In der Staatsbürgerschaftsfrage wird sich zeigen, was diese seit Jahrzehnten in Österreich gängige Politparole wert ist
. Die unlängst an der "Unrechtsgrenze" zwischen Österreich und Italien abgehaltene Brenner-Kundgebung, die das seit bald hundert Jahren unerfüllt gebliebene Selbstbestimmungsverlangen der Tiroler aus Aktualitätsbezug mit der Unterstützung des Unabhängigkeits- und Eigenstaatlichkeitsbegehrs der Katalanen verband, stand just im Zeichen der seit einigen Jahren von Südtirolern geforderten und bislang mit allerlei Ausflüchten vom offiziellen Wien abgelehnten Forderung nach Erteilung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
Der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Werner Neubauer, Südtirol-Sprecher seiner Partei, ergriff dort das Wort, unterstrich "die große Bedeutung der doppelten Staatsbürgerschaft für die Südtiroler" und nannte die wünschenswerte Erteilung einen "volkstumspolitischen Meilenstein in der Geschichte des Landes".
Neubauer ist nicht der einzige Freiheitliche, der in dieser Angelegenheit das Wort führt(e). Auch andere volkstumspolitisch engagierte Mandatsträger setz(t)en sich vehement dafür ein. Da die FPÖ als einzige Partei diesen Wunsch, seit er von Südtiroler Seite aufkam, konsequent unterstützte, richten sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP die Augen derer, die ihn hegen, naturgemäß umso mehr darauf, als tatsächlich erstmals die Chance zum Greifen nahe zu sein scheint. Sofern sie nicht anderen, für die jeweils klientelistisch interessegeleiteten Verhandlungspartner "wichtigeren" Sachthemen, über die Volkspartei und Freiheitliche nach Übereinkünften suchen, sozusagen "zum Opfer fallen".
Alle bisherigen Anläufe vereitelt
Ruft man sich ins Gedächtnis, was sich in der Doppelstaatsbürgerschaftsfrage ereignete, seit sie gestellt worden ist, und wer sich im politischen Geviert Bozen – Innsbruck – Wien – Rom seitdem wie verhielt, so ist ob der "Durchschlagskraft" Neubauers und seiner Mitstreiter eine Portion Skepsis hinsichtlich deren Erfolgsaussicht angebracht. Denn die ÖVP, mit der die FPÖ die Doppelstaatsbürgerschaftsfrage im Rahmen des Verhandlungskomplexes "Staat und Gesellschaft" – mit den (Untergruppen-)Materien Medien, Justiz, Sport, Kunst und Kultur, Verwaltungsreform und Verfassung, Europa- und Außenpolitik, Integration – erörtert, hat zumindest bisher auf maßgebliche Weise alle (seit 2009 stattgehabten) Anläufe vereitelt. Dem schloss sich die seit 1945 zwischen Brenner und Salurner Klause Regierungsverantwortung tragende Südtiroler Volkspartei (SVP) – namentlich unter ihrer jetzigen, eher italo- denn austrophilen Führung – an.
Die Initiatoren
Dabei waren es der vormalige SVP-Obmann Siegfried Brugger, ehedem Abgeordneter in der römischen Kammer, sowie sein Parteifreund und Abgeordnetenkollege Karl Zeller – beide Juristen und Anwälte –, die im Dezember 2009 im Einklang mit den im Landhaus/Landtag zu Bozen vertretenen deutschtiroler Oppositionsparteien sowie den Österreich-patriotischen Kräften (namentlich Schützenbund und Heimatbund) den Wunsch in die Öffentlichkeit trugen und in Wien deponierten.
Begründung: Juristisch sei dies über eine Ausnahmeregelung im österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht ohne weiteres möglich; und auch Italien ermögliche ethnischen Italienern überall auf der Welt die Doppelstaatsbürgerschaft, ja behalte diesen "Auslandsitalienern" in Kammer und Senat sogar 18 Sitze vor. Das 2006 im Blick auf die ethnischen Italiener in Istrien, Fiume und Dalmatien noch einmal novellierte italienische Staatsbürgerschaftsgesetz von 1992 erlaube italienischen Staatsbürgern ausdrücklich den Erwerb einer zweiten Staatsbürgerschaft, ohne dass sie die italienische abgeben müssten – was folgerichtigerweise auch für die Südtiroler gelte.
