Die Schafe, die sich bereitwillig zur Schlachtbank führen lassen, und dabei auch die klügeren und misstrauischen vor sich hertreiben, sind ein internationales Phänomen. Das zeigt die hier präsentierte Parabel von Polél Wade, einer schwarzen Bloggerin, die sie auf Französisch veröffentlichte, ebenso wie die bereits von ihr verwendete Karikatur des Türken Aşkın Ayrancıoğlu, der damit die türkische Presse kritisierte. Beides zigtausendfach im Netz geteilt.

(c) Aşkın Ayrancıoğlu

Der Wolf und die Schafe

Es war einmal ein Wolf, der in einer Gegend mit einer großen Schafherde lebte.

Jeden Tag riss er ein Schaf. Die Schafe wurden unruhig. Manche flohen in den Wald, andere kämpften verzweifelt um ihr Leben. Ihre Schreie versetzten die Herde in Angst.

Doch der Wolf wusste, wie er die Schafe beruhigen konnte. Er sprach mit jedem einzeln und sagte:

„Hab keine Angst. Ich töte und fresse nur die dummen Schafe – aber du bist doch klug, mein Freund.“

Nach diesen Worten grasten die Schafe weiter, als wäre nichts geschehen. Als der Wolf erneut zuschlug, dachten sich die anderen:

„Nun ja, wieder ein dummes Schaf weniger. Ich bin schlau, also habe ich nichts zu befürchten.“

Und so blieb die Herde ruhig und zufrieden.

Der Wolf ging zu ihnen und sagte:

„Seht ihr? Wir haben oft über dumme Schafe gesprochen – und glaubt mir, sie waren es wirklich.“

Die Schafe hinterfragten nichts. Der Wolf hatte ihr Vertrauen gewonnen, ihr Selbstbewusstsein gestärkt und ihre Angst genommen. Sie fraßen weiter, sorglos und ahnungslos – und wurden dabei nur noch schmackhafter.

Doch das Erstaunlichste war: Einige Schafe begannen, dem Wolf zu helfen.

Jene, die Zweifel äußerten oder sich Sorgen machten, wurden von den anderen verspottet und als „Querulant“ beschimpft. Und wenn ein besonders kluges Schaf begann, die Wahrheit zu ahnen, liefen seine „besten Freunde“ zum Wolf und erzählten ihm davon.

Und am nächsten Tag war auch dieses Schaf verschwunden!

Polél Wade

Schlusswort:

Bemerkenswert ist die Strategie der Solidarisierung der Schlächter mit den Opfern. Die Mitläufer werden als die Klügeren und „Anständigeren“ gelobt, und beginnen schließlich, sich selbst zu loben und feiern, als „Besserschafe“. Und die schwarzen Schafe werden ausgegrenzt, gedisst und denunziert. Sie sind ungebildet, dumm und schlecht.

Und genau so funktioniert auch die Psychologie der Massen bei den Menschen, egal ob nun die aufrechten Teutschen bei den Nazis, oder die Klassenkämpfer und Helden der Arbeit im Sozialismus, oder die sich gebildet wähnenden selbsternannt „Erwachten“ im Zeitgeist, es sind alles nur Varianten des gleichen Phänomens: Der rassistischen Selbsterhöhung als unbewusstes Opfer des „teile und herrsche“-Prinzips, des Unterwerfens durch Schmeicheln.

Gefährlich ist nicht der, der beißt, sondern der, der schmeichelt.

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