Elisa Ludwig von Políticas im Gespräch mit Eva Kern (Don Bosco Flüchtlingswerk) und Herbert Langthaler (asylkoordination Österreich), über die dramatische Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Österreich, die UN-Kinderrechtskonvention und den Mangel staatlicher Verantwortungsübernahme.

Políticas: Zur Zeit befinden sich immer noch hunderte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Massenlagern wie Traiskirchen in Österreich. Wie viele sind es aktuell, beispielsweise im eben angesprochenen Traiskirchen?

Kern: Derzeit ist die Situation sehr kritisch. Es sind mehr als 1000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die sich in dem Lager befinden und keinen Zugang zu adäquater Betreuung haben. Und das, obwohl Österreich vor 25 Jahren die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben hat. Erst letzten November feierten wir diese Ratifizierung. Damit genießen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Kinder diese Rechte zwar theoretisch, praktisch sieht es aber anders aus. Gerade in diesen Massenlagern ist die Situation für sie sehr schwierig. Minderjährige haben in solchen Lagern einfach nichts verloren.

Langthaler: Anfang der Woche fand zudem ein trauriger Höhepunkt in Traiskirchen statt, da Jugendliche gar nicht mehr aufgenommen werden konnten. Das ist ein untragbarer Zustand, weil die Minderjährigen dann mehrmals die Quartiere wechseln müssen. Kürzlich habe ich erst mit einem Jungen gesprochen, der von Traiskirchen nach Erdberg verlegt worden ist und daraufhin gleich wieder nach Klosterneuburg geschoben wurde – das ist noch dazu ein Massenquartier, das Ende der Woche wieder geschlossen wird. Das heißt er wird dort auch wieder weg müssen. Es steckt leider sehr wenig Planung und Konzept hinter dem Ganzen.

Políticas: Seit wann sind die Kinder dort untergebracht und wie geht es ihnen dort?

Kern: Vom System her werden sie natürlich laufend aufgenommen und je nach politischer Lage in den Heimatländern, kommen mehr oder weniger Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern nach Österreich.

Langthaler: Zur Zeit spitzt sich die Situation jedoch dramatisch zu, weil die Kinder und Jugendlichen oftmals viel zu lange dort bleiben müssen, auch monatelang. Im Moment führt die heillose Überbelegung dazu, dass sie laut ihren eigenen Berichten, teilweise kein Essen bekommen beziehungsweise stundenlang in der Schlange darauf warten müssen. Jugendliche haben mir erzählt, dass es in den Massenlagern einfach nichts zu tun gibt, sie dort tagein tagaus in Ungewissheit warten müssen, was als nächstes passiert. Sie berichten davon, wie voll die Lager sind, dass unzählige Menschen dort sind, die sie zum Großteil nicht verstehen, da sie ja der Sprache nicht mächtig sind. Sie beschreiben auch ihr Allein-Sein und die Ängste, die sie durchmachen – nicht zu wissen, was mit einem geschehen wird, ist für jede*n ein untragbarer Zustand. Erst recht für Kinder und Jugendliche. Sehr viel dringt aber nicht nach Außen, die Betreuer*innen von der in Traiskirchen beschäftigten Betreuungsfirma ORS dürfen gar keine Auskünfte geben, da sie eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben haben.

Políticas: Wie kann man sich das Aufnahmeprozedere von Minderjährigen vorstellen?

Kern: Zuerst werden sie in die Erstaufnahmestellen gebracht. Dann wird festgestellt, wo sie herkommen und ob sie einen Erstantrag gestellt haben. Bei Erwachsenen ist es nach der Dublin-Verordnung so, dass sie – falls sie bereits in einem anderen Land diesen Erstantrag auf Aufenthalt gestellt haben – wieder in dieses Land zurückgeschickt werden. Bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren gilt das nicht, sie dürfen da bleiben. Deshalb wird aber genau geprüft, ob sie tatsächlich unter 18 Jahre alt sind. Dafür werden unterschiedlichste Verfahren angewendet und je nach Möglichkeit zur Weitervermittlung, ist ihre Aufenthaltsdauer in den Massenlagern unterschiedlich lang. Von den Erstaufnahmelagern werden sie dann an eine Grundversorgungseinrichtung oder eine MA11-Einrichtung weitervermittelt. Dann kommen eben NGOs wie wir ins Spiel. Meiner Information nach sind aber viele Kinder und Jugendliche schon mehrere Monate lang in den Massenlagern und derweil gibt es keine sichere Perspektive für sie.

Langthaler: Die erwähnten Feststellungsverfahren zum Alter der Betroffenen sind an sich schon ein Wahnsinn. Die Jugendlichen werden mit Bussen nach Graz und Linz gekarrt, um diese Verfahren durchzuführen. Dabei kommt ein verschwindend geringer Prozentsatz derjenigen raus, die tatsächlich schon 18 sein sollen – wobei auch das Feststellungsprozedere an sich zu hinterfragen wäre. Man macht jedenfalls dieses totale Theater, obwohl ganz offensichtlich ist, dass die Kinder und Jugendlichen noch nicht volljährig sind (↓).

Políticas: Die Landeshauptleute haben dazu angekündigt, dass sie bis zum Sommer Quartiere bereit stellen wollen, um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge weitervermitteln zu können?

