Unter dem Schatten der Oskarverleihungen sorgt derzeit auch Angela Merkels gestriger Auftritt bei Anne Will für Gesprächsstoff. Ich habe ihn bewusst nicht angesehen, mir reicht die Nachlese (am Rande bemerkt: Allgemein sind TV-Auftritte von Politikern nicht so meins. Zu groß das Gefühl der Ohnmacht, wenn man Politikern hinter dem Fernseher regelrecht ausgeliefert ist. Keine Möglichkeit hat, Fragen zu stellen oder Einwände anzubringen).
Angela Merkel spaltet wie in den letzten Jahrzehnten kaum eine andere politische Figur vor ihr (spontan fiele mir jetzt Margaret Thatcher ein). Was nicht nur an der Person, sondern auch an den großen Fragen unserer Zeit liegt – erst das Schicksal des EURO beziehungsweise der Eurozone, das immer noch alles andere als geklärt ist und jetzt die Flüchtlingskrise, die sich zu einer fundamentalen Bedrohung für ganz Europa auswächst.
Die "europäische Lösung"
Angela Merkel betonte einmal mehr, eine europäische Lösung zu wollen. Ungeachtet des ihr entgegenwehenden Winds, der mittlerweile schon zu einem Orkan ausgeartet ist. Ungeachtet der zunehmenden außenpolitischen Isolation und der Abhängigkeit von der Türkei, mit der nächste Woche erneut Verhandlungen geführt werden sollen. Eine im Hinblick auf die Meldungen von Erdogans Gesprächsstil (angeblich soll er damit gedroht haben, die Tore nach Griechenland und zu Bulgarien zu öffnen und die Flüchtlinge in Busse zu setzen) und seiner allgemeinen Regierungsführung höchst fragwürdige Strategie.
Außerdem betonte Angela Merkel, keinen Plan B zu haben. Was angesichts des Misserfolgs von Plan A dann doch Sorgenfalten hervorruft. Dennoch betonte sie, dass es nichts gebe, was eine Kursänderung ihrerseits hervorrufen könne.
Manche loben die deutsche Kanzlerin für ihre Konsequenz. Sie beweise derzeit als eine von wenigen Weitblick und Humanität, ohne sich dabei von Umfragewerten oder Populisten im In- und Ausland beirren zu lassen. Das kann man alles seinerseits hinterfragen, die verschiedensten Theorien zu ihrer Haltung sind im Umlauf. Manche sprechen davon, dass sie um jeden Preis das nach dem Griechenlandfiasko mehr als angeknackste Image Deutschlands rehabilitieren wolle. Wieder andere davon, dass sie in einer Parallelwelt lebe, in der die Ängste und Nöte der unteren sozialen Schichten keine Rolle spielen, ja nicht einmal bekannt sind. Manche betonen gar, dass sie eben nicht langfristig denke, sondern sich selbst um jeden Preis ein politisches Denkmal setzen wolle (zumal sie ja keine eigenen Kinder hat).
"Sunk costs"?
Vielleicht ist der Grund für ihr Festhalten am eingeschlagenen Kurs auch wesentlich banaler und kommt gänzlich ohne ad hominem-, also unmittelbar gegen ihre Person gerichtete Argumente aus. Vielleicht unterliegt sie auch einfach nur einem psychologischen Fehlschluss, den man als sunk costs-fallacy bezeichnet. Man findet ihn in populärwissenschaftlichen Büchern von Vertretern der sogenannten Behavioral Economics. Diese hinterfragen das in den Wirtschaftswissenschaften immer noch weit verbreitete Bild vom rational handelnden (Wirtschafts-)Akteur – dem homo oeconomicus. Schließlich handeln Menschen oft genug höchst irrational. Zum Beispiel dann, wenn sie zur Erreichung eines Ziels bereits viel eingesetzt und verloren haben und diese Verluste um jeden Preis wieder hereinholen möchten. Obwohl die bereits erlittenen Verluste rein rational betrachtet keine Auswirkungen auf spätere Entscheidungen haben sollten, wobei die gemachten Erfahrungen eigentlich eines Besseren belehren sollten.
Man kann dieses Verhalten in Casinos ebenso gut beobachten. Oder bei Geschäftsmännern und -frauen, die ihre ach so tolle Business-Idee einfach nicht aufgeben wollen. Oder eben mitunter bei Angela Merkel, die sich in der europäischen Flüchtlingsfrage einfach nicht von ihrem Weg abbringen lassen möchte – zumal sie erst im Dezember betonte, wie viel man bereits geschafft habe.
Manchmal ist Beharrlichkeit wichtig. Manche Businessideen gehen, wenn auch verspätet, am Ende dann doch auf. Dann lobt man den unermüdlichen Einsatz für eine Idee, an die man geglaubt hat, als alle anderen sie totgesagt haben.
Aus Fehlern lernen
Oft genug scheitert man jedoch. Dann ist der Schuldenberg höher als notwendig, oft werden gesamte Familien mit hineingezogen und vieles hätte sich vermeiden lassen, wenn man früher zur Vernunft gekommen wäre. Also sich damit abgefunden hätte, dass sie bereits erlittenen Verluste nicht mehr rückgängig gemacht werden können, erst Recht nicht mit einer Idee, die eigentlich als gescheitert zu betrachten ist.
Ob man Angela Merkels Plan als gescheitert betrachtet, liegt freilich im Auge des Betrachters. Ein abschließendes Urteil will ich mir nicht erlauben. Vielleicht ist Europa nicht so weit. Vielleicht triumphiert Realpolitik einmal mehr über Ideale. Vielleicht war die Sache gut gemeint, nur eben im Endeffekt doch zu planlos.
Unabhängig davon sollten rational betrachtet gerade in derart heiklen Bereichen bereits getätigte Aufwendungen und Verluste bei der Entscheidungsfindung keine beziehungsweise allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Eigentlich. Umso mehr, als – ob wir wollen oder nicht (und hier liegt die Unterscheidung zum gescheiterten Unternehmer) – die Entscheidungen der Regierung Merkel Auswirkungen auf ganz Europa und damit auf jeden einzelnen von uns haben.