Umfaller
Aus berufenem Munde war zu erfahren, dass Brugger vom ÖVP-Granden und gebürtigen Südtiroler Andreas Khol, mit dem er seinerzeit die Angelegenheit besprach, zunächst "in geradezu euphorischer Weise" Zustimmung sowie dessen Unterstützungszusage erhielt. Doch wenige Tage später hatte sich Khol dem Vernehmen nach vom "unbedingten Befürworter" zum Gegner verwandelt, wie aus seiner in der Südtiroler Tageszeitung "Dolomiten" am 16. Jänner 2010 publizierten Stellungnahme hervorging: Eine Doppelstaatsbürgerschaft würde Italien provozieren, dem Pariser Abkommen von 1946 zuwiderlaufen und sich nachgerade als "gefährlich" erweisen.
Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter hatte schon zu Weihnachten 2009 den "Dolomiten" gegenüber das Südtiroler Verlangen, welches selbstredend auch sein Bozner Pendant Luis Durnwalder damals unterstützte, als "Vorwand für eine neuerliche Diskussion um die Verschiebung der Staatsgrenzen" qualifiziert und hinzugefügt, derlei zeuge "von Verantwortungslosigkeit und mangelndem Geschichtsbewusstsein."
Nicht zuletzt brachte der damalige ÖVP-Bundesparteiobmann und Außenminister Michael Spindelegger seine Haltung zum Ausdruck. Besagter FPÖ-Nationalratsabgeordneter Neubauer gab den Inhalt eines Gespräches mit ihm über die Staatsbürgerschaftsfrage wie folgt wieder: "Spindelegger erklärte mir unverblümt, dass es für ihn nicht infrage komme, Italien zu verärgern (…) und er nicht im Entferntesten daran denke, diesem Wunsch der Südtiroler zu entsprechen." Und in einem am 12. Februar 2010 erschienenen "Dolomiten"-Interview befand Spindelegger, man dürfe "keine falschen Hoffnungen wecken"; von einer Unterschriftenaktion für die doppelte Staatsbürgerschaft, wie sie eine überparteiliche Initiative unter Führung der im Bozner Landhaus/Landtag vertretenen Partei "Süd-Tiroler Freiheit" (STF) organisierte, riet er ab, weil diese eher "zu Irritationen führen" könne.
"Keine verfassungsrechtlichen Bedenken"
Bald darauf übergaben die Südtiroler Landtagsabgeordneten Eva Klotz und Sven Knoll (beide STF) im Nationalrat zu Wien 22.500 Unterstützungsunterschriften an die Abgeordneten Neubauer (FPÖ), Herrmann Gahr (ÖVP), Gerhard Huber (BZÖ) und Alexander van der Bellen (Grüne). Die Unterschriften waren trotz politischer wie medialer Kontrapunktion zusammengekommen; sie stellten daher keine vernachlässigbare Größe dar. Dies umso mehr, als das Bundeskanzleramt die Initiatoren der Unterschriftensammlung mit Schreiben vom 28. April 2011 wissen ließ, dass gegen eine Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler "keine allgemein verfassungsrechtlichen Bedenken" bestünden.
Ende Mai 2011 stellte der Innsbrucker Verfassungsrechtler Walter Obwexer ein fundiertes Gutachten zum Thema vor, das zu erstellen ihn just die SVP beauftragt hatte. Obwexer kam darin zu dem Schluss, dass "der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft durch Südtiroler grundsätzlich möglich" sei. Und wider alle Unkenrufe von Vorsichtlern und Rücksichtlern vornehmlich aus der ÖVP stellte er fest, dass dies auf relativ einfache Weise realisierbar sei: Weder völkerrechtlich, noch auf EU-Ebene gebe es rechtliche Hindernisse.
Enttäuschende Entscheidung
Schließlich sprach sich der Südtiroler Landtag am 9. März 2012 mit großer Mehrheit für die Doppelstaatsbürgerschaft aus. Als Verfassungs- und Völkerrechtsexperten sodann in einer Anhörung vor dem Südtirol-Unterausschuss (des Außenpolitischen Ausschusses) des Nationalrats übereinstimmend dargelegt hatten, dass der Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler rechtlich keine Hürden entgegenstünden, stellte Karl Zeller, der einst zusammen mit SVP-Obmann Brugger den Vorstoß unternommen hatte, zurecht fest: "Jetzt ist es nur mehr eine politische Entscheidung, ob den Südtirolern der Doppelpass ermöglicht wird oder nicht".