Kern: Ja, diese Ankündigung gibt es zwar, aber uns sind keine konkreten Schritte bekannt. Wir wünschen uns sehr, dass diesen Worten auch Taten folgen werden. Die Betreuungseinrichtungen gibt es derweil aber noch nicht. Problematisch ist auch, dass unter diesen Rahmenbedingungen alles auf NGOs abgewälzt wird, die alle Vorbereitungen zu treffen haben, wie z.B. die passenden Immobilien zu suchen. Es braucht dazu langwierige Überprüfungen von verschiedenen Stellen und all das nimmt mehrere Monate in Anspruch. Finanzielle Unterstützung in Form der Tagessätze bekommt man dann aber erst, wenn die Jugendlichen bereits real dort wohnen. Es bräuchte also dringend die Unterstützung von Bund und Länder für die NGOs, die diese Betreuungsplätze aufbauen. Letztendlich sind wiederum die Kinder und Jugendlichen die Leidtragenden der mangelnden staatlichen Verantwortungsübernahme.

Langthaler: Und SOS Kinderdorf hat beispielsweise 100 Quartiere geschaffen, dafür werden sie eine Million Euro aus Spendengeldern zuschießen können. Nicht so reiche NGOs wie die Kinderdörfer, Caritas oder die Diakonie haben dazu aber gar nicht die finanziellen Mittel. Das heißt es handelt sich um einen absoluten Notfall, man müsste Geld in die Hand nehmen und normale Heime für die Jugendlichen öffnen, denen man dann mit dem üblichen Tagessatz eine kindgerechte Betreuung garantiert. Möglichkeit gibt es also, aber die Umsetzung scheitert. Ideen wie jenes der Zeltlager der Bundesministerin Mikl-Leitner sind in diesem Zusammenhang aber völlig abstrus, sie war an dem Tag (Anm. d. Red.: 14. Mai 2015) für die Medien diesbezüglich auch nicht erreichbar. Dann sollte sie aber nicht an einem Feiertag solche Sachen vom Zaun brechen.

Políticas: Wie hoch sind die zugesprochenen Tagessätze?

Kern: Sehr niedrig, der absolute Höchstsatz liegt bei € 77,- pro Tag, und das obwohl es sich um eine sehr personalintensive Arbeit handelt. Man braucht Betreuer*innen, die 24 Stunden zur Verfügung stehen, die als Sozialpädagog*innen und Psycholog*innen auch ein gewisses Einkommen beziehen. Man braucht Immobilien, die kosten. Hinzu kommen fundamentale Lebenskosten und darüber hinaus noch die benötigten Ausbildungsmittel für Deutschkurse, Basisbildungskurse und so weiter. Es gibt zwar ein Ausbildungskontingent über den Tagessatz hinaus, das reicht aber nicht aus, um eine Sprache gut zu lernen. Demgegenüber beginnt (!) der Tagessatz der Kinder- und Jugendhilfe für Minderjährige mit österreichischer Staatsbürgerschaft bei € 120,-, was zeigt, dass da einfach mit zweierlei Maß gemessen wird. Eigentlich hätten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ja einen höheren Bedarf, aber das Mindestmaß müsste sein, sie gemäß der Kinderrechtskonvention zu behandeln. Österreich hat mit der Ratifizierung auch unterschrieben, dass alle Kinder gleich sind. In der Praxis erleben wir jedoch etwas anderes, in erster Linie werden diese Kinder als Flüchtlinge betrachtet und erst in zweiter Linie als Kinder wahrgenommen. Das darf so nicht weitergehen.

Langthaler: € 77,- sind tatsächlich einfach viel zu wenig, und das ist der Maximalbetrag – es geht auch noch niedriger. In der Steiermark sind sie beispielsweise überhaupt nicht bereit, mehr als € 62,- zu bezahlen und die Caritas gleicht dann wieder finanziell aus. Das ist keine gangbare Lösung.

Políticas: Es handelt sich zum Großteil ja um schwer traumatisierte Kinder. Gibt es in den Massenlagern eine Form der psychologischen Betreuung und irgendwelche Beschäftigungsmöglichkeiten?

Kern: Prinzipiell haben sie das Recht, zur Schule zu gehen und/oder Kurse zu besuchen. Das Bildungskontingent reicht aber wie gesagt dafür nicht aus, um wirklich Bildung zu erfahren oder um die Sprache zu lernen. Es gibt eine Beschäftigungsmöglichkeit, nämlich jene zur gemeinnützigen Arbeit, wofür sie auch eine marginale Aufwandsentschädigung erhalten.

Langthaler: Die psychologische Betreuung ist außerdem bei Weitem nicht kindgerecht. Der Betreuungsschlüssel ist völlig unzureichend. Auch die Volksanwaltschaft kritisiert diese Zustände. Diesbezüglich gab es außerdem eine parlamentarische Anfrage, woraufhin sehr fragwürdige Auskünfte gegeben wurden. Wir wissen ja, wie viele Leute wo arbeiten, zum Beispiel eben in Traiskirchen. Und der angegebene Betreuungsschlüssel kann einfach nicht der Realität entsprechen (↓). Auf diesem schlechten Standard weiter zu agieren, ist nicht zu verantworten. Wir sind internationale Bestimmungen eingegangen, nämlich die Genfer Flüchtlingskonvention und die UN-Kinderrechtekonvention, und die müssen endlich zur Anwendung kommen.

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Eva Kern ist Geschäftsführerin des Don Bosco Flüchtlingswerks und seit neun Jahren selbst Patin einer damals minderjährigen Asylwerberin.

Herbert Langthaler ist Rassismus-Experte der asylkoordination österreich und Chefredakteur von "asyl aktuell", der hauseigenen Zeitschrift.

↓ Das Coverfoto stammt vom Wiener Fotografen Christopher Glanzl, vielen Dank dafür!

↓ Laut Asylstatistik im März 2015 des BMI wurden im Jahr 2015 bislang 874 Asylanträge von UMF gestellt, wovon 13 aufgrund der Altersfeststellung als volljährig eingestuft wurden: Klick auf "Asylwesen März 2015"

↓ Beantwortung des BMI vom 15. April 2015 zur parlamentarischen Anfrage "BMI-LR2220-III/9/a/2015"

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