Quelle: ESPN
Eine der aus sportlicher Sicht dramatischsten Szenen in der Geschichte der Olympischen Spiele ereignete sich 1908, als der Marathonläufer Dorando Pietri mit großem Vorsprung in das Londoner White-City-Stadion einlief. Der Italiener war mit seiner Kraft am Ende und taumelte zuerst orientierungslos in die falsche Richtung. Zurück auf der Laufbahn brach er dann mehrmals zusammen. Kampfrichter und Ärzte halfen ihm schließlich über die Ziellinie. Damit war ihm allerdings nicht wirklich geholfen, denn die US-Amerikaner legten zugunsten ihres zweitplatzierten Läufers Protest ein. Pietri wurde der sportliche Erfolg aberkannt und er wurde disqualifiziert.
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Standen zu Beginn der ersten Olympischen Spiele im antiken Griechenland noch die Götterverehrung und die Völkerverständigung im Vordergrund, geht es heute leider fast ausschließlich um wirtschaftliche sowie politische Interessen. Somit schwindet der Glanz sportlicher Großereignisse immer mehr. Allerdings lassen sich nur noch wenige Informierte von Werbe- und Marketingstrategien einwickeln. Ganz langsam, aber immer öfter, kommen zeitgleich die brutalen Auswirkungen auf und Menschenrechtsverletzungen an der lokalen Bevölkerung zum Vorschein. So auch in Rio de Janeiro, der Stadt am Zuckerhut und Austragungsort der Olympischen Spiele in zwei Jahren. Die Vorbereitungszeiten – der vor wenigen Monaten zu Ende gegangenen Fußball-WM sowie der bevorstehenden Olympischen Spiele – sind gezeichnet von einer „sozialen Säuberung”, organisiert von politischen Kräften in Zusammenarbeit mit Auftraggebern und Investoren. Es geht um Immobilienspekulationen und Renditen in Millionenhöhe, begleitet von unverantwortlichen und meist gewalttätigen Räumungsaktionen mithilfe lokaler Polizeieinheiten.
Wie nahe hier Freud und Leid zusammenhängen, zeigt der Fall des jungen Ravel Mendonça, eine der großen Nachwuchs-Hoffnungen der brasilianischen Beachvolleyball-Mannschaft. Als er zu Beginn dieses Jahres im Trainingslager war, rechnete er keineswegs damit, dass sein Elternhaus in der Zwischenzeit dem Erdboden gleichgemacht werden würde. Die Ratlosigkeit steht Ravel ins Gesicht geschrieben: „ Ich habe nichts mehr erkannt. Nach meiner Rückkehr wusste ich nicht mehr, wo ich bin.” Ravel wohnte mit seinen Eltern und zwei Brüdern im Stadtviertel Largo do Tanque, em Jacarepaguá, im Westen von Rio in einem einfachen Haus. Sein Vater hat das Grundstück vor sieben Jahren gekauft, doch nun soll dort die Verbindungsstraße Transcarioca gebaut werden. Plötzlich standen Vertreter der Gemeindebehörden da und beschimpften die Mendonças als Invasoren: „Das hier gehört der Gemeinde, ihr dürft hier nicht bleiben. Das hier gehört nicht Euch. Ihr müsst gehen, ohne Widerrede“, erzählt Rosinaldo Mendonça, der Vater von Ravel. Eingeschüchtert von Androhungen und aus Angst vor Zwangsräumung zogen viele Menschen aus dem Viertel weg. Die Familie von Ravel setzte sich allerdings zur Wehr und wollte ihr Hab und Gut nicht einfach zurücklassen. Die Gemeinde setzte die Mendonças erneut unter Druck und unterstellte ihnen, dass sie die Berühmtheit ihres Sohnes ausnutzen würden. Dennoch: Die Familie blieb noch mehr als einen Monat und musste mitansehen, wie sich das Stadtviertel in eine große Baustelle mit Unmengen an Schutt und Abbruchmaterial verwandelte. Erst als der Lärm der Baumaschinen zu groß wurde und der aufgewirbelte Staub zu Atemwegserkrankungen führte, verließen auch sie den Stadtteil. Den Mendonças wurde eine Entschädigung in Höhe von 13.000 Euro angeboten. Damit können sie aber nirgendwo einen Neuanfang wagen.