Die Entscheidung ließ nicht allzulange auf sich warten und enttäuschte alle, die sich in der Causa engagiert hatten. Am 5. Juli 2013 legte nämlich der von Außenminister Spindelegger vorgelegte "Bericht an den Nationalrat" in aller Deutlichkeit offen, dass die österreichische Bundesregierung eine Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler nicht wünsche. Entgegen den aus dem Südtirol-Unterausschuss bekannten Einlassungen der Rechtsexperten hieß es darin: "Die Einführung eines vereinfachten Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft für SüdtirolerInnen" sei mit "völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Hürden verbunden".
Woraufhin die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP im Verein mit den Grünen den FPÖ-Antrag abschmetterten, den Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft einfachgesetzlich mittels geringfügiger Korrektur – nämlich Einfügens eines einzigen Absatzes – des geltenden Staatsbürgerschaftsgesetz zu ermöglichen. Zutreffenderweise ließ FPÖ-Südtirolsprecher Neubauer dazu verlauten: "Die Bundesregierung hat sich damit gemeinsam mit den Grünen geweigert, unseren Landsleuten südlich des Brenners diesen Herzenswunsch zu erfüllen."
„Wende“ vom Rückzug?
Auch der neuerliche Anlauf der FPÖ im Nationalrat zwei Jahre später endete wie der erste: SPÖ, ÖVP und Grüne lehnten wiederum ab. Mittlerweile rückte auch die unter neuer Führung stehende SVP von der ursprünglichen Zielsetzung ab. Als wenig verwunderlich erscheint dabei der juvenile politische Gleichklang zwischen dem (mittlerweile zum neuen ÖVP-Bundesobmann avancierten) Außenminister Sebastian Kurz und dem mit ihm befreundeten Südtiroler Politjungstar Philipp Achammer, seinem Pendant von der "Schwesterpartei" SVP. Der das Trio komplettierende Arno Kompatscher hatte vor der Landtagswahl 2013, zu der er als Kandidat für die Nachfolge des scheidenden Landeshauptmanns Durnwalders antrat, in einem gemeinsamen Auftritt mit dem ÖVP-Südtirolsprecher Gahr das Abrücken der SVP vom Staatsbürgerschaftsverlangen mit der Formulierung verbrämt, er nehme "wenig Begeisterung in der Südtiroler Bevölkerung für den Doppelpass" wahr und "zur Kenntnis, dass auch in Österreich die Voraussetzungen dafür politisch nicht gegeben" seien.
Diese ÖVP-SVP-Positionierung scheint, wenn nicht alles täuscht, nunmehr ins Wanken zu geraten. Seit sich im Südtiroler Landtag 19 von 35 Abgeordneten – darunter auch sieben von der SVP – in einem Brief an Wiener Koalitionsverhandler Kurz und Strache wandten und sie ersuchten, die österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler in ihr Regierungsprogramm für die nächste Legislaturperiode aufzunehmen, befürworten plötzlich vorherige Skeptiker aus ÖVP und SVP dieses Ziel. So hat der Tiroler Landeshauptmann Platter unumwunden bekundet, Tirol und er persönlich unterstützten derlei Vorhaben. Sein Vorvorgänger Wendelin Weingartner war eh und je dafür zu haben gewesen. Und auch vom Südtiroler Landeshauptmann Kompatscher sind mittlerweile verständnisvoll-zustimmende Töne zu hören. Jetzt wird es maßgeblich an Kurz und seinem Südtiroler SVP-Pendant Achammer liegen, womöglich doch noch auf den Zug aufzuspringen.
Entkräftete Vorbehalte
Seit 2010 hat die österreichische Regierung Südtiroler Doppelstaatsbürgerschaftswünschen stets mit der Begründung, es sei zuvor eine "intensive juristische Prüfung" notwendig, nicht entsprochen. Dabei sind die Rechtsfragen längst fundiert beantwortet: Weder müsste die österreichische Verfassung geändert werden, noch müsste Wien völkerrechtliche Verträge kündigen; stattdessen würde eine einfache Änderung des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes ausreichen.
