Verlorene Jugend: Die "Generation UMF"

Du bist 16 Jahre alt, alleine geflüchtet und endlich angekommen. Doch nun bist du an einem Ort mit 1000 anderen Jugendlichen, verstehst die Sprache nicht, weißt nicht, was als nächstes geschieht. Zu Ungewissheit und räumlicher Enge gesellt sich Verzweiflung, geeignete Ansprechpersonen gibt’s nicht. Herzlich Willkommen: Du bist ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in Österreich.

Immer mehr Menschen suchen Schutz in der Europäischen Union, manchen von ihnen gelingt die Flucht vor Krieg, Folter, Hunger und Armut nach Österreich. Unter teils widrigsten Umständen gelangen sie in die beschauliche, reiche Alpenrepublik. Am schwersten haben es neben Frauen, Kinder und Jugendliche. In einer der prägendsten Phasen ihrer Entwicklung der elterlichen Obsorge entrissen, der gewohnten aber bedrohlichen Umgebung entflohen, benötigen sie unseren besonderen Schutz. Sie brauchen uns als Versorger*innen, als Gesprächspartner*innen, als Begleiter*innen – wir aber schauen mehrheitlich weg.

Kein Kind verlässt freiwillig seine Familie, Freunde und Heimat, kein Kind begibt sich freiwillig in die Unsicherheit und Qual der Flucht. Es gibt immer zwingende Gründe, meist sind sie so unvorstellbar, dass den Betroffenen jeglicher Ausdruck dafür fehlt. Die Hintergründe ihrer Flucht nicht zu verbalisieren, zeigt auch, dass sie die Erlebnisse verdrängen müssen, um überleben zu können. Ohne entsprechende kindgerechte Versorgung und psychologische Betreuung, manifestieren sich diese unverarbeiteten Schrecken mitunter zu lebenslänglichen emotionalen Belastungen. Vor dem Hintergrund einer verdrängten Vergangenheit, diesem fundamentalen Bruch in der Lebensgeschichte, braucht es zu einer gesunden Entwicklung viel Unterstützung.

Denken wir nur an unsere eigene Kindheit zurück, werden wir uns für einen Moment der Auswirkungen der für uns prägenden Erlebnisse gewahr: Haben diese nicht maßgeblichen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir die Welt sehen? Bestimmen diese nicht bedeutsam unser Werteempfinden, unsere Beziehungsfähigkeit, unser soziales Verhalten? Und stellen wir uns weiter vor: Was wäre aus uns geworden, wenn man uns mit 12, 14 oder 16 Jahren unserer Eltern, unseres Zuhauses, unserer Perspektiven beraubt hätte? Wenn wir all das hätten mitansehen müssen, was diese Kinder mitansehen mussten, die “das Glück” hatten in Österreich anzukommen. Aber ist es unter den gegebenen Rahmenbedingungen wirklich ein Glück?

Wir haben die Gelegenheit und die einzigartige Verantwortung uns diesen jungen Menschen zuzuwenden. Ihnen ihre Hoffnung wiederzugeben. Wir übernehmen diese Verantwortung jedoch nicht, wenn wir sie in Hallen ausharren lassen, sie mangelhaft versorgen und emotional vernachlässigen. Wenn wir ihnen dadurch das Gefühl geben, sie wären ein lästiges Übel, das wir auf Basis von Quoten zu bewältigen hätten. Weil wir müssen. Weil uns irgendwer dazu zwingt. Wir haben uns darauf geeinigt und dazu verpflichtet, in der UNO-Kinderrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention, Kindern jedweder Herkunft den gleichen Schutz und die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wie jedem österreichischen Kind.¹

Generation UMF

Im öffentlichen Diskurs hören wir von der „Generation Y“ und meinen damit junge, gut ausgebildete und also privilegierte Menschen, die nach Sinn in ihrem Leben und persönlicher Entfaltung im beruflichen Wirken streben.² Die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Leidenschaften, Neigungen und Stärken einfordern. Wir denken mittlerweile intensiv darüber nach, welche Auswirkungen diese neue Geisteshaltung, diese veränderten Ansprüche für unsere Wirtschaft haben könnten – welche Marktchancen sich daraus ergeben, welche Herausforderungen für das Pensionssystem damit verbunden sind, wie Demokratie neu organisiert werden muss.

