Die Flüchtlingskrise hat eine neue Wertedebatte ausgelöst. Ein wenig fühlt man sich zurückversetzt. Schon um die Jahrtausendwende wurde von Bassam Tibi – um den es mittlerweile sehr still geworden ist – in Deutschland die Diskussion rund um die „Leitkultur“ angestoßen. Er identifizierte damals Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und die Rolle der Zivilgesellschaft als ihre Hauptmerkmale. Jetzt werden auch über das ASM Wertekurse abgehalten, mit einem Fokus auf Gleichberechtigung und Religionsfreiheit.

Was sind "unsere" Werte?

Damals wie heute herrschte Verwirrung um den genauen Inhalt dieser Säulen des europäischen Wertekanons. Was nun einmal in der Natur derart normativ aufgeladener Konzepte liegt. Was genau sind „unsere“, „europäische“, „österreichische“ oder „deutsche“ Werte im Detail?

Man denke nur an jenen der Demokratie. Auf das Simpelste heruntergebrochen bedeutet sie, dass „das Recht vom Volk ausgeht“, wie es in der Bundesverfassung geschrieben steht. Nur: Was heißt das? Starke Einbindung des Volks durch direktdemokratische Mittel wie in der Schweiz? Oder eher das Modell repräsentativer Demokratie? Wie verträgt sich dieses mit dem Grundsatz des freien Mandats und seinem realpolitischen Widersacher namens Klubzwang? Inwiefern repräsentiert der Nationalrat das Volk beziehungsweise was oder wer ist „das Volk“ eigentlich?

Gleiches gilt für alle anderen Grundbestandteile des Wertekanons. Sie erscheinen am ersten Blick klar und nur die wenigsten würden widersprechen. Verpackung und tatsächlicher Inhalt gehen jedoch vielfach meilenweit auseinander. Weswegen die Menschen aneinander vorbeireden und ganz Unterschiedliches meinen, obwohl sie dieselben Begriffe verwenden.

Werden Werte auch gelebt?

Damit geht auch das zweite Problem im Zusammenhang mit den Werten einher. Werden sie auch tatsächlich gelebt oder sind sie vielmehr ein argumentatives Feigenblatt, mit dem sich so mancher Politiker gerne in Interviews schmückt? Je mehr das Pendel in letztere Richtung ausschlägt, desto geringer die Chancen, dass Integration gelingen kann. Wenn eine Gesellschaft beziehungsweise ihre maßgeblichen Proponenten – von „opinion leaders“ über Politiker bis hin zum „kleinen Mann“ beziehungsweise der „kleinen Frau“ – selbst nicht so wirklich an ihre eigenen Werte glaubt und vehement für deren Aufrechterhaltung eintritt, wieso sollten es dann andere tun? Wenn man zu stark relativiert, bleibt am Ende nicht viel übrig.

Schon in Goethes Faust I können wir den berühmten Vers von der Freiheit letzten Schluss lesen: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß.“ – das gilt für die sogenannten europäischen Werte im Allgemeinen. Dazu muss man allerdings wie gesagt erstens wissen, wie diese denn genau aussehen.

Vielleicht hilft es, sich zuerst zu fragen, wie diese eben nicht aussehen. Auf Dinge, Geisteshaltungen und Verhaltensweisen, die man auf keinen Fall gutheißt. Einen Minimalkonsens benennen, zumindest für den Anfang. Vielleicht haben wir einen solchen sogar bereits und wissen es nur nicht. Dann gilt es, danach zu leben und dafür einzutreten.

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