"Wir lernen, damit zu leben, dass wir keine Lösung wissen."

Wen treiben nicht die schrecklichen Nachrichten und Bilder von der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer um? Wer sucht nicht nach Antworten, wie "wir" in Europa reagieren sollen, wirksam helfen können, Vernunft und Menschlichkeit zur Deckung bringen. "Qudiqid agis, prudenter agas et respice finem" ist mir seit Jahrzehnten ein Lebensmotto: "Was du auch machst, tue es klug und denke daran, wohin es führt." Eine befriedigende Antwort fand ich bisher nicht. Aber den folgenden Artikel des Politikwissenschaftlers Peter Graf Kielmansegg im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er versucht „zu Ende zu denken, was zu Ende gedacht werden muss“. Klügeres habe ich bisher zum Thema nicht gelesen.

Was Empörung ignoriert

Von Peter Graf Kielmansegg

Dass das Sterben im Mittelmeer einen – mit Max Weber gesprochen – gesinnungsethischen Aufschrei auslöst, kann und muss jeder verstehen. Aber der Aufschrei moralischer Empörung über Europas Versagen angesichts der Flüchtlingstragödie ist als Empörungsschrei nur möglich, weil er es sich erspart, zu Ende zu denken, was zu Ende gedacht werden muss. Denkt man die Herausforderung, vor der Europa steht, zu Ende, so ist das Ergebnis unweigerlich zunächst einmal politische und moralische Ratlosigkeit. Wir haben keine angemessene Antwort auf das, was sich da ereignet. Die Empörung ignoriert das. Und sie macht sich ein gutes Gewissen, indem sie anderen ein schlechtes macht.

Die Ratlosigkeit hat viele Aspekte. Sie beginnt mit der Einsicht, dass es nur einen Weg gibt, Flüchtlingstragödien im Mittelmeer verlässlich zu verhindern. Europa müsste seine Grenzen für den Zustrom von Migranten aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten vorbehaltlos öffnen und müsste dazu auch noch für sicheren und einem jeden erschwinglichen Transfer nach Europa Sorge tragen. Wer das für geboten hält, soll es sagen und dazu stehen. Jede Art der Begrenzung legaler Einwanderung, jede Art der Begrenzung des Asylrechtes, jede Art der Eingrenzung der Nothilfe für Flüchtlinge aus Krisengebieten wird, welche Zulassungskriterien auch immer man wählt, Hunderttausende ausschließen. Sie werden sich dennoch auf den Weg machen. Und wenn wir sie nicht mit Fähren abholen, werden sie sich den Verbrechern, die das Schleusergeschäft betreiben, anvertrauen.

Aber können wir die Grenzen, weil es sich so verhält, vorbehaltlos öffnen? Die Frage ist auch schon die Antwort. Man schätzt, dass mehr als 95 Prozent aller afrikanischen Migranten in Afrika selbst wandern, in Länder, in denen sie Arbeit zu finden hoffen. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass ein großer Teil von ihnen – und das wären Millionen – sich nach Europa aufmachen würde, wenn Europa die Tore wirklich öffnete. Was also tun? Wir können ja nicht einmal verhindern, dass ein Seenotrettungswesen auf den Überfahrtrouten ein Dilemma erzeugt: Je wirksamer es ist, desto mehr Menschen wird es verleiten, sich auf den gefährlichen Weg zu machen. Wäre es da nicht folgerichtiger, die Menschen, statt sie aus dem Wasser zu ziehen, gleich in den Häfen der Mittelmeerküste abzuholen?

Man müsse auf die Herkunftsländer einwirken, heißt es. Aber wieder löst sich der Rat beim Nachdenken in Ratlosigkeit auf. Die Flüchtlinge kommen zu einem großen Teil aus Krisenregionen, in denen Krieg geführt wird, in denen Staatlichkeit, wenn es sie denn jemals gab, zerfallen ist. Wie lassen sich durch Einwirkung von außen solche Kriege beenden? Wie kann man von außen her eine auch nur im Elementaren funktionsfähige Staatlichkeit aufbauen? Alle Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat uns, von Somalia bis Afghanistan, gelehrt, dass eine dauerhafte Stabilisierung der Verhältnisse von Mächten, die von außen ins Land hineinwirken, nicht herbeigeführt werden kann. Zumal militärische Interventionen haben sich in ihren Folgen als unberechenbar erwiesen. Gewiss ist nur: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Chaos führen, ist sehr viel größer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie Chaos in Stabilität verwandeln. So ist es nicht verwunderlich, dass Kritiker Europas Interventionen gleichermaßen fordern und verurteilen. Durch die Intervention im Irak sei der Westen mitschuldig geworden am Chaos im Nahen Osten, heißt es, durch die Nichtintervention in Syrien aber genauso.

