Außenminister Sebastian Kurz hat der NZZ ein kontroverses Interview gegeben. Insbesondere seine Aussagen zur Vorbildwirkung Australiens stoßen vielen sauer auf. Das Moral Hazard-Problem schlägt auf dem Mittelmeer voll durch.
Der Begriff des moral hazard stammt ursprünglich aus dem Versicherungswesen. Hier hatte sich gezeigt, dass Versicherte aufgrund der Erwartung, im Ernstfall ohnehin entschädigt zu werden, ein geringeres Maß an Vorsicht und Sorgfalt walten lassen.
In Sachen Flüchtlingen (und darauf bezieht sich Außenminister Kurz) besagt die These vom moral hazard, dass durch groß angelegte Rettungsaktionen das Eingehen von Risiko aktiv gefördert wird. Schließlich hofft beziehungsweise vertraut man darauf, von europäischen Schiffen quasi "abgeholt" und nach Europa gebracht zu werden. Weil das gefühlte Risiko geringer ausfällt, machen sich also noch mehr (eben auch die weniger risikofreudigen) Menschen auf den Weg. Die EU trägt insofern doppelt Mitschuld, wenn ein Boot untergeht: Einerseits, weil die Rettungsmission versagt hat; andererseits, weil sich mehr Menschen auf die gefährliche Überfahrt begeben.
Australien hat auf dieses Dilemma reagiert, indem es Bootsflüchtlinge nicht auf das eigene Staatsgebiet lässt: Sie werden vielmehr abgefangen und direkt nach Indonesien zurückgebracht oder mit funktionstüchtigen Booten zurückgelassen. Wenn ein Boot es in australische Gewässer schafft, findet das Asylverfahren nicht in Australien, sondern auf umliegenden Inseln (dem Inselstaat Nauru und Manus, die zu Papua-Neuginea gehört) statt. Selbst wenn die Flüchtlingseigenschaft bestätigt wurde, folgt daraus kein Recht, sich in Australien anzusiedeln, vielmehr werden sie in Nauru oder Papua-Neuguinea angesiedelt.
Die australische Regierung begründet diese Vorgehensweise neben dem moral hazard Problem mit dem allgemeinen Schutz beziehungsweise der Kontrolle über die eigenen Grenzen und der Bekämpfung der Schlepperei. Die Maßnahmen haben ihren Zweck, die Anzahl der Boote zu reduzieren, jedenfalls in der Tat erfüllt. Auch scheint die Bevölkerung sie zu befürworten, ein baldiges Ende ist insofern nicht in Sicht.
Was allerdings nichts daran ändert, dass das Modell Australien höchst umstritten und von zahlreichen Menschenrechtlern heftig kritisiert wird. Allen voran aufgrund der Bedingungen in den Lagern, aber auch aufgrund der weitgehenden Abschottung Australiens. Das Anhaltezentrum auf Manus wurde außerdem vor Kurzem vom Höchstgericht von Papua-Neuguinea als verfassungswidrig eingestuft, weil es das Freiheitsrecht der Betroffenen verletze.
Dass Sebastian Kurz derart drastische Schritte ins Spiel bringt, zeugt einmal mehr davon, wie weit die Flüchtlingskrise bereits gediehen ist. Vor allem mangelt es an längerfristigen Konzepten, die Politik steckt über weite Strecken in Momentaufnahmen fest. Jetzt wird immer öfter ein nachhaltiges Vorgehen gefordert. Drosselung der Asylwerberzahlen und verstärkte Hilfe vor Ort, die ökonomisch günstiger ist, womit letzten Endes mehr Menschen geholfen würde als wenn man das Geld in die Aufnahme und Integration der Neuankömmlinge investiert. Wie die wohlklingende Losung von der Bekämpfung der Fluchtursachen wirklich funktionieren soll, bleibt freilich offen.
Ich wage zu behaupten, dass die Aussagen von Sebastian Kurz beim Wahlvolk auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Wie sein neuer Gegenspieler Christian Kern versteht er sich in politischer Rhetorik, der offenen Artikulation dessen, was viele politisch Interessierte sich schon lange denken. Mit anderen Worten das Erkennen des Zeitpunkts, ab dem lange bestehende Forderungen und Ansichten mehrheits- und konsensfähig sind. Ob seine Vorschläge umgesetzt werden (das Mittelmeer fällt schließlich nicht in die nationalstaatlich-österreichische Zuständigkeit) und wann, steht freilich auf einem anderen Blatt.