Der tragische Tod eines offenbar am Strand angespülten syrischen Kindes wurde zum Symbol des Flüchtlingsdramas. Was aber waren die Hintergründe, welche Erkenntnisse über den tatsächlichen Hergang und über die Herkunft des Kindes liegen inzwischen vor. Gibt es eventuell Diskrepanzen zwischen dem in der Öffentlichkeit hinterlassenen Eindruck und den tatsächlichen Ereignissen von damals?
Nilufer Demir - Reuters
Vielleicht ist es, mit ein wenig Abstand zu den mit starken Emotionen aufgeladenen Vorgängen des Jahres 2015, möglich, ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen. Tatsächlich hatte die Tragödie um den Tod des 3-Jährigen Aylan Kurdi nur indirekt mit den Flüchtlingsströmen aus Afrika zu tun. Der Vater von Aylan lebte seit Jahren sicher und unbehelligt in der Türkei, hatte dort einen Job, und konnte so nach und nach seine Familie aus Syrien in die sichere Türkei holen.
Die Familie Kurdi lebte seit mindestens einem Jahr in der Türkei, betrachtete diese aber von Anfang an nur als Zwischenstation für die geplante Auswanderung nach Kanada.
Als der Einwanderungsantrag nach Kanada abgelehnt wurde (weder dort noch in der Türkei wurden sie als Flüchtlinge anerkannt, und Kanada erlaubt keinen Zuzug in seine Sozialsysteme), führte das offenbar zu einer Kurzschlusshandlung. Alle weiteren Ereignisse beziehen sich ausschließlich auf die Darstellungen des überlebenden Vaters, die wiederum häufig der Logik entbehren.
Alle diese simplen Fakten kann man auch der Mehrzahl der Presseberichte entnehmen, zusammengefasst bei Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alan_Kurdi
Interessant ist in diesem Zusammenhang die politische Instrumentalisierung des toten Jungen, durch Politik und Medien.
Man kann an diesem Beispiel wunderbar studieren, wie Legendenbildung in einer politisierten, postfaktischen Medienwelt funktioniert. Es wird nicht gelogen, vielmehr arbeitet man mit selektiver Auswahl der Fakten - was nicht ins Konzept passt, wird halt weggelassen.
Noch entscheidender aber ist der Eindruck, den man mit der Überschrift und dem ersten Absatz erzielt. Da wird fabuliert und fantasiert, dass selbst die Gebrüder Grimm Komplexe kriegen würden. Der so vermittelte emotionale Ersteindruck lässt sich dann auch durch nachfolgende Fakten nicht mehr „verwirren“.
Und es funktioniert, zumal es im unreflektierten Einheitsbrei des modernen Mainstreamjournalismus keinerlei Widersprüche, keinerlei nennenswerte Abweichungen gibt, keinerlei Kultur des Hinterfragens und in Frage stellen.
Beginnen wir am Beispiel eines Stern-Artikels von 2015. Zitat:
„Dieses Foto tut unglaublich weh. Es bebildert auf tragische Weise das absolute Versagen der Politik. Wir ertrinken im Wohlstand. Syrische Kinder, auf der Flucht vor Krieg und Elend, ertrinken im Mittelmeer. Direkt vor Europas Küste. Dort, wo wir Sommerurlaub machen.“
Und jetzt mal der Reihe nach:
Das wichtigste zuerst: Aylan Kurdi ist NICHT bei der Flucht aus Syrien gestorben, sondern offenbar beim fahrlässig organisierten Versuch, illegal von der Türkei nach Europa einzureisen.
2. Wo hat die Politik versagt? Soll sie Flüchtlinge und Einwanderungswillige auf Antrag vor Ort abholen und einfliegen? Soll sie das Mittelmeer (wir sprechen von einem Meer!) lückenlos überwachen? Soll sie militärisch intervenieren, wenn Völker, Nationen oder Diktatoren irgendwo Kriege führen und Schlepper gewähren lassen? Welche Politik hat versagt? Die Willkommenspolitik, die Millionen Menschen aufs Mittelmeer lockte und damit oft größeren Gefahren aussetzte als die, denen man zu entkommen suchte?
3. Wir ertrinken in Wohlstand? Was für ein Tritt ins Gesicht jedes deutschen Mindestlöhners, jedes unfreiwillig Arbeitslosen, jedes den Fixkosten hinterherjagenden Familienvaters. Von den ins unermessliche strebenden europäischen Schulden ganz zu schweigen. Der im internationalen Vergleich bescheidene europäische Wohlstand basiert nicht zuletzt auf harter Arbeit und Bildungsbereitschaft seiner Bürger, er ist kein Geschenk des Himmels.
4. Dass Flüchtlinge, u. a. auch Kinder im Meer ertrinken, ist eine traurige, aber wie zuvor beschrieben, unvermeidliche, quasi statistische Tatsache. Auch im Straßenverkehr sterben jedes Jahr 1,25 Millionen Menschen. Das ist fast das Zehnfache der Menschen, die weltweit bei Kriegshandlungen oder Flucht sterben (175.000). Hat die internationale Politik beim Straßenverkehr versagt? Glauben einige Leute ernsthaft, dass man alle Risiken und Auseinandersetzungen auf diesem Planeten vermeiden könnte, zumal vom Westen aus?