Ist vielleicht verstärkte Entwicklungshilfe im traditionellen Verständnis die Lösung? Kaum ein Entwicklungsökonom ist der Ansicht, dass die Hunderte von Milliarden, die in die Entwicklungsländer geflossen sind, einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Lebenschancen in diesen Ländern geleistet hätten. Dass mit einem Mehr an Entwicklungshilfe, was immer sonst dafür sprechen mag, in den Fluchtländern und Fluchtregionen in überschaubaren Zeiträumen Verhältnisse geschaffen werden könnten, die wirksam zum Bleiben einladen, ist nach aller Erfahrung reines Wunschdenken. Ganz abgesehen davon, dass ja gerade in den Räumen der Gewalt und der Anarchie gar keine Entwicklungshilfe geleistet werden kann.

Wir haben, heißt das, keinen wirklichen Zugriff auf die Gegebenheiten, die die dramatische Migrationsbewegung verursachen. Und eben weil es so ist, wird Europa zum Prügelknaben. Die Machthaber Afrikas fragt niemand, warum dieser Kontinent notorisch außerstande ist, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Aber dass den Schleuserbanden das Handwerk zu legen sei, das jedenfalls müsse doch offensichtlich sein. Gewiss, es ist offensichtlich, dass man es versuchen muss. Aber auch hier ist die Frage „Wie?“ nicht beantwortbar. Der Krieg gegen den Drogenhandel lehrt uns: Wo Milliardengewinne locken, sind die kriminelle Energie und der kriminelle Erfindungsgeist dem, was rechtsstaatlich verfasste, in ihren Handlungsmöglichkeiten territorial eingegrenzte Demokratien tun können, immer ein Stück voraus. Womit der Zirkel der Argumentation wieder von vorn beginnen kann.

Ratlosigkeit also, wo immer man gedanklich ansetzt. Aber was hilft es, sich das einzugestehen? Wir müssen ja handeln. Und wie meistens ist auch hier das Nichtstun eine Art des Handelns. In der Tat: Wir können nicht in der Ratlosigkeit verharren. Aber es hat Folgen, wenn wir sie uns eingestehen, sie uns gegenseitig zugestehen. Sich die Ratlosigkeit einzugestehen bedeutet zunächst einmal, dass wir in den unvermeidlichen Kontroversen über das gebotene Handeln anders miteinander umgehen. Niemand kann über jemanden, der aus Ratlosigkeit andere Schlüsse zieht, vom hohen Ross moralischer Gewissheit herab urteilen. Das ist keine Nebensächlichkeit. Die Art, wie wir dergleichen Debatten führen, ist für die politische Kultur unseres Gemeinwesens bedeutsam.

Sich die Ratlosigkeit einzugestehen bedeutet zweitens: Wir lernen, damit zu leben, dass wir keine Lösung wissen. Wir können nur mit Fragmenten einer Antwort hantieren, die sich auch in ihrer Summe nicht entfernt als Lösung des Problems präsentieren lassen. Das ist besonders wichtig im Verhältnis zwischen den Bürgern, die mit ihrem Urteil über die politische Klasse so schnell fertig sind, und den Politikern, die Entscheidungen, welche allesamt nur unzulänglich sein können, treffen müssen.

Sich die Ratlosigkeit einzugestehen bedeutet drittens, dass wir anders über das, was zu tun möglich und nötig ist, nachdenken; nicht in der Gewissheit, die mit der Empörung immer einhergeht, sondern suchend, in klarem Bewusstsein des Bruchstückhaften aller Bemühungen. Es ist wahrscheinlich, dass wir mit dieser Haltung einer Antwort am Ende näher kommen als mit der Empörung über die Unmoral Europas.

Peter Graf Kielmansegg, geboren 1937, lehrte bis zu seiner Emeritierung Politikwissenschaften in Mannheim.

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