Foto: Paula Paiva
Ravel und seine Familie sind allerdings bei weitem nicht die einzigen Betroffenen. In der Vila União de Curicica sollen in den kommenden Monaten insgesamt 876 Familien zwangsumgesiedelt werden. Bis 2012 war dieses Viertel noch im Urbanisierungsplan Morar Carioca der Stadtverwaltung zu finden. Das bedeutet, dass Vila União de Curicica als Stadtviertel anerkannt war und ursprünglich nie abgerissen werden sollte. Es sollte bis vor Kurzem sogar noch öffentliche Gelder für Verbesserungen erhalten. Heute stehen die Familien dort jedoch vor dem Verlust ihres gesamten Vermögens. Viele Häuser der Anrainer wurden mit den drei Buchstaben „SMH” – den Initialendes Secretaria Municipal de Habitação, also des Gemeindebausekretariats – gekennzeichnet. „Es ging alles ganz schnell und kam sehr überraschend für uns”, erzählt ein Bewohner des Viertels der Anrainer. „Sie [die Gemeindebeauftragten, d. A.]) kamen und erklärten uns, dass sich für uns alles verbessern würde. Aber das Gegenteil ist der Fall”, lässt er seinem Unmut freien Lauf. Bereits seit 30 Jahren leben viele von ihnen hier in diesem Viertel, und nun soll die BRT TransOlímpica – eine der wichtigsten Verbindungsstraßen zwischen dem Austragungsort der Olympischen Spiele und dem Olympischen Dorf – über ihre Köpfe hinweg gebaut werden. Die Gemeinde bietet ihnen im Gegenzug inakzeptabel kleine Apartmentwohnungen in Wohnblöcken in einem Randbezirk von Rio an Es wäre die größte Räumung einer Favela seit dem Jahr 2009.
Aber nicht nur neue Zufahrtsstraßen beunruhigen derzeit die Bewohner der Stadt. Dem Sportsender ESPN zufolge wird derzeit fleißig an einer neuen olympischen Golfplatzanlage inmitten eines Naturschutzgebietes gebaut. Die Bürgerbewegung Golfe para quem („Golfspielen für wen“) hat bereits gerichtliche Schritte angekündigt. „Hinter den schönen Bildern, die sie uns zeigen, läuft vieles falsch”, sagt der Rechtsanwalt Jean Carlos Novaes, den Golfe para quem engagiert hat. Die Anlage eines Golfplatzes inmitten eines Naherholungsgebietes grenze an Landraub, ist sich der Rechtsvertreter sicher.
Wie es scheint, konnten die größten öffentlichen Proteste der vergangenen 20 Jahre während der Vorbereitungszeit zu den Großsportereignissen Fußball-WM und Olympische Spiele die Behörden und Stadtverwaltung bisher nicht zu einem Umdenken bewegen. Auch die damit verbundenen internationalen Negativ-Schlagzeilen für Brasilien scheinen es nicht bis in die langen eintönigen politischen Korridore geschafft zu haben.
Unzähligen Familien droht in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele die Umsiedlung. Bereits 19.000 Menschen mussten im Zuge der Fußball-WM ihr Zuhause verlassen. Viele von ihnen warten übrigens bis heute noch vergeblich auf versprochene Abfindungen oder Wiedergutmachungen. Keiner der Verantwortlichen hat ihnen – im Gegensatz zu dem italienischen Marathonläufer Dorando Pietri, dem damals Kampfrichter und Ärzte beigestanden haben – bisher unter die Arme gegriffen.