Hier wird mit Überschrift und frei fabuliertem ersten Absatz Politik gemacht, während nachfolgende Fakten untergehen und der Tod des Kindes für die persönliche Meinungsmache missbraucht wird.
Kommen wir nun zu einem Artikel aus der FAZ. Zitat:
„Das Bild eines toten Jungen an einem türkischen Strand geht um die Welt. Mit seiner Familie wollte der drei Jahre alte Aylan dem Krieg in Syrien entkommen. Weil Kanada ihnen die Reise zu den Verwandten verweigerte, stiegen sie in ein Boot.“
Die gleiche Legendenbildung wie im Stern, nur diesmal ohne Politik-Schelte:
Die Familie war dem Krieg in Syrien bereits entkommen. Man lebte sicher in der Türkei. In Kanada ist aber natürlich der Lebenstandard deutlich höher als in der Türkei.
Dieser hohe kanadische Wohlstand beruht allerdings nicht zuletzt auch darauf, dass man sich seine Zuwanderer aussucht. Ein Zuzug in die Sozialsysteme, wie in Deutschland, ist dort nicht möglich. Kanada erkannte die Familie nicht als Flüchtlinge an, genauso wie schon die Türkei und z. B. auch die Schweiz. (Da es in Syrien viele sichere Zonen gibt, sieht man die Voraussetzungen für den Flüchtlingsstatus nicht erfüllt. Die deutsche Politik stellt da eine fast weltweite Ausnahme dar.)
Deshalb beschloss man offenbar, sein Glück in Europa zu versuchen, gewissermaßen die zweite Wahl, nach dem Motto legal, illegal, scheißegal. Eine Notwendigkeit, Schlepper anzuheuern, bestand für die Familie Kurdi, die seit langem legal und sicher in der Türkei lebte, aber eigentlich nicht. Man hätte selber ein Boot kaufen können, von dem Betrag, der angeblich den Schleppern (für ein abgetakeltes Schlauchboot ohne Schwimmwesten - über 2000 Euro pro Person, über 8000 Euro im Falle der Familie Kurdi) bezahlt wurde. Wie schon angedeutet, eine von vielen Merkwürdigkeiten in der nie verifizierten Darstellung des überlebenden Vaters.
Wäre von Anfang an objektiv und faktenbezogen über den Fall Aylan Kurdi berichtet worden,
hätte auch mitunter despektierlichen Spekulationen über zahlreiche Unstimmigkeiten dieses Falles vorgebeugt werden können. Dann hätte es vermutlich keine abträglichen Karikaturen von Charlie Hebdo gegeben, keine Spekulationen amerikanischer Enthüllungsjournalisten und auch keine Verunglimpfungen von Vater und Kind, wie sie offenbar bei Facebook vorkamen und zu Recht juristisch verfolgt wurden.
Es hätte aber eben auch keinen Märtyrer, keine Ikone der Flüchtlingskrise gegeben, denn das geben die wenigen verifizierbaren Fakten nicht her.
Dass die von amerikanischen Journalisten und Bloggern geäußerten Verdachtsmomente (die u. a. den Tod durch Ertrinken an sich in Frage stellten), in der Türkei nicht weiter verfolgt wurden - womöglich hätte das FBI mehr Licht in die Angelegenheit gebracht als türkische Behörden - muss man akzeptieren. Es gilt die Unschuldsvermutung und Behörden schaffen Fakten, auch dort, wo Sachverhalte unklar bleiben. Den türkischen Behörden zu Folge, war das Kind vermutlich (!) eines von vielen Unfall-Opfern eines gekenterten Schleuserschiffes.
Die Verdachtsmomente gegen den Vater des Kindes, selber einer der Schleuser zu sein und somit für das Unglück verantwortlich zu sein, waren, trotz diesbezüglicher Zeugenaussagen, aus türkischer Sicht für eine Anklage nicht hinreichend.
Auf den erschreckenden Zustand unserer postfaktischen Medienwelt werde ich noch in einem späteren Blogbeitrag zu sprechen kommen. Hier möchte ich nur noch etwas zum Thema Wohlstand („wir ertrinken im Wohlstand“) äußern:
Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf,
kaufkraftbereinigt, wird mit großem Abstand angeführt von Staaten wie Katar, Brunei, Arabische Emirate, Kuwait, Saudi-Arabien.
Es folgen westliche Staaten wie Deutschland, Schweden, Dänemark und Österreich, mit kaum mehr als halb so hohem BIP pro Kopf, bei gleichzeitig unermesslichen Staatsschulden. Die vorgenannten, "im Wohlstand ertrinkenden" islamischen Länder nehmen zwar - teilweise - Flüchtlinge auf, überlassen diese aber mehr oder weniger sich selbst. Es gibt wenig bis überhaupt keine Unterstützung, von Integration ganz zu schweigen.
Die nicht in relativem Wohlstand lebenden übrigen ca. 150 Länder werden wiederum nicht von Flüchtlingen aufgesucht bzw. nur als sicheres Durchgangsland betrachtet. Das sollte einem zu denken geben und als grundsätzliches Problem der derzeitigen Flüchtlingspolitik gesehen werden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf