Wie halten Sie es eigentlich mit den Ergebnissen von Nationalratswahlen, Herr Kandidat?

Egal, wer von den beiden Kandidaten am Sonntag zum Bundespräsident der Republik Österreich gewählt wird: Beide haben in Interviews ein etwas eigenartiges Verständnis zum Ausdruck gebracht, wie mit demokratisch erzielten Wahlergebnissen umzugehen ist. Das ist alles andere als unbedenklich.

So würde der eine Kandidat einen bestimmten Fraktionsführer einer bestimmten Partei nicht als Bundeskanzler angeloben, weil dieser und/oder dessen Partei einen anti-europäischen Kurs verfolgen. Dass diese Partei womöglich gerade deshalb einen Wahlerfolg in Form einer relativen Mehrheit erzielen könnte, müsste in einem solchen Fall vom Staatsoberhaupt wohl ignoriert werden. Das Argument, dass der gewählte Bundespräsident bei seiner Wahl ja mehr Zustimmung erfährt, zählt nicht. Der Umstand, dass der Bundespräsident nur mit einer absoluten Mehrheit gewählt werden kann, verdankt sich ja nicht der Sympathie des Amtsträgers, sondern einfachster Arithmetik: Wenn in einer Stichwahl nur zwei Kandidaten antreten, bedeutet das doch automatisch 50%+ für den Sieger. Daraus allerdings abzuleiten, dass man Wahlergebnisse zum Nationalrat uminterpretieren darf, setzt schon eine Sichtweise voraus, nach welcher man meint, die WählerInnen bevormunden zu müssen.

Der andere Kandidat wiederum würde zwar jeden Fraktionsführer einer stärksten Partei nach einer Nationalratswahl mit der Regierungsbildung betrauen, aber für eine etwaige Entlassung einer Bundesregierung nicht die nächsten Nationalratswahlen abwarten, falls die Regierung, vom Standpunkt des Bundespräsidenten aus gesehen, gegen die Interessen Österreichs handeln würde. Was genau diese Interessen wären, wüsste im Sinne einer unfehlbaren Instanz natürlich das Staatsoberhaupt am allerbesten. Warum eine Bundesregierung überhaupt gegen das eigene Volk regieren sollte, ist genauso unerklärlich, wie der Umstand, warum ein Bundeskanzler ein Staatsfeind oder eben auch kein Staatsfreund sein sollte – das ist dann wohl doch etwas zu kompliziert für das Bierzelt. Dass sich Mehrheitsverhältnisse im Parlament aufgrund demokratischer Wahlen ergeben und es eigentlich Aufgabe des Volkes ist, eine Regierung in Form einer Abwahl zu entlassen, wird bei dieser Vorgehensweise übergangen.

In beiden Szenarien erhebt sich die Gretchenfrage:

Wie halten Sie es eigentlich mit den Ergebnissen von Nationalratswahlen, Herr Kandidat?

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 21.05.2016 17:46:40

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