unterschied?
Der nächste Morgen sieht uns schon früh am Capo Testa. Die Umrundung entlang der Küste erweist sich als unschwierig und von fast schon beängstigender, nicht zu bewältigender Schönheit. Immer wieder erklettere ich sich dafür anbietende Granitskulpturen. Haptik und Optik wetteifern um den stärksten Eindruck. Anna genießt dieses granitene Flanieren gleich dreifach. Für sich selbst, ihre Leibesfrucht und für dieses große Kind da, ihren Mann, der sich nicht genug tun kann in seiner bubenhaften Freude. Nie, sagt sie, sei ich ihr so lieb als in dieser selbstvergessenen Hingabe an die Schönheit, die mir meine abgründige Melancholie abstreife wie eine Schlangenhaut. Nie aber auch, so fühle ich, ist sie tief drinnen trauriger für mich, ihren Mann, im Wissen, dass mich auch diese Schönheit wieder verlassen wird und stehen lassen mit stets leereren Händen, je voller ich in die Schönheit hinein gegriffen habe. Anna selbst ist immun gegen diese Art Traurigkeit. Sie ist eine besonnene Sammlerin in jeder Hinsicht. Der Überschwang ihre Sache nicht. Aber gerne schwingt sie ein bisschen mit. Hängt sich mir als Gewicht und Gegengewicht auf die gesündeste Art an.
...von fast schon beängstigender, nicht zu bewältigender Schönheit
Jetzt stehen wir vor einem dieser riesigen Monolithe mit der wunderbar warmen, rauhen und also kletterfreundlichen Oberfläche. Der Granitbrocken hat annähernd die Form eines Quaders. Tiefe parallel in Nord-Süd-Richtung verlaufende Einschnitte durchfurchen ihn. Diese Minitäler von mehreren Metern Tiefe kann man mit einem beherzten Schritt oder einem kleinen Sprung problemlos überwinden. Der ganze Block mag gut sieben Meter hoch sein, die Kantenlänge mehr als das Doppelte davon. Er ruht auf einem Felsvorsprung, der gegen Osten über vielleicht dreißig, fünfunddreißig Meter annähernd senkrecht ins Meer hin abbricht, während er gegen Norden zu sich Zeit nimmt und sanft in dieses hinab fällt. Südseitig kann man den Block dank einer Art natürlicher, gewundener Treppe relativ leicht ersteigen.
Ich helfe Anna über zwei drei schwierigere, weil ausgesetzte Passagen hinauf. Jetzt ist sie oben auf einer leicht abgeschrägten Plattform angekommen und legt sich in eine kleine Kuhle, die wie für sie gemacht scheint, ihre Rundungen noch runder macht, sie mütterlich aufnimmt. Anna lässt sich die noch morgenfrische Sonne auf ihren kaum noch sichtbaren Babybauch scheinen. Ihr Blick geht gegen Norden auf das ruhige Meer und weiter gegen die gut sichtbare korsische Steilküste bei San Bonifacio. Meine Augen ruhen auf meiner jetzt nackten Frau. Auch ich habe sich ausgezogen. Wir sind zu dieser frühen Stunde vollkommen allein in diesem granitenen Garten Eden.
Wärmt die Sonne im Aufgang deinen Granit Sardinien/ Musst neue Söhne du gebären
Diesen wunderschönen Satz habe ich noch zu Hause irgendwo gelesen. Jetzt fällt er mir ein. Wird Anna meinen dritten Sohn, oder meine dritte Tochter gebären? Es ist mir einerlei. Mein Auge auf meiner nackten Frau jetzt hier. Aber es steigt kein Begehren in mir hoch. Wie könnte ich sie aus dieser sie vollkommen umhüllenden steinernen Mütterlichkeit heraus reißen! Mein Begehren kann warten. Es wird sich früh genug aufrichten und auf das ihre treffen. Hier auf dieser Insel mit ihren über die ganze Fläche verteilten 7000 aufgerichteten Steintürmen, den berühmten Nuraghen! Namensgeber und Überbleibsel einer vollkommen eigenständigen, uralten, rätselhaften Kultur. Diese aufgetürmten Phalloi, wie sie dem Auge urplötzlich aus der Landschaft empor schießen während der Fahrt, entzücken Anna und mich gleichermaßen. Ja, unser Begehren wird sich auch an diesen entzünden.
Nuraghen: Diese aufgetürmten Phalloi, wie sie dem Auge urplötzlich aus der Landschaft empor schießen
Diese Insel mit ihren kurvenreichen Straßen ist eine einzige sexuelle Stimulation, Aufforderung, Verführung schon vom Auto aus. Straßen die sich durch kupierte Landschaft schlängeln, von Korkeichenwäldern geschluckt und wieder ausgespuckt, Täler genüsslich durchstreifen und auf Anhöhen hinauf tragen, wo der Blick sich nicht satt sehen kann an dieser unkultivierten Kultiviertheit, wie sie Legionen von Schafen und Ziegen in Jahrtausenden mit ihren fleißigen Mäulern und Mägen aus diesem widerborstigen Land heraus gefressen haben.
Und immer wieder diese Nuraghen! „Schau, da schon wieder!“ rufe bald ich, bald meine Frau und zeigen dabei mit ausgestrecktem Arm und aufgerissenen Augen in Richtung der nächsten steinernen Erektion. Und es überrascht mich also nicht als Anna schließlich ihren Arm zu mir hin ausstreckt, um meinen Nuraghen zu suchen. Sie findet ihn schnell und stellt ihn zu all den anderen, die wir heute schon gesehen haben in Beziehung. Und zu allen, die wir übersehen haben mochten und die wir noch sehen und übersehen würden in diesen Tagen. Und als ihr kundiger Mund über meinen Turm sich stülpt, da kommt diesen die Kraft von 7000 Brüdern und 3500 Jahren an, die jene schon standhaft geblieben sind. 3500 Jahre und eine kleine Ewigkeit dazu scheint mir dieser Mund jetzt auch zu brauchen für seine Erkundungen bis mein Turm diesen nicht länger standhalten kann und zuckend in sich zusammen bricht.