Überdies erlaubt das "Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit" vom 6. 11.1997 nicht nur die Doppel-, sondern sogar die Mehrstaatsbürgerschaft. Gründe, die als entgegenstehend angeführt werden – beispielsweise, dass Doppelstaatsbürgerschaft Auswirkungen auf Steuern und Pensionen/Renten hätte oder sich die Wehrdienst-Frage stelle – sind nicht stichhaltig: Steuern sind unabhängig davon zu entrichten, Pensionen unabhängig davon auszuzahlen und Militär- oder Ersatzdienst dort abzuleisten wo die steuerpflichtige respektive pensions- bzw. rentenberechtigte respektive wehrdienstpflichtige Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt (= Wohnsitz) hat.
Entgegen anderslautenden Begründungen wären Südtiroler Doppelstaatsbürger gegenüber Südtirolern mit Einfachstaatsbürgerschaft keinesfalls bessergestellt; denn Rechte und Pflichten, welche aufgrund der italienischen Rechtsordnung sowie der in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol geltenden Autonomiebestimmungen gelten, sind ja nicht davon abhängig, ob jemand (auch) die österreichische Staatsbürgerschaft innehat.
Interessen und …
In politischen Sonntagsreden heißt es meist, Südtirol sei eine "österreichische Herzensangelegenheit". Die Doppelstaatsbürgerschaft ist der Wunsch vieler Südtiroler deutscher und/oder ladinischer (ja vielleicht sogar einiger italienischer) Zunge, aber vaterländisch-österreichischer Gesinnung. Dennoch wurde nämlichem Wunsch in Wien nicht entsprochen.
Die bisherigen Regierungen und die sie tragenden Parteien SPÖ und ÖVP hatten sich (nicht allein) in der Doppelstaatsbürgerschaftsfrage eher als Zauderer erwiesen. Man wird auch kaum fehlgehen, den beiden Parteien (ebenso wie der SVP in Bozen) zu unterstellen, das Verhältnis zu Rom gegenüber der aus dem jahrzehntelangen Südtirol-Konflikt erwachsenen Schutz(macht)pflicht für die Tiroler unterm Brenner bislang als vor-, wenn nicht erstrangig erachtet zu haben. Doch die Fortsetzung eines solchen Verhaltens, was im Verein mit der FPÖ ohnedies kaum möglich wäre, untergrübe Identität und Österreich-Orientierung der Südtiroler. Sie würde dem von Italien seit der Annexion im November 1918 verfolgten Plan in die Hände spielen, die Südtiroler – trotz vielgepriesener (aber immer wieder von römischer Aushöhlung geschwächter) Autonomie – zu entnationalisieren, zu assimilieren und damit die seit dem Mussolini- Faschismus erstrebte "ewige Italianità" des seit 1.200 Jahren dem deutsch-österreichischen Kulturraum zugehörigen Landstrichs zu erlangen.
… Glaubwürdigkeit
Die grundsätzliche Frage, welche Interessen für Wien wichtiger sind, die der Südtiroler oder jene der römischen Politik, stellt sich daher nunmehr der künftigen österreichischen Bundesregierung. Beantworten müssen sie die beiden Koalitionspartner.
"Sollte die Freiheitliche Partei in Koalitionsverhandlungen kommen, dann wird in einer Regierungsvereinbarung die doppelte Staatsbürgerschaft drinnen sein müssen. Ansonsten wird es zu keiner Regierungsbeteiligung kommen!" Es sind starke Worte, die der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Werner Neubauer, seines Zeichens Südtirol-Sprecher, auf der eingangs erwähnten, von patriotischen Kräften aus allen Teilen Tirols an der "Unrechtsgrenze" abgehaltenen Brenner-Kundgebung von sich gegeben hat. Es sind Worte von einer so verbindlichen Konditionalität, dass es einem enormen Gesichtsverlust für seine Gesinnungsgemeinschaft gleichkäme, blieben sie folgenlos. Eine derartige Conditio sine qua non nicht einzulösen, würde ein nicht zu unterschätzendes Glaubwürdigkeitsproblem bereiten.