Wir sprechen auch von der „Generation Praktikum“ und meinen damit oftmals ebendiese jungen Menschen, die nach einer gerechten Entlohnung streben aber von Prekarisierung betroffen sind.³ Die in Arbeitsverhältnissen verhaftet sind, die formal Ausbildungs-, de facto aber oftmals Ausbeutungsverhältnisse sind. Für sie kämpfen wir um eine würdige Bezahlung, um entsprechende sozialstrukturelle Absicherung, um Perspektiven am Arbeitsmarkt. Um in Einklang zu bringen, dass sie zuvorderst als Menschen und nicht als Funktionsträger*innen wahrgenommen werden müssen.

Doch wo verorten wir jene jungen Menschen in diesem Diskurs, die an der Schwelle zum juristischen Erwachsensein in unser Land flüchten und unseren Schutz suchen? Denen es nicht nur an menschenwürdiger Unterbringung sondern auch an Perspektiven in unserem Land fehlt? Die entweder keine, eine schlechte oder eine undokumentierte Ausbildung in ihrer Heimat genossen haben? Die weder über Geld noch über ein familiäres Sicherheitsnetz verfügen, weder unsere Sprache sprechen noch Zugang zu Technologie und sozialer Vernetzung haben, weil sie isoliert und ausgeblendet in sogenannten Auffanglagern ihr Dasein fristen?

Es wird Zeit ein Bekenntnis abzulegen. Es wird Zeit in Österreich die ungehinderte Aufnahme und unbeschränkte Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge außer Diskussion zu stellen. Sie nicht länger zum Gegenstand von Hetze werden zu lassen. Wir müssen Möglichkeiten erschaffen, um der Generation UMF eine Zukunft in unserer Mitte anbieten zu können. Wenn wir uns alle zugleich als Teil des Problems und als Teil der Lösung betrachten, erreichen wir eine neue Gestaltungkraft.

Eine historische Verantwortung

Wie wäre mit einem Gastfamilien-Projekt in Österreich? Viele hier Lebende haben den nötigen Platz, bestimmt auch den Wunsch und die Zeit, junge Flüchtlinge bei sich aufzunehmen – sie könnten durch professionelle Institutionen auf diesem Weg begleitet werden. Haben nicht auch wir bereits diese Offenheit durch andere Länder erfahren? Erwarten nicht auch wir Unterstützung in der Not?

Das österreichische Außenministerium berichtet: “In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden über 5.500 österreichische Kinder im Rahmen einer Aktion der Caritas in portugiesischen Familien untergebracht. Sie konnten so der Not und dem Elend ihrer vom Krieg zerstörten Heimat für einige Zeit entkommen (Anm. d. Red.: teils ein Leben lang!) und fanden liebevolle und fürsorgliche Aufnahme in ihren Gastfamilien. Für die ‘Caritas-Kinder’ war diese Erfahrung von Frieden und relativem Wohlstand prägend und erfüllt sie bis heute mit Dankbarkeit. Die herzlichen Kontakte zwischen den inzwischen gereiften ‘Caritas-Kindern’ und ihren portugiesischen Familien hielten sich über die Jahrzehnte und die Generationen und stellen ein starkes Band der Freundschaft zwischen Österreich und Portugal dar.” Ist Österreich tatsächlich nicht in der Lage 2015 zu schaffen, was Portugal bereits 1950 geschafft hat?

Wenn wir andere Nationen und Menschen aus anderen Orten der Welt, mit anderer Staatsangehörigkeit, Hautfarbe und anderen religiösen Ansichten, nicht länger als Fremdkörper wahrnehmen, sondern als Chance und Bereicherung, können wir nur gewinnen. Hingegen verlieren wir – als Land, als Gesellschaft und als Einzelne – bereits im Vorfeld, wenn wir weiterhin die Augen vor unabwendbaren gesellschaftlichen Realitäten verschließen und starrköpfig gegen alles kämpfen, das uns unbekannt erscheint. Es steckt ein unerschöpfliches Potenzial für ein zufriedeneres Zusammenleben im Gemeinsamen, dazu müssen wir nur unsere gegebene Verbundenheit anerkennen, um sie endlich zum Besten entfalten zu können.

von Sebastián Bohrn Mena und Elisa Ludwig

(¹) vgl. UN-Kinderrechtskonvention, Art. 22, Abs. 2

(²) vgl. Presse-Artikel zur “Generation Y”

(³) vgl. Homepage der Plattform Generation Praktikum

↓ Flüchtlingskinder in Köln, siehe Credit

Der Beitrag erschien zuerst auf "Políticas - Die linke Perspektive" unter www.politicas.at und www.facebook.com/politicasblog.

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